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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Neujahrstag 2010, 01.01.2010

Predigt zu Jakobus 4:13-15, verfasst von Wolfgang Vögele

„Und nun ihr, die ihr sagt: Heute oder morgen wollen wir in die oder die Stadt gehen und wollen ein Jahr dort zubringen und Handel treiben und Gewinn machen -  und wißt nicht, was morgen sein wird. Was ist euer Leben? Ein Rauch seid ihr, der eine kleine Zeit bleibt und dann verschwindet. Dagegen solltet ihr sagen: Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun."

Liebe Gemeinde,

„Was ist euer Leben?", heißt die Kernfrage.

Und es antwortet, passend zum Neujahrstag, ein Briefschreiber der ersten christlichen Zeit. Er denkt mit uns nach über Handeln und Hoffen, über Glück und Gott, über Gewißheit und Gegenwart.

Die Einsichtigen und Vorsichtigen unter uns mag am ersten Tag des Jahres auch die Ungewißheit der Zukunft im Herzen bewegen. Wer sich bewußt ist, was in der Vergangenheit geschehen konnte, der denkt mit ein klein wenig Bangigkeit an das, was das kommende Jahr bringen wird.

Kinder kennen, was die Zukunft angeht, solche Ungewißheit noch nicht. Sie leben und spielen unbefangen von einem Tag zum andern. Sie wissen, was sie mögen, nämlich Schokoladenkekse, Spielenachmittage mit dem Großvater und die Bettgeschichte vor dem Einschlafen. Und sie wissen, was sie nicht mögen, nämlich Broccoli und Spinat, Hustensaft und langweilige Feriennachmittage.

Kinder leben in den Tag hinein: Zwar entwickeln sie sich und sie wachsen mit atemberaubender Geschwindigkeit, aber das ist ein Prozeß, der Kindern nicht ins Bewußtsein kommt. Patenonkel, Großmütter und weit entfernt lebende Tanten bemerken dieses Wachstum um so genauer. Mein Gott, wie groß du geworden bist, rufen sie entgeistert aus, wenn sie zum dritten Geburtstag anreisen und den Kleinen für ein ganzes oder halbes Jahr nicht gesehen haben.

Aber diesen Satz verstehen kleine Kinder noch nicht, denn sie machen sich über die Zukunft keine Gedanken. Sie denken nicht ans Abitur, wenn sie in die erste Klasse kommen. Sie denken nicht an das Konzertdebut, wenn sie die erste Klavierstunde erhalten. Und sie fragen auch am Anfang des Schuljahres nicht groß danach, wann wieder Ferien sein werden.

Das Bewußtsein von Zukunft, Dauer und Zeiträumen ist Menschen nicht angeboren, sie müssen es erst im Laufe des Erwachsenwerdens entwickeln. Je älter Menschen werden, desto genauer kommt ihnen der kleiner werdende Raum der Zukunft in den Blick. Der frisch mit dem Bachelor oder Master dekorierte Student stellt sich die Frage, welchen Beruf er nach seinem Examen ergreifen will. Er macht sich an die Karriereplanung. Paare stellen sich in langen Gesprächen am Küchentisch die Frage, wann sie eine Familie gründen und Kinder bekommen wollen. Sobald die Fünfundvierzigjährigen im Spiegel die ersten Falten um die Augen herum entdecken, taucht die bedrängende Frage auf: Wie viele Jahre bleiben mir noch?

Der Zukunftsraum will gestaltet und geplant sein: Familie, Karriere, Alterssicherung, aber auch Kreativität und Genuß sollen darin ihren angemessenen Ort finden. Aber niemand bestimmt allein, wie sich seine Zukunft gestaltet. Nicht nur ich selbst plane Zukunft, sondern auch die anderen. Manchmal stimmen meine Pläne mit denen von anderen, die mir wichtig sind, überein, manchmal aber kollidieren diese Pläne auch. Zukunft ist nicht das Ergebnis meiner Planungen, sondern Zukunft kommt heraus, wenn viele Pläne machen, die einander widersprechen können.

