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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

19. Sonntag nach Trinitatis, 18.10.2009

Predigt zu Markus 2:1-12, verfasst von Jochen Arnold

Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt...
Sicher kennen die Meisten von Ihnen diesen alten Schlager aus den 30er Jahren, liebe Gemeinde. „Und wenn die ganze Welt zusammenfällt", so heißt es da, dann hält er, dann halten sie - die guten Freunde - zu dir. Ist da was dran, oder ist das nur Junggesellenromantik?
Hören wir heute auf eine Geschichte mitten aus dem Leben oder besser: eine Geschichte, die davon erzählt, wie das Leben neu beginnt. Sie berichtet davon, was Freundschaft bewegen kann und noch eine ganze Menge mehr:
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Nein, bei ihm war die Welt nicht in Ordnung, immer wieder ist seine kleine Welt sogar förmlich in sich zusammen gefallen. Gelähmt war er von Kindesbeinen an, ein Krüppel, wie die Leute abfällig sagten. Immer wieder hat er das Aufstehen versucht und ist umgefallen, immer wieder hat er das Gehen versucht und ist bitter gescheitert. „Er muss das tragen, was seine Eltern oder Großeltern an Schuld auf sich gehäuft haben." Sagt man. Und er? Hat er resigniert? Nein, er hat fast alles Menschenmögliche versucht. Die mühsame Reise an den fernen Teich Bethesda in Jerusalem, ein Besuch bei einem samaritanischen Wunderheiler und einem griechischen Medicus, immer wieder vergebens. Das Einzige, was ihm in all den Jahren geblieben ist, sind ein paar Freunde in seinem Dorf am See Genezareth. Sie bringen ihm zu Essen, besorgen Kleider, sprechen ihm auch das eine oder andere Mal Mut zu.

Eines Tages klopfen sie mal wieder an seine Tür. „Der Heiler aus Nazareth ist wieder da, er predigt in Kapernaum. Du musst unbedingt mitkommen!" „Aus Nazareth?" Ungläubig starrt er die Freunde an. „Ja, doch gewiss!" „Die Leute erzählen, dass er schon einen Aussätzigen geheilt habe und auch eine Stumme und Blinde und Besessene." „Aber wie soll ich denn mitkommen, das ist viel zu weit. Ihr könnt mich nicht den ganzen Weg tragen." „Doch, wir packen dich auf eine Trage.
Jeschua, Jesus heißt er, wenn das kein gutes Vorzeichen ist. Helfer, Retter..."
Ohne besondere Begeisterung lässt er sich mitnehmen auf den Weg ins Nachbardorf.

Und schon, liebe Gemeinde, sind sie in Bewegung. Wenn gute Freunde mitzupacken und Mut machen, dann ist Veränderung in unserem Leben möglich. Das ist die erste - zugegeben recht schlichte - aber umso einleuchtendere Erfahrung unserer Geschichte. In Situationen der Mutlosigkeit brauchen wir diesen Zuspruch. Aber damit ist noch nicht alles gewonnen.
Als sie vor Ort sind, ist ihre Enttäuschung zunächst groß. Schon seit den frühen Morgenstunden drängen sich die Menschen in einem Haus zusammen, das beinahe aus allen Nähten platzt. Heute schüttet es wie aus Kübeln, Jesus kann nicht draußen predigen. Da ist guter Rat teuer. Die Leute wimmeln die Freunde ab. „Was wollt ihr denn mit dem Krüppel, kommt ein ander Mal, wir verstehen doch so schon kaum, was er sagt." Schon sind sie versucht, ihren Plan zu verwerfen, ihren Freund zu Jesus zu bringen. „Morgen ist auch noch ein Tag" denkt einer, „es ist jetzt einfach kein günstiger Augenblick, wir versuchen es, wenn er wieder im Ort ist, dann sind wir rechtzeitig da", überlegt ein Anderer. Aber der Dritte sagt: „Egal Leute, kommt, wir machen das von oben." „Von oben?" fragen die Anderen verwundert. „Na klar, wir machen das Dach auf und lassen ihn dann runter."  „Die reißen uns den Kopf ab!" - „Nein, tun sie nicht. Und wenn schon. Er heißt Jesus: Helfer und Retter. Er wird uns nicht wegschicken und unseren Freund schon gar nicht."

