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Theologisches Seminar | Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät

«Gewalt ist älter als Religion»

Herr Schmid, Gewalt wird oft mit religiösen Argumenten legitimiert. Früher etwa die Kreuzzüge, heute der Dschihad. Fördert und legitimiert Religion Gewalt?
Konrad Schmid: Das ist eine Diskussion, die seit etwa 15 Jahren in Philosophie, Religionswissenschaft und Theologie intensiv geführt wird. Ausgelöst wurde die Debatte durch ein Buch von Jan Assmann. Er vertrat die These, mit der literarischen Entstehung der Offenbarungsreligion des Judentums im babylonischen Exil sei eine Unterscheidung in die Religionsgeschichte eingeführt worden, die vorher unbekannt war.

Worin besteht diese Unterscheidung?
Schmid: Es ist die Unterscheidung zwischen wahr und falsch, die Assmann, weil sie in der Tradition mit Mose verbunden ist, die «mosaische Unterscheidung» nannte.

Was bedeuten wahr und falsch in diesem religiösen Kontext?
Schmid: In den altorientalischen Religionen Ägyptens, Mesopotamiens oder bei den Hethitern waren die Religionen ineinander übersetzbar: Der Sonnengott etwa hiess in Ägypten Ra, in Mesopotamien Schamasch. Doch die unterschiedlichen Kulturen konnten sich darüber verständigen, dass es sich jeweils um dieselbe Gottheit handle.

Die Juden aber haben einen neuen Gott erfunden?
Schmid: Das Judentum sagte: Unser Gott Jahwe ist der einzige Gott, alle anderen Götter sind nichtig. Das bedeutete: Mit dem Siegeszug des biblischen Monotheismus wurden die anderen Götter zu Nichtsen. Den Juden wurde in der Antike Atheismus vorgeworfen, weil sie die Existenz der anderen Götter leugneten. Diese Unterscheidung ist für Assmann der Kern der religiösen Gewalt: Wenn eine Religion die Wahrheit für sich beansprucht und die anderen Religionen als falsch bezeichnet, produziert das Gewalt.

Teilen Sie diese Ansicht?
Schmid: Nein, ich teile sie nicht. Ich denke aber, dass Assmann auf einen wichtigen Punkt hinweist: Wenn man eine Unterscheidung zwischen wahr und falsch trifft, so ist die Abgrenzung zwischen Religionen stärker. Aber ich glaube nicht, dass diese Unterscheidung zu Gewalt führen muss und für Gewalt verantwortlich gemacht werden kann, die «religiös» motiviert erscheint.

Weshalb nicht?
Schmid: Gewalt ist eine anthropologische Konstante, Menschen töten Menschen aus verschiedenen Gründen, unter anderem auch aus religiösen. Gewalt ist älter als Religion.

Doch Religion kann wie andere Ideologien zur Legitimation von Gewalt dienen?
Schmid: Sie kann dazu dienen, muss aber nicht. Trotzdem hat man den Eindruck, dass gerade die beiden monotheistischen Religionen Christentum und Islam historisch und aktuell für viel Gewalt verantwortlich sind.

Ist es einfacher, in monotheistischen Religionen Gewalt zu rechtfertigen?
Schmid: Man muss bei den Beispielen, die wir auf den ersten Blick mit religiös motivierten Gewalttaten assoziieren, wie den Kreuzzüge oder islamistischen Gewalttaten,  Glaubenskriegen oder dem religiös motivierten Superterrorismus, genauer hinschauen. Dann zeigt sich, dass die religiöse Komponente eine unter vielen ist. Es gibt daneben weitere Motive, die genauso wichtig oder noch wichtiger sind.

Ist die Religion oft ein Deckmäntelchen für politische Motive?
Schmid: In vielen Fällen ist das so. Beim sogenannten Islamischen Staat etwa ist das gut zu sehen – seine Aktivisten haben vom Islam oft wenig oder keine Ahnung. Was auch  gegen Assmanns These spricht: Wenn man sich altorientalische Imperien wie das der Assyrer anschaut, stellt man fest, dass sie, obwohl sie Polytheisten waren, sehr grausame Kriege führten. Auch die römischen Legionen waren brutal. Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen Monotheismus und Gewalt und Polytheismus und  Friedfertigkeit.

