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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

23. Sonntag nach Trinitatis, 26.10.2008

Predigt zu Genesis (1. Buch Mose) 18:20-21.22b-33, verfasst von Claudia Bruweleit

Liebe Gemeinde!

Es gibt Orte, deren Verwüstung schreit zum Himmel. Als hätte dieser ein Einsehen haben müssen, um das Schlimmste zu verhindern. Sie quälen die Betrachter mit dem Leid derer, die dort zugrunde gingen. Bilder zerstörter Kirchen aus dem Inferno der Luftangriffe des Zweiten Weltkrieges stehen mir vor Augen. Die brennenden Türme der Lübecker Marienkirche Palmsonntag 1942 in einem Trümmermeer. Die Ruinen der Kathedrale von Coventry mit dem Schriftzug: „Father Forgive" hinter dem Altarkreuz aus verkohlten Dachbalken. Die zerstörte Frauenkirche in Dresden. Diese Bilder verlieren selbst nach vielen Jahren nichts von ihrer Kraft. Sie drängen dazu, die Geschichte zurückdrehen zu wollen ungeachtet der eigenen Schwachheit als Sterbliche, die darüber hinaus zu spät geboren sind, um irgend etwas verhindern zu können.

Ein Bild der Verwüstung ganz anderer Art bietet sich in Israel dem Betrachter:

Hinter dem Felsplateau der judäaschen Wüste, wo der Jordan in den Syrischen Graben fließt, hört alles Leben auf. Dort liegt einen Binnensee, der den tiefsten Punkt der Erdoberfläche markiert: 394 m unter Normal Null. Die Sonne brennt gnadenlos und die Verdunstung ist so hoch, dass das zurückbleibende Salz beinahe alles Leben verhindert. Ein ungastlicher Ort. Dennoch hat man auf dem Boden des Meeres Spuren einer Besiedelung nachgewiesen. Einmal muss es dort Städte gegeben haben. In der Bronzezeit war selbst dort Leben, danach nie mehr. Die Menschen von damals bis heute haben diesem See unterschiedliche Namen gegeben: Salzmeer heißt es in der Bibel oder Wüstenmeer, mortuum mare nannten es die Römer, Asphaltmeer steht bei Josephus, und Teufelsmeer bei den Kreuzfahrern. In unserer Sprache nennen wir es das Tote Meer.

Nomen est omen. Die Namen sprechen für sich. Diesen Ort scheint alles Leben zu fliehen. Selbst die Fische auf der berühmten Mosaikkarte von Madeba machen kehrt, bevor sie über den Jordan dieses Meer berühren.

Alle Namen künden von einer zur Gewissheit werdenden Vermutung der Nachfahren: hier muss einmal etwas passiert sein, das einem Gottesgericht gleicht. Meer von Sodom sagen die Rabbinen, und damit ist auch deutlich, welche Städte nach den Erzählungen der Bibel hier einmal lagen: Sodom und Gomorra.

Ihre Gottesferne ist sprichwörtlich geworden, genauso das Gericht Gottes, das die Städte vernichtete.  Die  Bibel dreht für uns in Gedanken die Uhr der Geschichte zurück bis zu dem Moment, da der Untergang erst am Horizont aufschien. Gier und Hochmut schlugen mit den Stimmen ihrer Opfer himmelwärts, so dass Gott herabstieg, um selbst nach dem Rechten zu sehen und die Menschen dort zu richten.

Dort auf dem Felsplateau mit dem Blick auf die Tiefe, in der die Städte noch voller Leben in der Talsohle liegen, entsteht die Bühne für einen der größten Dialoge der Weltliteratur: Abraham feilscht mit Gott um das Überleben der Menschen in Sodom und Gomorra. Doch hören Sie selbst:

Text: 1. Mose 18,20-21. 22b-33

Und der HERR sprach: Es ist ein großes Geschrei über Sodom und Gomorra, dass ihre Sünden sehr schwer sind.

21 Darum will ich hinabfahren und sehen, ob sie alles getan haben nach dem Geschrei, das vor mich gekommen ist, oder ob's nicht so sei, damit ich's wisse.

22(...) Aber Abraham blieb stehen vor dem HERRN

23 und trat zu ihm und sprach: Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen?

24 Es könnten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein; wolltest du die umbringen und dem Ort nicht vergeben um fünfzig Gerechter willen, die darin wären?

25 Das sei ferne von dir, dass du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, so dass der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose! Das sei ferne von dir! Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten?

26 Der HERR sprach: Finde ich fünfzig Gerechte zu Sodom in der Stadt, so will ich um ihretwillen dem ganzen Ort vergeben.

27 Abraham antwortete und sprach: Ach siehe, ich habe mich unterwunden, zu reden mit dem Herrn, wiewohl ich Erde und Asche bin.

28 Es könnten vielleicht fünf weniger als fünfzig Gerechte darin sein; wolltest du denn die ganze Stadt verderben um der fünf willen? Er sprach: Finde ich darin fünfundvierzig, so will ich sie nicht verderben.