Und dann kommt es zu der Szene, die wir vermutlich alle seit unseren Kindertagen kennen: Die mutigen Freunde werden belohnt. Langsam schwebt er an vier kräftigen Seilen hinunter direkt Jesus vor die Füße. Natürlich bleibt die freche Grenzüberschreitung nicht ohne Echo.
Aber anders als gedacht: Die erste Überraschung, vielleicht sogar ein kleines Wunder:
Die Empörung der Leute bleibt aus. Keiner beklagt sich, schreit, wettert: „Was macht ihr denn da? Ihr könnt doch nicht einfach das Strohdach abdecken! Das ist Sachbeschädigung..." Nein, wie in einem guten Film, fährt Markus die Kamera von den perplexen Gesichtern der Leute ganz auf die Begegnung zwischen dem Gelähmten und Jesus. Und Markus tut noch mehr, er zeigt uns etwas, was der Außenblick (der Erzählkamera) nicht erfasst. Für einen Moment dürfen wir Jesus ins Herz schauen: Als er ihren Glauben sah... (Pause)
Ist das nicht großartig, liebe Gemeinde? Die beherzte Tat der Freunde ist nicht nur ein Freundschaftsbeweis, sondern ein Glaubenszeugnis; und sie bewegt Jesus im Innersten.
Ihren Glauben" heißt es da. Nicht: „seinen Glauben". „IHR Glaube" richtet etwas aus. Glaube ist nicht nur Privatsache, sondern auch Angelegenheit einer Gemeinschaft. In diesem Fall, sind es die Freunde des Gelähmten, die stellvertretend für ihren Freund glauben und damit all das in die Wagschale werfen, was er an Benachteiligung in seinem Leben erlitten hat.

Dann erreicht die Geschichte ihren zweiten (inneren) Höhepunkt:
 „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!" ruft Jesus dem Kranken zu. Er weiß gut, dass das eine unerhörte Aussage ist. Unerhört - weil un-gehört und un-gehörig, da Gott allein das Vergeben der Sünde gehört. So denken jedenfalls die Schriftgelehrten und ärgern sich, ja sind empört: Gotteslästerung ist das!
Über die Reaktion des Gelähmten erfahren wir nichts. Ist er einen Moment enttäuscht? (Schon wieder keine Heilung?) Bekommt er Angst und spürt den nahenden Konflikt Jesu mit den Juden? Oder freut er sich einfach dankbar über diese unerhörte Zuwendung, die ihn bis jetzt kein Mensch, kein Heiler und kein Medicus haben erfahren lassen?

[Wir wissen es nicht, wir erfahren nur etwas über die Reaktion Jesu, der sich prompt mit seinen Kritikern auseinandersetzt, deren innerste Gedanken er lesen kann.  Die gut gemeinte diakonische Aktion der Freunde nimmt eine überraschende Wendung. Jesus sucht geradezu den Konflikt mit den Pharisäern und Schriftgelehrten. Markus inszeniert damit eine Vorgeschichte zur Passion, zum Prozess vor dem Hohen Rat, bei dem Jesus genau dasselbe auch vorgeworfen wird: Gotteslästerung. Blasphemie.  Doch Gott sei Dank bleibt es nicht dabei. Die Geschichte endet nicht mit einem Eklat, sie kommt an ihr gutes Ziel.]

Erinnern wir uns: Zwei Wunder sind schon geschehen: Freunde haben es geschafft - trotz erheblicher Hindernisse - zu Jesus vorzudringen. Sie haben mit ihrem Glauben keine Berge versetzt, aber menschliche Mauern übersprungen. Sie haben ein Dach abgedeckt und gehört, dass Jesus das erfüllt, was sein Name als Programm vorgibt. Er vergibt, er hilft Menschen über das hinweg, was sie von Gott trennt. Sie spüren:
Auch Jesus überschreitet damit Grenzen. Die Grenzen dessen, was ein Mensch - ein „Nur-Mensch" - eben so kann. Nicht nur zwischenmenschliche, bürgerliche Grenzen, sondern Grenzen zwischen Himmel und Erde lässt er verschwinden.

Viel zu schnell, liebe Gemeinde, gehen wir oft über diese grandiose Perspektive hinweg: Jesus macht dem ein Ende, was uns in unserem Leben von Gott trennt. Nehmen wir es nicht als Selbstverständlichkeit! Es nicht einfach Jesu Job, gnädig zu sein und zu vergeben. Er macht es, weil er uns - jeden Einzelnen von uns - liebt, weil er unsere Bedürftigkeit sieht. Er packt das Übel bei der Wurzel und tut etwas, was bis heute für Juden und Muslime höchst anstößig ist: Er vergibt Sünde.  [Ein Imam sagte mir das im persönlichen Gespräch vor längerer Zeit schon. „Das ist für uns undenkbar!" Und die Tatsache, dass im christlichen Gottesdienst beim Abendmahl oder bei der Beichte immer wieder ebenfalls Sündenvergebung ausgeteilt wird, war für ihn noch viel anstößiger.]
 Sünde zu vergeben, Menschen von ihrem Beziehungsproblem mit Gott zu befreien, das ist etwas so Großes, dass man es nicht genug rühmen kann. Hier geschieht es exemplarisch an einem kranken, benachteiligten Menschen. Noch nicht für Alle. Man könnte sogar kritisch fragen: Und was ist mit den Freunden? Gehen sie leer aus? Werden sie nicht belohnt?

