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Theologisches Seminar | Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät

Ein aufgeklärter Staat muss die religiöse Landschaft mitgestalten

Gastkommentar von Prof. Dr. Konrad Schmid in der NZZ

Der Generalvikar des Bistums Chur, Martin Grichting, hat sich für die Abschaffung des «Staatskirchentums» ausgesprochen. Diese Forderung mag auf den ersten Blick aufgeklärt und zukunftsfähig erscheinen, doch entpuppt sie sich genau als das Gegenteil.

In einem NZZ-Gastkommentar vom 20. Juli 2018 vertritt der Generalvikar des Bistums Chur, Martin Grichting, die Auffassung, es sei nicht nur falsch, «orthodoxe Christen, Muslime, Hindus und Buddhisten» an das «staatskirchenrechtliche System der Kantone» heranzuführen, vielmehr müsse sich der «religiös neutrale Staat von seinem Staatskirchentum» verabschieden. Diese Forderung mag auf den ersten Blick aufgeklärt und zukunftsfähig erscheinen. Bei näherem Hinsehen regt sich allerdings erheblicher Widerspruch an Grichtings Ausführungen, und es wird erkennbar, dass seine Zielsetzung nicht in erster Linie integrations- oder staatspolitisch motiviert, sondern vor allem den eigenen kirchlichen Interessen geschuldet ist.

Zunächst einmal ist der Ausgangspunkt Grichtings nicht korrekt. Weder gibt es in der Schweiz ein «staatskirchenrechtliches System der Kantone» noch überhaupt in einem einzigen Kanton eine «Staatskirche» im juristischen Sinn. In Neuenburg oder Genf etwa sind Kirche und Staat getrennt, und in denjenigen Kantonen, in denen bestimmte Kirchen öffentlichrechtlich anerkannt sind, handelt es sich jeweils um Landeskirchen mit autonomen Gesetzgebungen, die nicht Bestandteil, sondern Partner des Staates sind. Das «Staatskirchentum» muss in der Schweiz also nicht abgeschafft werden, denn das ist bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts geschehen, im Fall des Kantons Zürich im Jahr 1831.

Überzogene Rhetorik
Grichting hat mit seiner überzogenen Rhetorik vielmehr die Aufgabe des Modells der öffentlichrechtlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften im Blick, wie sie etwa im Kanton Zürich praktiziert wird. Zu diesen gehören hier die Evangelisch-Reformierte Landeskirche, die Römisch-Katholische Körperschaft sowie die Christkatholische Kirchgemeinde. Zudem sind zwei jüdische Gemeinschaften seit der Totalrevision der Kantonsverfassung seit 2005 als privatrechtliche Vereinigungen anerkannt.

Diese Organisationsform hat sich bisher bewährt, sie sichert die demokratische Struktur der entsprechenden Kirchen und Religionsgemeinschaften und die Transparenz ihrer finanziellen Angelegenheiten. Ein moderner Staat wie der Kanton Zürich hat ein elementares Interesse daran, dass sich die in ihm aktiven Religionsgemeinschaften an die Spielregeln der Demokratie halten, sich nicht zu «Parallelgesellschaften» entwickeln und so zur Stabilität der Gemeinschaft beitragen. Deshalb ist es auch keine Überraschung, dass der Regierungsrat des Kantons Zürich dieses Modell nach wie vor mit Überzeugung unterstützt.

Was aber stört den Generalvikar des Bistums Chur am Status quo? Er schreibt im Blick auf seine eigene Kirche: «Das Überstülpen des Staatskirchentums der Demokratie auf die katholische Kirche hat bekanntlich zu einem Dauerkonflikt geführt, nicht nur im Bistum Chur.» Das mag in der Tat richtig sein, kann aber nur denjenigen in Aufregung versetzen, der keine demokratischen Strukturen in seiner Kirche will. Grichting hält diesbezüglich mit seiner eigenen Meinung nicht zurück: «Der legitimen kirchlichen Leitung steht eine vom Staat geschaffene Struktur gegenüber, die einer eigenen Agenda folgt.» Man reibt sich die Augen: Legitim ist die kirchliche Autorität, während der Staat eine «Agenda» hat.

