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Theologisches Seminar | Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät

Viel mehr als ein Buch

Bericht im Deutschlandfunk über „Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften“ von Konrad Schmid und Jens Schröter.

Wie ist die Bibel entstanden? Viel mehr als ein Buch

Wer hat wann, wo und warum die Bibel verfasst? Fragen, die die Forschung seit langem beschäftigen. Zwei Theologen haben jetzt den Stand der Forschung aufgearbeitet, mit überraschenden Ergebnissen: etwa, dass Altes und Neues Testament gleichzeitig zu Schriftsammlungen wurden.

Von Christian Röther

Wie ist die Bibel entstanden? Eine Frage, die – das sei gleich am Anfang gesagt – wohl niemals vollständig beantwortet werden kann. Denn die Bibel ist eben nicht einfach vom Himmel gefallen. Ganz im Gegenteil.

„Die Bibel ist durch sehr viele Autoren verfasst worden. Und sie ist vor allem entstanden im Laufe eines langen Zeitraums: durch Überlieferungsprozesse, Zusammenstellung von Schriften“, sagt Jens Schröter. Er ist an der Humboldt-Universität Berlin Professor für Neues Testament:  

„Sodass man sich das also nicht so vorstellen darf: Es haben sich da ein paar Leute hingesetzt und die Bibel geschrieben. Sondern es ist ein sehr komplexes Werk, bei dem jetzt konkrete Autoren nur bei einigen Schriften tatsächlich bekannt sind. Bei anderen wissen wir es auch nicht, wer sie genau geschrieben hat.“  

„Die Bibel ist ja nicht einfach ein Buch“

Trotzdem weiß Jens Schröter sehr viel über die Entstehung der Bibel. Denn er hat den aktuellen Stand der Forschung aufgearbeitet und in einem Buch kompakt zusammengefasst – gemeinsam mit seinem Kollegen Konrad Schmid:

„Die Bibel ist ja nicht einfach ein Buch, sondern es ist eine Bibliothek von Büchern.“

Konrad Schmid ist an der Universität Zürich Professor für Altes Testament. Zum Interview in Berlin ist er per Skype zugeschaltet:

„Das Alte Testament ist im Wesentlichen im ersten Jahrtausend vor Christus geschrieben worden. Wobei diese Zeitspanne sich vor allem bezieht auf die Niederschrift der Texte. Es kann sein, dass bestimmte Erzählungen, Traditionen mündliche Vorstufen kennen, die noch weiter zurückgreifen.“

Früheste Texte aus dem neunten Jahrhundert vor Christus

Also von vorne: In den sprichwörtlichen „biblischen Zeiten“ gab es noch keine Bibel. Die mündlichen Anfänge der Bibel verlieren sich in der schriftlosen Vorzeit. Aber von wann ist der erste biblische Text, und welcher ist es?

Schmid: „Ja, also man hat lange gemeint, dass das sogenannte ‚Kleine Schilfmeerlied‘ in Exodus 15, 21 …“

„Singt dem Herrn, denn hoch erhaben ist er. Ross und Fahrer warf er ins Meer.“

Schmid: „… also dass dieses kleine Stück vielleicht das älteste Fragment sein könnte. Aber das hat sich heute eigentlich vollkommen verändert in der Einschätzung. Wir sind heute der Auffassung, dass die frühesten schriftlichen Texte vielleicht im neunten, achten Jahrhundert vor Christus entstanden sind. Also doch auch eine geraume Zeit erst nach David und Salomon.“

„Hängt zusammen mit der Entwicklung der Schriftkultur“

Konrad Schmid ist an der Universität Zürich Professor für Altes Testament (privat)Der Theologe Konrad Schmid (privat)Die Bibel selbst erweckt den Eindruck, die ersten Texte seinen bereits zur Zeit Mose verfasst worden, von Mose persönlich etwa im 14. Jahrhundert vor der Zeitenwende. Doch selbst wenn es Mose und sein Volk damals gegeben haben sollte – schreiben konnten sie höchstwahrscheinlich noch nicht. Kaum ein Buch der Bibel ist so alt, wie es vorgibt.

