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Theologisches Seminar | Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät

Das Wort Gottes hat eine sehr irdische Geschichte

Buchrezension in der NZZ von Konrad Schmids und Ernst Schröters Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften.

Das Wort Gottes hat eine sehr irdische Geschichte
Von den heiligen Schriften im alten Israel bis zum Neuen Testament führt ein langer Weg. Wie die Bibel entstand, ist eine verworrene Angelegenheit

von Helmut Zander

Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen. Im Gegenteil, sie hat – was bei Fundamentalisten die Nerven blank liegen lässt – eine ganz menschliche Geschichte. Diese haben Konrad Schmid und Jens Schröter,protestantische Professoren für die Geschichte biblischer Literatur, rekonstruiert. Wir erfahren, was es bedeutete, den Schritt von einer mündlichen zu einer Schrifttradition zu gehen,eine Entwicklung, die sich im vorexilischen Israel und Juda seit etwa dem 9. vorchristlichen Jahrhundert vollzog.

Ausserdem klären uns die beiden Autoren über die formative Phase intellektueller Literaturproduktion während und nach dem babylonischen Exil auf, also zwischen dem 6. und 4. Jahrhundert v. Chr. Dies ist das vielleicht faszinierendste Kapitel des Buches, weil es die Idee eines punktgenauen «Ursprungs» der Bibel auflöst. Vielmehr lässt sich zeigen, wie der Untergang Israels unter den Eroberungsschlägen der Babylonier und die Rückkehr der intellektuellen Priesterschaft nach Jerusalem die Frage freisetzte, was denn die Grundlage der Identität eines jüdischen Volkes sei.

Eine der langfristig wichtigsten Antworten lautete: Schrift. Sie überarbeiteten und fertigten Texte, die schliesslich zur Bibel wurden. Schmid und Schröter beenden ihre Textarchäologie im 6. Jahrhundert n. Chr. mit der Geschichte der christlichen Schriften,die erst langsam zu einem neuen «Testament» wurden, und, besonders verdienstvoll, mit dem Blick auf die parallele Formierung einer jüdischen Bibel.Als exzellente Kenner haben Schmid und Schröter einen verlässlichen Cicerone geschrieben, in einem Gebiet, in dem Laien unter den jahrhundertealten Bergen von Literatur und in den Nahkampfzonen der Textforschung Atemnot bekommen würden. Chapeau!

Der Kern und die Ränder

Gleichwohl hat das Buch seine Tücken. Zum einen schwankt die Darstellung unentschieden zwischen der Interpretation einzelner biblischer Bücher und ihrer Kontexte und dem Versprechen des Titels, über «die Entstehung der Bibel» aufzuklären. Über Dutzende von Seiten wird die Geschichte der vorexilischen Reiche ausgebreitet, die Entstehung des Monotheismus fehlt nicht, ebenso wenig Theologien von Schuld und Sühne. Man braucht, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, derartige Informationen. Aber in der Überfülle des Materials, das die beiden Autoren aus dem Fundus ihres Wissens ausbreiten, geht der rote Faden manchmal verloren.

Das zweite Problem liegt in der Antwort auf die Frage, wie man sich «die Entstehung der Bibel» bis zu ihrer kanonischen Festlegung vorzustellen habe. Beide Autoren wissen nur allzu gut, dass es zwar einen Kern gab, einen stabilen Bestand von Texten, im Neuen Testament etwa die vier Evangelien und die Paulusbriefe, aber zugleich einen offenen Rand und dauernde Debatten über den Stellenwert einzelner Bücher. «Unschärfe» ist deshalb zu Recht ein Schlüsselbegriff dieses Buches. Allerdings werden diese Ränder systematisch unterschätzt. Und so erfährt man nicht, dass  in allen 17 deutschen Übersetzungen des Neuen Testamentes vor Luther ein Brief an die Laodizäer unter dem Namen des Paulus auftaucht, dass der Hebräerbrief im Westen auch nach der Antike umstrittenblieb oder dass die Johannesapokalypse in den östlichen Kirchennoch im 17. Jahrhundert als verbindliches Buch verworfen werden konnte.

Nur noch Luthers Bibel

Ganz am Rand kommt die äthiopische Kirche in den Blick,deren neutestamentlicher Schriftenbestand bis heute durchaus das Doppelte des westlichen Umfangs betragen kann und die die Idee eines verbindlichen «Kanons» nicht teilt. Die These, dass «der Kanon des Neuen Testaments seit dem 4. Jahrhundert im Wesentlichen feststand», ist angesichts dieses Befundes ziemlich mutig.

Zur Blickverengung kam es vermutlich, weil beide Autoren Fachleute für die Antike sind und sich entschieden haben, mit dem 6. nachchristlichen Jahrhundert aufzuhören. So erfahren wir nichts über die porösen Ränder der mittelalterlichen Bibel, wenig über Schriften wie das Protoevangelium des Jakobus, die auf Augenhöhe mit den «kanonischen» Evangelien gelesen werden konnten.

Und vor allem erfahren wir fast nichts über die Entstehung eines geschlossenen Kanons im 16. Jahrhundert: über die Festlegungen in der katholischen Kirche auf dem Tridentiner Konzil, über die darauf reagierenden Beschlüsse reformierter Synoden in den folgenden Jahrzehnten und die faktische Kanonisierung der sprachgewaltigen Bibel Luthers in den lutherischen Kirchen. Schmid und Schröter erzählen eine dichte Geschichte des Anfangs – aber das (vorläufige) Ende der «Entstehung der Bibel» fehlt. Für die Vorgeschichte allerdings verdient das Buch zweifellos das Prädikat: lesenswert!

Quelle: NZZ vom 26.10.2019