29 Und er fuhr fort mit ihm zu reden und sprach: Man könnte vielleicht vierzig darin finden. Er aber sprach: Ich will ihnen nichts tun um der vierzig willen.

30 Abraham sprach: Zürne nicht, Herr, dass ich noch mehr rede. Man könnte vielleicht dreißig darin finden. Er aber sprach: Finde ich dreißig darin, so will ich ihnen nichts tun.

31 Und er sprach: Ach siehe, ich habe mich unterwunden, mit dem Herrn zu reden. Man könnte vielleicht zwanzig darin finden. Er antwortete: Ich will sie nicht verderben um der zwanzig willen.

32 Und er sprach: Ach, zürne nicht, Herr, dass ich nur noch einmal rede. Man könnte vielleicht zehn darin finden. Er aber sprach: Ich will sie nicht verderben um der zehn willen.

33 Und der HERR ging weg, nachdem er aufgehört hatte, mit Abraham zu reden; und Abraham kehrte wieder um an seinen Ort.

Abraham ist ein Mann, so recht nach dem Herzen Gottes. Er fragt nach Gottes Wegen. Er lässt sich bewegen vom Geschick der Menschen, denen er begegnet. Abraham tritt vor den Herrn mit einer Mischung aus Kühnheit und Vertrautheit. Er redet von dem, was sein Herz bewegt: die Menschen in den Städten Sodom und Gomorra. Besonders das Schicksal der Gerechten und das Ansehen Gottes als rechter Richter: „Willst du", sagt Abraham, „diese Stadt verderben, wegraffen, alle, auch die Guten mit den Schlechten? Vielleicht gibt es ja, inmitten der Stadt nicht doch - sagen wir - fünfzig Gerechte?" Die Uhr wird noch einmal angehalten für die verdorbene Stadt.

50 Gerechte. Abraham beginnt bescheiden. Es sind nicht 1000 oder 100, es sind 50, gerade mal eine Mannschaft, nicht einmal die Größe einer Kompanie. Lächerlich wenige im Vergleich zu der Zahl der Einwohner einer Stadt.   Unerträglich viele jedoch für den, der das Verderben heraufziehen sieht am Horizont. Gingen sie mit den Schlechten unter, dann gäbe es keinen Unterschied zwischen gut und böse, dann wäre der Gerechte wie der Schlechte behandelt, so argumentiert Abraham gegenüber Gott.

Nicht die Ungerechtigkeit der Stadtbürger, sondern die Gerechtigkeit Gottes steht auf dem Spiel, der nicht zulassen kann, dass unbescholtene Gott-Getreue umkommen mit den anderen.

Alles zielt auf Gottes Antwort. Und sie kommt. Unmittelbar. Sie nimmt den Sprachrhythmus Abrahams, diesen gehetzten Zweierrhythmus,  auf und sagt: Finde ich fünfzig Gerechte zu Sodom in der Stadt, so will ich um ihretwillen dem ganzen Ort vergeben.

Gott ist bereit, sich dem guten Wort zu öffnen, das  Abraham für die Stadt einlegt. Er zeigt sich als mitfühlender Richter, nicht als unberührter Weltenlenker. „Ja, nur zu gerne vergebe ich allen", so schallt es Abraham entgegen. Doch der wird ob des schnellen Erfolges unsicher. „Was, wenn es nicht fünfzig gibt? Was, wenn es nur einen weniger als fünfzig Gerechte gibt?" Um sicher zu sein, tritt er noch einmal vor Gott. Demütig. „Ich bin ja eigentlich nur Staub und Asche. Und dennoch nehme ich mir heraus, das Wort an dich zu richten. Vielleicht finden sich dort nur 45". Und Gott antwortet: „So soll es sein. Ich will nicht verderben, wenn es dort nur fünf und vierzig gibt."

Atemberaubend ist die innere Freiheit, mit der Abraham Gott selbst entgegen tritt. Sein Vertrauen in die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes. Keine Angst vor Zurechtweisung. Er tritt Gott sehr nahe in diesem Moment und der lässt ihn an sich heran. Ja, der mächtige Gott scheint, so stellt es die Bibel dar, das Gespräch mit Abraham regelrecht zu suchen. Er will, dass den Menschen geholfen werde, dass es einen Weg gibt zurück in die Gottesnähe für die Menschen dieser Stadt. Er will sehen, ob er sie nach seiner Barmherzigkeit richten könne, ob es etwas gibt, das für sie spricht, von dem sich sein Herz bewegen lässt. Er sucht und findet in Abraham einen Anwalt der Verklagten.

