Göttinger
Predigten im Internet,
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
Sonntag:
4. Sonntag im Kirchenjahr, 4. Advent
Datum:
20.12.1998
Text: Lukas
1, 26-38
Verfasser: Prof. Dr.Dr. Ulrich Nembach
Lukas, 1, 26 - 38
"Im 6. Monat wurde Gabriel von Gott in eine Stadt in
Galiläa gesandt mit dem Namen Nazareth, zu einer Jungfrau, die
mit Josef verlobt war, der aus dem Hause David stammte. Die
Jungfrau hieß Maria.
Der Engel kam zu ihr herein und sagte: ´Sei gegrüßt du
Begnadete! Der Herr ist mit dir.` Sie erschrak aber bei der
Anrede und dachte: ´Was ist das für ein Gruß?`
Da sprach der Engel zu ihr: ´Fürchte dich nicht Maria´, du
hast Gnade bei Gott gefunden.
Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn bekommen. Du
sollst ihm den Namen Jesus geben.
Er wird groß sein und ein Sohn des Höchsten genannt werden.
Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters Davids geben, und
er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit. Sein Reich
wird kein Ende haben.`
Da antwortete Maria zu dem Engel: ´Wie soll das geschehen, da
ich von keinem Mann weiß?`
Darauf antwortete der Engel, indem er sagte: ´Der heilige Geist
wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich
überschatten; darum wird auch das heilige Kind Sohn Gottes
genannt werden.
Und noch ein Hinweis: Elisabeth, deine Verwandte, ist auch
schwanger mit einem Sohn trotz ihres Alters. Jetzt ist sie im 6.
Monat, sie, von der man sagt, sie sei unfruchtbar. Denn bei Gott
ist nichts unmöglich.`
Da sagte Maria: ´Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie
du gesagt hast`
Da verließ sie der Engel."
Liebe Gemeinde!
Jauchzet, frohlocket! Auf preiset die Tage!
So beschrieb vor rund 250 Jahren Bach die vor uns liegenden Tage
und eigentlich gemeint waren rund 1750 Jahre zurückliegende
Tage, Weihnachten. Solche Tage werfen ihre Schatten voraus. Und
diese Schatten sind groß. Sonst wären sie nicht die Vorläufer
dieser Tage. Advent. Zu ihnen gehört besonders ein Ereignis, der
Besuch des Engels Gabriel bei Maria.
Engel sind nicht nur heute selten anzutreffen. Auch in der Bibel
begegnen sie nicht häufig. Lk, der uns diese Geschichte
berichtet, weiß von Engeln hier etwas zu sagen, sehr nahe vor
der Geburt Jesu, später nach der Geburt und dann nach Jesu
Auferstehung. Hier wird Gabriel von Gott zu Maria gesandt. Gott
handelt, und er schickt einen seiner obersten Engel. Chefsache.
Der Engel macht sich gleich auf den Weg. Sein Ziel ist ein
kleiner Ort, ein un-bekannter Ort, nicht der Rede wert.
Göttingen ist bekannt durch seine Universität, durch den
Nordsüd-Verkehr auf Straße und Schiene. Wer kennt, richtiger
kannte bis dahin "Nazareth" in der zudem kleinen
Landschaft "Galiläa". Hier Chefsache - dort ein
unbedeutender Ort und dazwischen ein Chefengel.
Diese Reise hat immer wieder Menschen begeistert, Kinder
inspiriert. Maler stellen Gabriel dar. Musiker schreiben Stücke
und wählen dafür sorgfältig Stimmen und Noten.
"Ave Maria", der Gruß Gabriels nach seiner Ankunft in
Nazareth bei Maria, fand Eingang in Gebet und Liturgik.
Ave Maria, oder kurz - das Griechische (aire - ist der
Alltagsgruß in jenen Tagen. Gott schickt seinen Engel in den
Alltag hinein, verändert nicht den Alltag, sondern greift ihn
"auf". Die Verbindung Gott - Maria ist eine von Gott
zum Menschen mit dessen ganzer Menschlichkeit. Maria ist ein
junges Mädchen. Es soll einen alten Mann heiraten, einen
gewissen Josef, einen kleinen Handwerker, einen Zimmermann. Maria
ist keine schöne, strahlende Frau. Spätere Zeiten haben sie
erst dazu gemacht. Ein armes junges Mädchen mit keiner
besonderen Zukunft, in einem kleinen Ort, einem unbedeutenden
Ort, das ist Maria. Der Kontrast Gott - Maria könnte kaum
größer sein. Aber, Gott wäre nicht Gott, wenn die
Verhältnisse so blieben. Er greift ein und gleich wie! Einer
seiner Chefengel muß sich auf den Weg machen. Wenn Gott und
Mensch zusammentreffen, geht es nicht weiter wie hierher.