Andere Faktoren, die Zukunft bestimmen können, kommen hinzu: die Umstände, die Zeitgeschichte, die Gesellschaft, die Politik, die biologische und genetische Ausstattung, der Zufall und das Schicksal. Wer anfängt, darüber nachzudenken, der bemerkt mit leisem Erschrecken, daß niemand allein am hilfreichen Geländer seiner Planungen in die Zukunft hinein geht. Zwar gibt es diese Geländer, aber der Boden der Umstände schwankt, und ich kann mich nicht darauf verlassen, daß ich den Griff am stützenden Rohr behalte. Manchmal muß ich loslassen, weil alles so heftig in Bewegung geraten ist, daß ich keine Kraft mehr habe, meinen Plänen zu folgen.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr merke ich: Vielleicht lohnt es sich gar nicht, die Zukunft zu planen, weil jeder Plan von den Umständen zerstört werden könnte. Der gelassene Beobachter kann dann sagen: Ich nehme es, wie es kommt. Aber genau darin liegt das Problem.

Wer zwischen den Jahren vor dem Weihnachtsbaum bei einem Glas Rotwein über sein Leben nachdenkt, der steht in Gedanken vor einer dunklen Mauer, einer Wolke aus Ungewißheit. Niemand weiß genau, was das nächste Jahr für ihn bringen wird. Die nächste Krise. Die nächste Katastrophe. Der nächste Anschlag. Der nächste Rückschlag. Es hört nie auf, und es läßt sich nicht vorherberechnen.

Die Glücksgöttin Fortuna wurde nicht ohne Grund mit verbundenen Augen dargestellt. Sie verteilt Zukunft wahllos, einmal mit vollen, einmal mit fast leeren Händen, Glück und Unglück in Überdosis oder Unterversorgung. Manchmal ist es ein Gutschein, manchmal ist es eine Niete. Wer die Empfänger sind, das interessiert Fortuna nicht. In den berühmten, von Carl Orff vertonten Carmina Burana heißt es: Das Glück ist die Kaiserin der Welt, aber sie ist so wechselhaft und veränderlich wie der Mond.

Auf der Schwelle zum neuen Jahr wirken solche Gedanken beunruhigend und bedrängend, fast verstörend. Man hat deswegen Gegenmittel erfunden, die Auswirkungen solcher Ungewißheit zu lindern: Gute Vorsätze, Neujahrswünsche, knallendes Feuerwerk, das alle trüben Gedanken übertönt. Aber die fröhlichen Gegenmittel von Silvester kurieren nur an den Symptomen. Das stetigen Mißton bedrängender Ungewißheit beseitigen sie nicht.

Bevor ich nun den Jakobusbrief zu Hilfe nehme, suche ich zuerst einmal Rat bei einem norddeutschen Fabeltier. Der Esel der Bremer Stadtmusikanten beherrschte als Märchenfigur neben dem Eselsgeschrei auch die menschliche Sprache. Und sein auch für Menschen hilfreiches, regelmäßig wiederholtes Eselscredo lautete: Etwas Besseres als den Tod findest du überall.  Und am Neujahrstag rettet uns dieses Eselscredo vor allzu großer Zukunftsangst, vor der Zukunftsverzweiflung.

Der Autor des Jakobusbriefs spricht nicht die Zukunftszweifler an, sondern die Zukunftsplaner, die Existenzgründer, die Menschen, die die Businesspläne ihres Lebens als Powerpoint-Präsentation per Email verschicken können; diejenigen, die stets ihre Work-Life-Balance im Auge haben, die in Krisen- und Qualitätsmanagement geübt sind und sich an Jahresumsatz, Rendite und Gewinn vor Steuern orientieren. Sie tun das genau wie in ihrem Beruf auch im Privatleben. Sie sind die Brüder und Schwestern der Bauarbeiter am Turm von Babel und des reichen Kornbauern aus Jesu Gleichnis. Der erreicht zwar hervorragende Ernteerträge, den ereilt aber dessen ungeachtet der plötzliche Tod, vielleicht durch einen Herzinfarkt.