Noch verwunderlicher ist Grichtings Argumentation bei den nichtchristlichen Religionen: Nach Grichting können auch die Muslime «die Integration ins Schweizer Staatskirchentum» kaum selbst wollen: «Man stelle sich vor, muslimische Gläubige – Männer und Frauen – würden gemäss Zürcher Kirchengesetz einen Imam abwählen oder über Bekenntnisfragen demokratisch entscheiden.» Über solche Perspektiven können sich wiederum nur Gegner freiheitlicher und fortschrittlicher Formen von Religion entsetzen. Vielmehr liegt es auch im eigenen Interesse der Religionsgemeinschaften, ihre Mitglieder in angemessener Weise in ihre Gestaltungsprozesse einzubeziehen. Dem hält Grichting den Mythos der Demokratieunfähigkeit des Islams entgegen: «Wer die Geschichte des Islams und die gesellschaftliche Realität in islamischen Ländern in Rechnung stellt, muss zur Einsicht gelangen, dass es vermessen ist, Muslimen entgegen den Grundsätzen ihrer Religion demokratische Strukturen aufzunötigen.»

Fatale Totalabstinenz des Staates
Tatsächlich aber liegen genau in dieser «Vermessenheit» die nachhaltigen Zukunftsperspektiven für das friedliche Zusammenleben der Religionen in einem weltanschaulich neutralen Staat. Dieser darf nicht dem Missverständnis verfallen, dass religiöse Neutralität mit Laisser-faire gleichzusetzen sei. Wie kontraproduktiv, ja fatal die institutionelle Totalabstinenz des Staates in Religionsfragen sein kann, führt etwa die gegenwärtige politische Situation in den USA vor Augen: Der unrühmliche und reaktionäre Einfluss christlicher und anderer Fundamentalismen konnte sich nur deshalb etablieren, weil der Staat sich nicht dafür interessierte, ob sich auf seinem Territorium gepflegte oder ungepflegte, demokratiekompatible oder demokratiefeindliche Religionsformen entwickeln und festsetzen.

Die strikte Trennung von Kirche und Staat will Grichting seinen Leserinnen und Lesern schliesslich mit einem Bekenntnis zum neuzeitlichen Individualismus schmackhaft machen: «Wir leben in der Neuzeit, in welcher wesentlich das Individuum zählt.» Der Staat müsse sich deshalb des Einzelnen «diskriminierungsfrei» annehmen und die «Gleichheit im bürgerlichen Bereich für alle» garantieren und durchsetzen. Ob die von der soziologischen, ökonomischen und anthropologischen Forschung herausgestellte Ultrasozialität des Menschen geeignet ist, um Grichtings Aussage zur Bedeutung des Individualismus generell zu stützen, sei hier dahingestellt, für Religionsfragen ist sie sicher unzutreffend.

Wichtiger ist seine Betonung, dass sich die Diskriminierungsfreiheit und die Gleichheit der Menschen auf den bürgerlichen Bereich beziehen müssen. Wie aber steht es mit den Religionsgemeinschaften? Soll dies dort nicht gelten? Offenbar nicht, denn Grichting schreibt: «Trägt der Staat durch seinen Interventionismus Konflikte in die Religionsgemeinschaften hinein, verletzt er die Religionsfreiheit und entfremdet sich gläubige Menschen.» Was hier als «Interventionismus» des Staates identifiziert wird, ist nichts anderes als dessen Beharren auf rechtsstaatlichen Prinzipien. Wenn sich dadurch Konflikte ergeben, dann darf der Staat nicht tatenlos zusehen, sondern dann haben sich die Religionsgemeinschaften zu beugen. Religionsfreiheit ist verfassungsmässig garantiert, aber nicht auf Kosten des Rechtsstaates.

Wer grundlegende Sympathien für Grichtings Forderung hegt, dass der «religiös neutrale Staat sich von seinem Staatskirchentum verabschieden» müsse, sollte erkennen, dass dieses von Grichting vorgetragene Programm nicht im Interesse eines aufgeklärten Staats liegt, sondern vielmehr darauf zielt, antidemokratische Strukturen in den Religionsgemeinschaften jenseits staatlicher Zugriffsoptionen zu sichern und auszubauen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier mittels einer Instrumentalisierung des Arguments der religiösen Neutralität des modernen Staates versucht wird, die Schaffung antimoderner Inseln darin zu legitimieren. Dass diese den aufgeklärten und freiheitlichen Staat auf Dauer stützen werden, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden.

Quelle: NZZ