So feilscht Abraham um die Seelen der Verdammten und Gott folgt ihm bereitwillig in seinen Zugeständnissen. Aus den fünfundvierzig Gerechten werden dreißig, zwanzig,  fünfzehn, zehn. Je weniger sie werden, desto größer wird die Last auf den Schultern Abrahams, der ahnt, dass sein Unterfangen vermessen und vielleicht doch aussichtslos ist. Die Gottesferne, das Menschenverachtende in dieser Stadt könnte so weit um sich gegriffen haben, dass ein gottgerechtes Leben unmöglich wurde in dieser Stadt und die Guten geflohen, erdrückt, verwandelt sein könnten.  Bei Zehn hört er auf. Ein siebtes Mal wagt er nicht, mit Gott zu feilschen. Sieben ist die Zahl der Vollendung, die steht nur Gott zu.

 

Noch einen anderen Grund gibt es, warum Abraham bei der Zahl Zehn aufhört zu fragen: Zehn ist die mindeste Anzahl jüdischer Männer, die für die Feier eines Gottesdienstes in der Synagoge nötig waren. Das Minimum des Lobes an den Herrn der Welten. Zehn Gerechte - weniger ist nicht genug, um das Übel aufzuwiegen. Sind weniger Personen in der Stadt, so sind es nur Einzelne, sie können nur als Einzelne gerettet werden. Das Lob Gottes kann nicht mehr gesungen werden, wenn sich nicht zehn Männer dazu zusammenfinden. Die jüdische Gemeinde in Sodom und Gomorra ist tot. Ihr Schicksal ließ sich nicht aufhalten. Warum erzählt die Bibel uns solche Geschichten? Sie macht deutlich, dass es nicht im Sinne Gottes war, die Menschen dieser Städte zu verderben. Er tat, was er konnte, um die Folgen aufzuhalten. Er ist den Menschen dieser Stadt sehr weit entgegen gekommen. Sie gemahnt die Nachkommen Abrahams im Glauben daran, den rechten Weg nicht zu verlassen.

 

Vor allem aber malt sie gegen alle Erschütterung über Verwüstungen das Bild eines zugewandten, aufmerksamen Gottes mit dem unbedingten Willen zur Vergebung. Auch wenn wir Menschen uns die Verwüstungen nur als Gericht Gottes vorstellen können - hier wird uns nahe gelegt, in Gott nicht den ungerührten Weltenlenker zu suchen, sondern den mitfühlenden gerechten Richter, der nichts lieber täte, als sein Vorhaben einzustellen, wenn er nur einen Grund findet, der für die Menschen spricht[i]. Zu dem wir kommen dürfen mit unserem Gebet. Sie stellt uns mit Abraham einen Mann vor Augen, der mit Gott redet wie mit einem Freund und sich vom Schicksal der Menschen bewegen lässt zu eindringlicher Fürbitte bei Gott. Zur Nachahmung empfohlen. Sie spricht von der Macht des Gebetes, Gottes Barmherzigkeit zu erwirken gegen allen Augenschein - wer weiß, welche möglichen Wüsten dadurch lebendig geblieben sind, dass Menschen sich für die Stadt und ihre Bewohner verwandt haben wie einst Abraham.

 

Auch die meisten Stätten der Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges sind mit neuem Leben erfüllt. In der Marienkirche zu Lübeck künden nur noch die herabgestürzten alten Glocken von der Gewalt des Krieges. In Coventry erhebt sich neben den Ruinen eine neue Kathedrale, doch der alte Altar und die Inschrift sind geblieben und dort finden wöchentlich Friedensgebete statt.

In Dresden ist die Frauenkirche zu einem Symbol der Hoffnung für die Stadt und weit darüber hinaus für die Menschen der neuen Bundesländer geworden. Seit 2005 versammelt sich unter der neuen Kuppel des prachtvollen Barockbaus die hörende, betende und singende Gemeinde. In dem Bewusstsein, dass sie Gott am Herzen liegt. Ein ehrenamtlicher Kirchenführer erzählte in diesen Tagen mit großer Wärme und Dankbarkeit davon, wie der Gedanke zum Wiederaufbau sich 1990 in den Herzen einiger weniger Raum schuf und wie seitdem Menschen aus aller Welt dazu beigetragen haben, dass diese Kirche wieder aufgebaut werden konnte. Im Gottesdienstraum erinnern der gebrochene Altar und das aus den  Trümmern geborgene, geschwärzte Kuppelkreuz der alten Frauenkirche an die Wüste der Zerstörung und zeugen von Jesus Christus, jenem späten Nachkommen Abrahams. In ihm findet seine Gemeinde den einzigen Gerechten, der es vermocht hat, die Gottesferne auszuhalten und sie ein für allemal aufzuheben für uns alle. Und das ist schon wieder eine neue Geschichte - unsere Geschichte mit dem Gott Abrahams, der nicht ein Gott der Toten ist, sondern der Lebenden. 


[i] Wesentliche Anregungen verdanke ich Michael Heymel, Zehn Gerechte sind mehr als eine verdorbene Stadt, in GPM 62, 438-444



Pastorin Claudia Bruweleit
Kiel
E-Mail: bruweleit@heiligengeist-kiel.de

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