Jakobus will diejenigen warnen, die sich nur auf den Businessplan verlassen, egal ob er sich auf ein Startup-Unternehmen oder auf das eigene Leben bezieht. Auf der Schwelle, im Übergang vom Vergangenheitsraum des alten zum Hoffnungsraum des neuen Jahres, wird deutlich: Das Leben, besonders mein Leben richtet sich nicht nach den Plänen, die ich mir in übertriebener Bescheidenheit oder fortschreitendem Größenwahn dazu mache. Es ist von so vielen Faktoren abhängig, daß ich nicht einmal die nahe Zukunft berechnen kann. Das Leben ist wie das Wetter, aber noch viel komplizierter. Kein Wetterbericht und keine Zukunftsvision kann es vorhersagen. Und es kommt noch mehr dazu.

Am Ende des Predigtsabschnitts aus dem Jakobusbrief wird die Bedingung des Glaubens genannt, welche die Ungewißheit zwar nicht auflöst, aber doch relativiert. Es heißt: „Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun." Am Ende kommt es heraus: Unsere eigenen Planungen und Hoffnungen, Sehnsüchte und Befürchtungen, Absichten und Ziele werden in ein Verhältnis gesetzt zu den Plänen, Absichten und Zielen dessen, der die Welt geschaffen und erlöst hat.

Die Philosophie des Jakobusbriefs formuliert es in unhintergehbarer Schärfe: Wichtiger als unsere eigenen Pläne sind die Pläne Gottes. Man kann das, so ist zuzugeben, als Kränkung verstehen: Das Ich ist nicht Herr über sein eigenes Leben. Aber zur Kränkung wird dieser Satz nur, wenn der Mensch sich selbst auch zum Gott seines Lebens machen will, wenn er berechnen, planen, kontrollieren, alles in der Hand behalten will. Das zielt auf den Menschen, der sich selbst mit Zukunftsberechnungen gefangen hält. Der ängstliche Mensch hat um sich herum Mauern als Plänen und Befürchtungen aufgerichtet.

Man kann aber, das ist viel wichtiger, diesen Satz auch als eine Befreiung verstehen. Ich gebe die eigene Lebensgeschichte aus der Hand.

Und ich nehme die Hand Gottes, die er mir entgegenstreckt. Ich führe nicht mehr selbst, ich lasse mich führen. Ich kontrolliere nicht alles, weil ich weiß, daß ich schon längst gesegnet, schon längst getröstet und schon längst begnadigt bin. Ich befreie mich von meinen eigenen Planungen. Ich befreie mich von allen meinen Ängsten und Befürchtungen. Ich mache mir um die Zukunft keine Sorgen mehr. Denn ich weiß, meine Zukunft und meine Hoffnung liegen gemeinsam in Gottes Hand. Diesem biblischen Gott sind anders als der antiken Fortuna nicht die Augen verbunden. Und er verbindet sie auch nicht selbst. Gott sieht die Menschen gnädig an. Gott sieht die Menschen, aber die Menschen können umgekehrt Gott nicht sehen, er bleibt in einem Dunkel, das sich nur an Weihnachten lichtet. Gott sieht die Menschen gnädig an, weil er selbst zum Menschen geworden ist. Das Kind in der Krippe öffnet den Weg zu Gott, der sich bekannt macht. Er stellt sich vor als ein Gott der das Leben der Menschen will, der ihnen in Barmherzigkeit und Gnade entgegenkommt.

Im Lichte der Glaubensgewißheit verwandelt sich auch die Ungewißheit über das neue Jahr in - was soll man sagen? - lächelnde Heiterkeit, zuversichtliche Hoffnung. Beides speist sich aus dem Willen Gottes, der tiefer reicht als alle unsere Pläne. Das heißt nicht, daß wir keine Pläne machen sollen. Aber es könnte nötig sein, die Krücken der Pläne einfach wegzuwerfen und einfach mit den offenen Armen des Glaubens in die Zukunft zu gehen.

Wir werden dort freundlich erwartet.

Amen.



PD Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe
www.Christuskirche-Karlsruhe.de
E-Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de

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