Schmid: „Das hängt einfach damit zusammen, dass wir erst vom neunten, achten Jahrhundert an überhaupt die Möglichkeiten haben im antiken Israel und Juda, dass Texte, die etwas umfangreicher sind, überhaupt geschrieben werden können – aufgrund der Entwicklung der Schriftkultur.“

Die hebräische Schrift musste erst mal erfunden und entwickelt werden – eine logische Voraussetzung für die Entstehung der Bibel. Und so erfährt man in dem Buch von Konrad Schmid und Jens Schröter auch viel über die Kontexte der Bibel: die historischen, politischen, theologischen und kulturellen Umstände. Zum Beispiel, dass die Texte anfangs ohne Punkt und Komma geschrieben wurden, und auch ohne Leerzeichen oder Lücken. Ein reiner Fließtext.

Ist das Debora-Lied der älteste Text?

Später wurden die biblischen Texte dann in eine einigermaßen sinnvolle Reihenfolge gebracht. Aber verfasst wurden sie nicht chronologisch, so der Alttestamentler Konrad Schmid:

„Ein Text, von dem man heute ausgeht, dass das ein alter Text ist, das ist das sogenannte Debora-Lied in Richter 5.“

„Dankt dem Herrn, weil Führer führten in Israel, weil freiwillig sich stellte das Volk. Hört, ihr Könige! Horcht auf, ihr Fürsten! Ich will dem Herrn, ich will ihm singen, will spielen dem Herrn, dem Gott Israels!“

Schmid: „Auch das ein poetischer Text, der auch sprachlich einige Archaismen aufweist und auch in seiner hebräischen Orthografie sehr altertümlich gehalten ist.“

Das jüngste Wort der Bibel?

Aber ob es wirklich der älteste Text der Bibel ist – darüber wird sich die Forschung vermutlich noch ewig den Kopf zerbrechen können. Deutlich besser zu beantworten ist Frage nach dem jüngsten Text der christlichen Bibel, erklärt der Neutestamentler Jens Schröter:

„Man kann mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der zweite Petrusbrief das jüngste Dokument des Neuen Testamentes und damit der gesamten Bibel ist, das etwa um die Mitte des zweiten Jahrhundert nach Christus verfasst wurde.“

Das jüngste Wort der christlichen Bibel – nicht das letzte Wort – das jüngste Wort lautet dann:

„Amen.“

Rekonstruktionen sind schwierig

Aber wie geht das überhaupt: Wie lässt sich rekonstruieren, welche Bibelpassagen wann, wo und von wem geschrieben worden sind? Laut Konrad Schmid keine leichte Aufgabe:

„Man muss zunächst zugestehen, dass die Überlieferungslage für solche Rekonstruktionen schwierig ist. Das älteste vollständige Manuskript einer hebräischen Bibel stammt aus dem Jahr 1000 nach Christus.“

Es ist also fast 2000 Jahre jünger als die ersten Texte der Bibel. Die sind aber eben allesamt nicht mehr erhalten, oder zumindest noch nicht gefunden worden.

Schmid: „Man ist also für die Rekonstruktion, welcher Text wann geschrieben, für wen geschrieben worden ist, auf Rekonstruktionen angewiesen. Und da gibt es verschiedene Möglichkeiten, solche Rekonstruktionen anzustellen.“

„Es geht dabei um Indizien“

Schröter: „Es geht dabei um Indizien, um Schriften zu datieren. Also etwa: Werden bestimmte historische Ereignisse erwähnt, sind sie vorausgesetzt? Oder kann man eher für wahrscheinlich halten, dass bestimmte historische Ereignisse noch nicht eingetroffen sind, weil darauf in keiner Weise reagiert wird. Das wären so Indizien.“

Einige besonders markante historische Ereignisse, die ihre Spuren in der Bibel hinterlassen haben, sind etwa die beiden Zerstörungen der Jerusalemer Tempel oder das Babylonische Exil. Auch die Namen realer Herrscher werden immer wieder erwähnt, und machen es möglich, die biblischen Texte zu datieren.