Aber diese Veränderung ist nicht eine alltägliche. Es findet
nicht beispielsweise eine Reparatur statt. Auch beginnt nicht ein
Märchen, etwa, daß aus dem armen Mädchen Maria eine strahlende
junge Frau wird. Gott handelt nicht nach Feenart. Alltag bleibt
Alltag, und doch wird er anders.
Die Veränderung in der Nicht-Veränderung wird in der Anrede
Gabriels deutlich:
Zunächst benützt Gabriel den Alltagsgruß "ave",
"(aire", und wechselt unvermittelt Ton und Sprache. Er
benützt für seine weitere Anrede an Maria ein
außergewöhnliches, ganz und gar nicht alltägliches Wort. Im
Deutschen und auch im Lateinischen fehlt sogar das verwendete
Wort. Wir können es folglich in einer Übersetzung nur
umschreiben. Dabei ist seine Lexik leicht. Es ist ein Verb und
bedeutet soviel wie "angenehm machen", "mit Huld
beglücken" "Gnade schenken". Schwierig wird die
Sache, wenn wir uns vorstellen, wie wir jemanden "angenehm
machen" können. Sollen wir zu PR-Leuten werden? Noch
schwieriger, aber zugleich auch leichter wird das Ganze, wenn wir
die Grammatik zu Hilfe nehmen. Das Verb wird von Gabriel bei
seiner Anrede im Perfekt Passiv gebraucht. Die lateinische
Übersetzung hilft sich, indem sie die Verbform auflöst. Das
Ergebnis ist eine verständliche Übersetzung, aber der Preis ist
hoch. Das Verb wird aufgeben. Der Gruß lautet: "Sei
gegrüßt voller Gnaden". "Sei gegrüßt, Maria, voller
Gnaden", wird in der Folgezeit zu dem allseits bekannten
Gruß. Die Voraussetzung für diese Übersetzung ist: Maria, die
Frau, ein Mensch, wird als Gefäß verstanden, das mit Gnade
angefüllt worden ist. Der Gruß, der Maria als Frau in ihrem
eigenen Alltag gilt, das Verb im Passis, ist verschwunden. Der
Alltag, in den hinein Gabriel geschickt wird und redet, wird
aufgegeben.
Maria reagiert aber als Mensch. Sie ist verwirrt, ja mehr als
verwirrt. Sie erschrickt. Welchem, selbst emanzipierten Mädchen
von heute erginge es anders, wenn sie so angeredet werde:
"Du angenehm Gewordene". Luther überlegte, ob man
nicht einfach sagen sollte: "Gott grüßt dich, liebe
Maria" (WA 30 II, 638, 18 u. 23).
Auf die menschliche Reaktion Marias reagiert Gabriel auch
menschlich. Er sagt: "Hab' keine Angst Maria", setzt
mit einen neuen Gruß noch einmal an und erklärt zugleich seinen
ersten Gruß. Nun sagt er zu Maria: "Du hast Gnade bei Gott
gefunden."
Dann erst kommt Gabriel zur Sache, übermittelt seine Nachricht.
Wieder reagiert Maria menschlich, eben als junges Mädchen.
Erschrocken, und höflich fragt sie zurück, wie sie, die sie als
Verlobte doch Jungfrau ist, schwanger werden solle. Gabriel hat
volles Verständnis für die Frage und erklärt.
Später wird es dann Theologen geben, die meinen werden, das
Gespräch sei eine von Lukas oder anderen eingefügte Erklärung
und/oder Bekräftigung, daß Maria als Jungfrau Jesus geboren
habe.
Maria gerät damit in den Alltag unserer Meinungen. Das ist
nichts Neues oder gar Besonderes, sondern setzt nur den Alltag
von damals auf seine Art fort. Gabriel kommt zu Maria in ihrem
Alltag. Er verläßt sie auch in ihrem Alltag. Der ist der alte
und doch auch anders geworden, als der er war, bevor Gabriel kam.
Maria, so der Evangelist Lukas, erlebt das Andere später
ausgeprägt bei ihrem Besuch bei ihrer schon älteren Kusine
Elisabeth. Maria preist dann Gott mit einem Lied, dem Magnificat.