In einem Vortrag zu Religion und Gewalt unterscheiden Sie zwischen inklusivem und exklusivem Monotheismus. Worin besteht der Unterschied?
Schmid: Der exklusive Monotheismus sagt, wir haben einen Gott, das ist unser Gott und alle anderen sind Götzen. Das ist, was Assmann zunächst im Blick hatte.

Sind die Christen exklusive Monotheisten?
Schmid: Ich bin Christ, würde mich aber nicht als exklusiven Monotheisten bezeichnen.

Weshalb nicht?
Schmid: Aus meiner Sicht verehrt ein Muslim, der an seinen Gott glaubt, keinen Götzen. Inklusive Monotheismen lassen unterschiedliche Konzeptionen von Gott zu, und gestehen zu, dass Gott unter verschiedenen Namen und in verschiedener Weise verehrt werden kann. In dieser Perspektive können Monotheismen friedfertige und tolerante Religionen sein, die Türen zu anderen Religionen öffnen. Die Bibel kennt beide, den exklusiven und den inklusive Monotheismus. Meine Sympathien sind beim inklusiven Monotheismus.

Können Sie das begründen?
Schmid: Religionen sind von Menschen geschaffen worden. Wie wir uns Gott vorstellen, ist historisch und kulturell bestimmt, Religion fällt nicht vom Himmel. Deshalb können und dürfen Religionen nicht verabsolutiert werden.

Trotzdem haben Ideologisierungen der Religion immer wieder stattgefunden: Im Christentum wurden jahrhundertelang Religionskriege zwischen Protestanten und Katholiken geführt, mit verheerenden Folgen, weil beide Konfessionen einen exklusiven Wahrheitsanspruch für sich reklamierten.
Schmid: Ja, da müssen wir gerade aus christlicher Seite selbstkritisch sein. Wir Christen sind nicht friedfertig geworden aus Einsicht, sondern aus Not, weil im 17. Jahrhundert die furchtbaren Glaubenskriege unentschieden ausgegangen sind. Der Dreissigjährige Krieg, der halb Europa verwüstet hat, hat eines gezeigt: Religiöse Ansprüche lassen sich nicht militärisch vereindeutigen. Das war die Geburtsstunde der Toleranz. Das hehre Ideal der religiösen Toleranz, das für uns heute selbstverständlich erscheint, haben wir nicht freiwillig entwickelt, sondern wir haben es bitter erlernen müssen. Die grandiose Idee der
religiösen Toleranz wurde aus der militärischen Katastrophe geboren.

Das Christentum ist einigermassen friedlich geworden, dank der historischen Erfahrung der Selbstzerfleischung. Trotzdem gibt es immer noch religiös motivierte Gewalt.  Legitimeren die Bibel und der Koran solche Gewalt?
Schmid: Das Christentum ist auch heute noch nicht gewaltfrei. Im Süden der USA haben christliche Fundamentalisten Ärzte erschossen, die Abtreibungen vornehmen. Ganz darüber hinweg sind wir also noch nicht. Die Bibel ist ein sehr vielstimmiges Buch. Darin finden sich Texte, die sich so lesen lassen, dass sie Gewalt befürworten, und Texte, die Gewalt verdammen. Deshalb ist es entscheidend, wie man die Bibel versteht. Die christliche Theologie interpretiert die Bibel kritisch. Das heisst: Nur weil etwas in der Bibel
steht, ist es nicht automatisch gültig.

Wie ist das beim Koran?
Schmid: Im Koran gibt es auch Stellen, die von Barmherzigkeit und Gnade sprechen, und andere von Gewalt. Man muss bei der Bibel wie beim Koran sagen: Das sind alte Bücher. Wir können sie nicht an unseren Standards von politscher Korrektheit messen. Deshalb ist entscheidend, wie wir heute mit diesen Dokumenten umgehen. Die arabische Welt wurde nach 1920 von den Kolonialmächten Frankreich und England nachhaltig gedemütigt. Das hat zu antiwestlichen Ressentiments geführt, die auch die Auslegung des Korans beeinflussen. So lehrt etwa die AlAzhar-Universität in Kairo keine kritische oder  liberale, sondern eine sehr enge Koranauslegung. Auch die salafistischen Bewegungen in Saudi-Arabien interpretieren den Islam ganz eng, praktisch geschichtslos. Man versucht auf diese Weise, die Ursprungszeit des 7. Jahrhunderts wieder zu installieren.