Und auch mit Hilfe der Sprachwissenschaft kann man einige biblische Geheimnisse lüften, sagt Konrad Schmid:

„Es gibt eine gewisse Leitlinie: Das sind die Inschriften, die man gefunden hat, aus dem Alten Israel. Die zeigen etwa zum Beispiel, wie sich das Hebräische diachron entwickelt hat, also wie sich die Geschichte der Sprache entwickelt hat. Auch das erlaubt gewisse Rückschlüsse, welche Texte zu welchen Zeiten entstanden sein könnten.“

„Man kommt nur zu ungefähren Datierungen“

Die Entstehung der Bibel zu rekonstruieren gleicht also detektivischer Arbeit, für die man ganz verschiedene Hilfsmittel heranziehen muss.

Schmid: „Wobei man bei den biblischen Texten immer auch damit rechnen muss, dass eben nicht größere Textflächen, geschweige denn ganze Bücher sich einer bestimmten Zeit zuweisen lassen. Sondern die meisten Texte und Bücher sind über Jahrhunderte hinweg angewachsen zu ihrer jetzt vorliegenden Gestalt, sodass man also jeweils für bestimmte Textanteile zu unterschiedlichen Urteilen kommen wird.“

Oder eben auch zu keinem Urteil, denn nicht jedes biblische Wort lässt sich abschließend datieren, sagt Jens Schröter:

„Man kommt auch immer nur zu ungefähren Datierungen. Also man kann nicht mit Sicherheit sagen, das Johannesevangelium wurde im Jahr 91 verfasst. Das kann auch fünf Jahre eher oder acht Jahre später gewesen sein. Es gibt immer eine gewisse Unschärfe.“

„Kein zielgerichteter Prozess“

Zu wissen, wann, wo, warum und von wem die biblischen Texte geschrieben wurden, ist aber auch erst die halbe Wahrheit über die Bibel. Mindestens genauso wichtig ist die Frage, wie und warum die Texte dann in die Bibel gelangt sind. Denn sie wurden zunächst als einzelne Texte verfasst.

Manche wurden dann zu Sammlungen zusammengefasst, andere wurden nach und nach aussortiert. Denn es gibt eben auch viele andere Texte, die den biblischen sehr ähnlich sind, die es letztendlich aber nicht in den Kanon der Bibel geschafft haben.

Schröter: „Man darf sich das nicht als einen zielgerichteten Prozess vorstellen, der irgendwann zu genau diesem Umfang von biblischen Schriften führen musste. Also die Entscheidung hätte – oder: Entscheidung ist gar nicht richtig. Das Ergebnis solcher Entwicklungen hätte durchaus auch anders aussehen können.“

Warum wurden Schriften in die Bibel aufgenommen?

Die Kanonisierung der Bibel verlief also nicht planmäßig. Die Bibel – oder besser: die Bibeln, denn es gibt ja viele unterschiedliche in den verschiedenen jüdischen und christlichen Strömungen – die Bibeln könnten heute auch ganz anders aussehen: mit mehr oder weniger Büchern oder in einer anderen Reihenfolge.

Was also war entscheidend dafür, dass manche Texte in die Bibel gelangt sind und andere nicht? Da wären zum einen politische Gründe, erklärt Konrad Schmid:

„Die Thora ist wahrscheinlich vor allem deswegen kanonisiert verbindlich geworden, weil die darin enthaltenen Gesetze als maßgeblich empfunden worden sind.“

„Der Hauptfaktor scheint gewesen zu sein, dass die Bücher gebraucht worden sind“

In der Thora, also den fünf Büchern Mose, finden sich die Zehn Gebote und hunderte weitere Handlungsanweisungen. Und die wurden dann im 6. bis 4. Jahrhundert vor der Zeitenwende herangezogen, als sich unter der Herrschaft der Perser alle ethnischen Gruppen selbst Gesetze geben sollten.

Schmid: „Die Juden haben offenbar die Thora vorgewiesen, und das war der entscheidende Punkt, an dem die Thora dann eine Status von Verbindlichkeit und dann nach und nach auch Heiligkeit erreicht hatte.“

Hier waren es also politische Zwänge, die dazu führten, dass die fünf Bücher Mose heute die Bibel eröffnen. Bei anderen Texten hingegen führten ganz praktische Gründe dazu, dass sie Teil der Bibel wurden.