Es ist ein wunderschönes Lied und später viele Komponisten
anregen. 8,5 Druckseiten lang ist das Verzeichnis, das die
Komponisten und ihre Werke nennt (Söhnke Remmert, Bibeltexte in
der Musik, Göttingen 1996).
So sind wir Menschen. Wir sehen gern das Schöne, das wir leicht
nachvollziehen können. Deswegen übergehen, verschweigen wir
schwierige Passagen des Alltags. Maria hat Probleme wegen des
Alltags. Als junge, verlobte Frau schwanger zu sein, bedeutete in
dem Nazareth ihrer Tage den Tod durch Steinigen. Josef, ihr
Verlobter, bewahrt sie davor, indem er sie heiratet. Später
findet dann die Geburt in einem Stall statt, kein klinisch reiner
Ort, ein gesteigertes Risiko für die junge Mutter bei der
ohnehin großen Sterblichkeitsrate im Kindbett.
II.
Wir singen dazu "Stille Nacht, heilige Nacht". Wir
vergessen, daß das Lied ebenfalls unter schwierigen Bedingungen
das Licht der Welt erblickte. Es war vor 180 Jahren. Eine
Gemeinde hatte ihre Kirche verloren, weil 2 Jahre zuvor, 1816,
eine Grenze willkürlich beschöossen worden war. Die Kirche der
Gemeinde lag nun unerreichbar am anderen Ufer der Salzach.
Diesseits des Flusses gab es nur eine alte, halbzerfallene Kirche
mit einer schadhaften, verstimmten Orgel. Der Pfarrer des Ortes,
ein armer Hilfsgeistlicher, - mehr hatte man der Gemeinde nicht
zugebilligt - war mutig. Er ergriff die Initiative. Er texte und
komponierte ein neues Lied, "Stille Nacht, heilige
Nacht". Er sang es auch selbst am Weihnachtsabend zusammen
mit dem Organisten, einem jungen Lehrer. Er sang Tenor, und der
Lehrer übernahm den Baß. Der Pfarrer begleitete das Ganze auf
der Gitarre. Das Lied wurde schnell bekannt. Nur 30 Jahre später
hatte es bereits der Domchor in Berlin in sein Repertoire
aufgenommen und sang es regelmäßig im Schloß vor dem König.
Zu dieser Zeit, 30 Jahre später, war der Hilfspfarrer noch immer
Vikar und starb an Tuberkulose. Hörer und Sänger kümmerten
sich nicht um den Urheber des Liedes. Sie forschten zwar nach den
Urhebern. Der preußische König ließ extra Nachforschungen
anstellen. Aber die Menschen in ihrem Alltag sahen sie nicht. Sie
sangen das Lied zudem in einer verkürzten Fassung. Sie ließen
wichtige Verse ließen weg. Heute kennt kaum noch jemand die
übergangenen Strophen. Dabei sind sie gerade die wichtigen. Sie
gelten den armen Leuten an der Salzach im Jahre 1818 wie den
Kranken, Schwachen, Alten und Jungen des Jahres 1998 und noch
später auch denen des Jahres 2000. Eine der vergessenen Verse
lautet:
"Stille Nacht, heilige Nacht,
wo sich heute alle Macht
väterlicher Liebe ergoß
und als Bruder huldvoll umschloß
Jesus die Völker der Welt,
Jesus die Völker der Welt".
Diese einfachen Reime benennen implizit das Ziel des Besuches von
Gabriel bei Maria. Gott startet mit seinem Sohn eine Initiative,
um der Welt in Liebe zu begegnen. Er tut das ganz unspektakulär.
Später wird man sagen: ohne öffentlichen Countdown vor
laufenden Fernsehkameras, wie es dann die Menschen von der NASA
her gewöhnt sein werden. Das wird manche dann veranlassen, an
dem Ganzen zu zweifeln; andere werden feiern, weil alle Jahre
wieder dieses Fest so schön ist. Aber es wird auch welche geben,
die Hilfspfarrer und Lehrer in einer kleinen unbedeutenden
Gemeinde sind.
Ich meine: Gott nimmt uns Menschen ernst, so wichtig, daß er
eingreifen will und einen seiner Chefengel schickt.
Ich freue mich deshalb, möchte darum in einigen Tagen mit Bach
singen: "Jauchzet, frohlocket! Auf preiset die Tage"
und frage mich heute, wie übrigens Bach auch nach seinem
Jubelruf, indem ich mit ihm zusammen singe: "Wie soll ich
dich empfangen?"
Amen
Lied: Wie soll ich dich empfangen?
Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach / Göttingen
Email: unembac@gwdg.de
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