Ist das nicht richtig so, weil es sich um die Worte Gottes handelt, an denen es nichts zu rütteln gibt?
Schmid: Der erste Satz der Bibel lautet: «Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.» Die Bibel zeigt ganz am Anfang, dass sie Texte versammelt, die über Gott sprechen. Gott spricht nicht selbst. Beim Koran ist es anders, dieser präsentiert sich durchgehend als Selbstzeugnis Gottes. Aber auch er ist nicht vom Himmel gefallen, sondern von
Menschen aufgeschrieben worden.

Sie bezeichnen den monotheistischen Gott als imperialen Gott, der über allem steht. Er ist auch das letzte Gesetz. Ist dieser Absolutheitsanspruch eine Legitimation für Gewalt?
Schmid: Historisch gesehen ist das so. Jede Gesellschaft stellt sich Gott so vor, wie es aufgrund der sozialen Gegebenheiten naheliegt. Als das alte Israel mit den mächtigen  Reichen der Assyrer und Perser in Kontakt kam, fing man an, Gott imperial zu deuten. Das hat entsprechende Züge ins Gottesbild einfliessen lassen, die einem altorientalischen Grossherrscher entsprachen, der beispielsweise seine Feinde vernichtet.

An welchen Vorbildern orientiert sich denn der jüdisch-christliche Gott?
Schmid: Der biblische Gott hat eine Geschichte, er hat sich Schritt für Schritt entwickelt. Die ältesten Zeugnisse beschreiben einen Bergund Sturmgott, das Alte Testament lässt dies an einzelnen Stellen noch erahnen. Dieser Gott hat dann solare Züge angenommen – die Sonnengottheit war eine ganz zentrale Gottheit im alten Orient, sie war für Recht und  Gerechtigkeit zuständig. Das führte zu einer entscheidenden Uminterpretation des Gottesbildes. Dann, im 9. und 8. Jahrhundert vor Christus, kam das antike Israel mit dem expandierenden Imperium der Assyrer in Berührung. Beinflusst von den Assyrern
entsteht in dieser Epoche erstmals ein imperial geprägtes Gottesbild, mit all seinen Vor- und Nachteilen. Der Vorteil war, dass man begann, Gott universal zu denken, nicht als lokale, sondern als globale Gottheit. Der Nachteil war, dass dieser Gott entsprechend mit Willkür und Gewaltelementen ausgestattet wurde, die man aus der assyrischen Theologie übernahm.

Unser Gott ist demnach ein Assyrer?
Schmid: Das war eine Station: Die Assyrer wurden von den Babyloniern besiegt, danach kamen die Perser. Die Perser waren als Herrscher wohlgelitten, weil sie eine dezentrale Reichsorganisation einführten und relativ tolerant waren. Das Denken der Perser hat das Gottesbild in der Bibel auch sehr stark beeinflusst.

In welcher Weise?
Schmid: In Genesis 1–9 beispielsweise wird Gott gedacht als einer, der jeglicher Gewalt gegenüber seiner Schöpfung entsagt: In Genesis 9 heisst es, dass Gott seinen Bogen in die Wolken stelle. Das ist im alten Orient ein neuer Gedanke, Gott nicht als waffenklirrenden Potentaten zu zeigen. Das ist, historisch gesehen, wahrscheinlich ein Reflex auf die friedvolle Erfahrung der Perserzeit im Vorderen Orient.

Die negativen, gewalttätigen Eigenschaften des jüdisch-christlichen Gottes sind demnach
assyrischer Herkunft, die friedfertigen, toleranten persischer?

Schmid: Zuspitzt könnte man das so sagen. Beide Ursprünge sind jedoch dafür  verantwortlich, dass Gott universal gedacht wird, weil beide Imperien für damalige Begriffe weltumspannend waren.