Schmid: „Der Hauptfaktor scheint gewesen zu sein, dass die Bücher gebraucht worden sind – dass sie gebraucht worden sind im Gottesdienst. Und wenn das der Fall ist, dann hat sich das aufgedrängt, dass man diese Bücher zum Bestand derjenigen Literatur zählte, auf die man sich gerne verlassen wollte.“

Aus theologischen Gründen aussortiert

Schröter: „Bei anderen Schriften ist es so, dass sie Auffassungen vertreten, die von christlichen Theologen, die maßgebliche Überzeugungen des Christentums ausformuliert haben – dass sie diesen Überzeugungen widersprochen haben und deshalb abgelehnt wurden.“

In diesen Fällen entschieden also theologische Gründe darüber, ob eine Schrift es in die Bibel schaffte oder nicht, erklärt Jens Schröter mit Blick auf die christliche Bibel.

Erste christliche Vollbibeln – also mit Altem und Neuem Testament in ähnlicher Form, wie wir sie heute kennen – christliche Vollbibeln gibt es seit dem 4. Jahrhundert. Und auch hier spielten wieder politische Gründe eine wichtige Rolle. Denn das Christentum war im Römischen Reich zur Staatsreligion aufgestiegen.

Schröter: „Und in diesem Zusammenhang ist es in der Tat so, dass die römischen Kaiser daran interessiert waren, das Christentum als eine einheitsstiftende Religion des Reiches zu befördern und zu implementieren. Und da wird auch die Herstellung von Bibelmanuskripten befördert, um nunmehr auch deutlich zu machen, dass dieses die maßgeblichen Schriften des Christentums sind.“

„Die jüdische und die christliche Bibel entstehen in Dialog“

Nun könnte man annehmen, dass es die Hebräische Bibel, also die Bibel des Judentums, zu diesem Zeitpunkt schon gab, denn im Christentum heißt sie ja Altes Testament. So war es aber nicht. Die Texte des Alten Testaments sind zwar allesamt älter als die Texte des Neuen Testaments. Doch als Schriftensammlungen entwickeln sich die beiden Teile der Bibel gleichzeitig, betont Jens Schröter:

„Das ist, glaube ich, auch ein Novum, dass wir das so herausgearbeitet haben, dass die jüdische und die christliche Bibel in Dialog, Auseinandersetzung, Konkurrenz zu einander entstehen. Dass also nicht einfach die jüdische Bibel vorausgesetzt ist und dann christlicherseits fortgeschrieben oder aufgenommen oder interpretiert wird. Sondern dass diese Prozesse von Autorisierung von Schriften im Judentum und im Christentum parallel zueinander verlaufen – und durchaus auch in Kontakt miteinander und in Abgrenzung zueinander verlaufen. Das ist glaube ich wichtig zu sehen.“

Die Bibel ist also über etwa 1500 Jahre hinweg zu dem gewachsen, was wir heute kennen. Irgendwann betrachteten Judentum und Christentum ihre „Heiligen Schriften“ dann als abgeschlossen – allerdings ohne dass man sich formal geeinigt hätte: Jetzt ist die Bibel fertig.

„In der Antike hat es so etwas nie gegeben. Es gibt keinen Synodalbeschluss oder so etwas über den Umfang der verbindlichen Schriften des Judentums oder des Christentums“, sagt Jens Schröter, der Berliner Neutestamentler.

Die Bibel als Prozess

Die Frage nach der Entstehung der Bibel, der Schröter zusammen mit dem Züricher Alttestamentler Konrad Schmid nachgegangen ist – diese Frage führt so auch zu einer anderen Frage: Was ist das eigentlich, die Bibel?

Die Bibel, das ist nicht einfach ein Buch. Die Bibel ist ein Prozess. Es sind dutzende Bücher, viele kleine und große Geschichten, ungezählte Autoren, vielleicht auch Autorinnen. Die Bibel, das ist: erzählen, niederschreiben, überarbeiten, wegstreichen und hinzufügen, anpassen und zusammensetzen, aussortieren und bewahren.

Das und noch viel mehr lernt, wer das Buch von Jens Schröter und Konrad Schmid studiert. Es macht bibelsensibel. Und es produziert so viele Aha-Momente, wie ich sie selten hatte in so kurzer Zeit beim Lesen eines Buches.

 

Quelle: Deutschlandfunk