Nun, ihnen hat sich die Botschaft Jesu möglicherweise erst viel später erschlossen. Vielleicht haben sie ja bald danach zu seinen Nachfolgern oder nach Pfingsten zur christlichen Gemeinde gehört. Wir wissen es nicht.
 Doch unter dem von ihnen abgedeckten Dach werden sie nicht enttäuscht. Ihr beherzter Glaube und ihre diakonische Tat verpuffen nicht ohne Reaktion: „Steh auf, nimm dein Bett und geh!" ruft Jesus dem Gelähmten zu. Und da passiert es! Sie trauen ihren Augen kaum und fallen sich glücklich in die Arme: Ihr Freund kann gehen, etwas wackelig zunächst, doch dann immer sicherer. Damit passiert das dritte Wunder, das die Menge in Furcht und Freude, in Erschütterung und dankbaren Jubel versetzt. Auch die Freunde sind begeistert. Ihr Glaube an Jesus und ihre Liebe zum Freund sind nicht enttäuscht worden.
Jetzt könnte ich oder besser Sie „Amen" sagen, aber das kommt mir zu früh vor...

Denn was wäre, wenn wir diesen Schluss nicht überliefert bekommen hätten? Wenn Jesus dem Mann „nur" die Sünden vergeben, ihn aber nicht auch geheilt hätte? Dann würde der Geschichte etwas fehlen, gewiss. Dann würde nicht in derselben Leuchtkraft die Programmatik des Markus deutlich, der uns sagt: Jesus rettet und heilt. Er ist Erlöser und Neuschöpfer: zum Reich Gottes gehört das volle Programm: Heil und Heilung für Leib, Seele und Geist.

Aber was machen wir damit, hier und heute? Was ist mit den Menschen (unter uns), die nicht gesund werden? Haben sie nicht genug Glauben? Oder fehlen ihnen einfach die richtigen Freunde, die an ihrer Stelle glauben? In der Tat sollten wir Letzteres nicht gering schätzen. Und dennoch: Es wäre bitter, wenn wir - im Blick auf unsere Beziehung zu Gott - auf Menschen angewiesen wären. Denn Menschen, das wissen wir, können enttäuschen, auch gute Freunde, die mit einem (vermeintlich) durch dick und dünn gehen. Wir brauchen mehr:

Wir brauchen nicht nur Menschen, wir brauchen auch Gott an unserer Seite. Wir stehen heute - wunderbaren Heilungen, die ich gar nicht abstreiten will, zum Trotz - vielfach an dem Punkt in der Geschichte, an dem die Sündenvergebung zugesagt worden ist aber die Heilung des Freundes noch nicht stattgefunden hat: Das umfassende Heilwerden der Welt als neue Schöpfung steht noch aus, die umfassende Versöhnung der Welt in Christus aber hat Gott schon jetzt für uns gewirkt. Damit sind wir weiter als die Jünger und die Freunde des Gelähmten damals waren, wenn auch noch nicht am Ziel.

Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt, selbst wenn die Welt zusammenfällt." Stimmt. Letztendlich genügt ein einziger guter Freund. Der, in dessen Herz wir für einen Moment schauen durften: Jesus Christus. Er hat sein Leben für die Freunde gelassen. Bei seinem Tod hat die Erde gebebt, alles bisher Dagewesene ist so aus den Fugen geraten, dass die alte sündige Welt in sich zusammengefallen ist.
Sein liebender Blick ist heute auch auf dich gerichtet: „Deine Sünden sind dir vergeben! Du bist ein freier Mensch. Ein Kind Gottes!"

Schließen wir mit einem wunderbaren Bild, das die Geschichte selbst uns gibt. Da wird auch über uns ein Dach abgedeckt und der Blick nach oben frei. Welch eine Perspektive, liebe Gemeinde. Und welch ein tiefer Sinn. Der Himmel von Kapernaum ist Abbild, Heilszeichen für den geöffneten Himmel Gottes. Heute und hier. Schau hin. Das Fenster zum Himmel ist offen! Glaube daran und du wirst leben. Amen.

Lied nach der Predigt: EG 357 oder 358
 



PD Dr. Jochen Arnold
Hildesheim
E-Mail: Jochen.Arnold@michaeliskloster.de

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