Sie sagen: Allein mit der Bibel in der Hand lässt sich kein Frieden stiften, es lässt sich sogar Krieg führen. Können Sie diese Aussage erklären?
Schmid: Nehmen wir zum Beispiel das Neue Testament. Da steht das Jesuswort: Wenn  dich jemand auf die linke Backe schlägt, dann halt ihm auch die andere hin (Matthäus 5,39). Das wäre ein friedenstiftendes Modell. Im Neuen Testament findet sich aber auch das Jesuswort: Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert (Matthäus 10,34). Die Bibel ist eben keine Dogmatik in tausend Paragrafen, sie ist ein Buch mit Erzählungen, Liedern, Weisheitssprüchen, mit Gebeten. Diese Teiltexte der Bibel sind nicht in einer systematisierten, vereindeutigenden Art und Weise zu einer heiligen Schrift komponiert worden. Nur schon, dass das Neue Testament nicht ein Evangelium hat, sondern vier, die einander zum Teil widersprechen, zeigt, dass es bei der Erstellung der Heiligen Schrift nicht um Eindeutigkeit, sondern um Vielstimmigkeit ging.

Wie kann die Bibel genutzt werden, um Friedensvorstellungen zu entwickeln?
Schmid: Dadurch, dass die Bibel eine lange und auch wechselvolle Geschichte bezeugt, kann man sehen, welche historischen, politischen Hintergründe zu welchen Denkformen geführt haben und wie sich diese Denkformen zueinander in Beziehung setzen. Wenn man weiss, wie unterschiedliche politische Situationen ideologisch ausgewertet werden  können, dann glaube ich, ist es einfacher, heute mit Situationen umzugehen, bei denen man religiöse Gewalt erkennen kann.

Was bedeutet das für uns?
Schmid: Was die westliche Welt gegenwärtig besonders beschäftigt, ist der religiöse  Superterrorismus. Dazu gehören vor allem die Selbstmordattentäter. Wenn man die Geschichte dieses religiösen Terrorismus anschaut, so wird man bemerken, dass er ganz jung ist und von zufälligen Faktoren abhängt. Das Selbstmordattentat hat in der islamischen Welt eigentlich keine Tradition. Die Sprengstoffgürtelattentate etwa gibt
es seit 1982.

Wer hat damit angefangen?
Schmid: Die Hisbollah im Süden Libanons. Die ersten palästinensischen  Selbstmordattentate wurden nicht von Palästinensern, sondern von Japanern ausgeführt. Am 30. Mai 1972 gab es einen Kamikazeanschlag von drei Linksterroristen aus Japan, die im Flughafen von Tel Aviv mit Maschinengewehren im Auftrag der PLO 26 Menschen ermordeten, ohne Rücksicht auf das eigene Leben. Die japanische Kamikazetradition aus dem Zweiten Weltkrieg wurde so in die islamische Welt importiert, obwohl der Selbstmord im Koran, wie in der Bibel, kritisch betrachtet wird. Erst in den 1980er-Jahren wurde das Selbstmordattentat zur Märtyrer und Heroentat hochstilisiert. Wenn man solche Mechanismen erkennt, wird deutlich, wie zufällig solche Entwicklungen sind und wie man vielleicht im Gespräch mit dem Islam zu Strategien kommen kann, um sie zu bekämpfen.

Kann man so dem Superterrorismus das Wasser abgraben? Sie haben darauf hingewiesen, dass der islamische Terrorismus eine Folge der Demütigungen der islamischen Länder und ihrer Kultur durch den Westen ist. Wo könnte man da ansetzen?
Schmid: Das Grundübel ist in der Tat die kollektive Demütigung. Man sollte aber die  Hoffnung nicht verlieren, dass es überraschende Lösungsmomente geben kann. Der arabische Frühling war ja eine solche Bewegung. Dass er gescheitert ist, hängt mit dem Mangel an Erfahrung mit demokratischen Prozessen, der Korruption und dem Machismus, der fehlenden Gleichberechtigung der Frau in diesen Gesellschaften zusammen. Diese Probleme tragen zur Stabilität des bestehenden Systems bei. Sie lassen sich nicht innerhalb von wenigen Jahren ändern. Erfolgversprechend sind kleine, vertrauensbildende
Schritte, die nachhaltige Entwicklungen auslösen können.

Quelle: UZH Magazin 3/16

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Thomas Gull