Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Epiphanias, 23.01.2011

Predigt zu Johannes 4:46-53, verfasst von Paul Kluge


Liebe Gemeinde!

Nun kam er wieder nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser zu Wein gemacht hatte. Und in Kafarnaum war ein königlicher Beamter, dessen Sohn krank war. Als der hörte, dass Jesus von Judäa nach Galiläa gekommen war, ging er zu ihm und bat, er möge herabkommen und seinen Sohn heilen, denn der lag im Sterben. Da sagte Jesus zu ihm: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht. Der königliche Beamte sagt zu ihm: Herr, komm herab, bevor mein Kind stirbt! Jesus sagt zu ihm: Geh, dein Sohn lebt. Der Mann glaubte dem Wort, das Jesus zu ihm gesprochen hatte, und ging.

Ging den Weg zurück, den er gekommen war, den mühsamen Weg durchs Gebirge hinab zum See Gennesaret. Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten, er würde vor Einbruch der Dunkelheit sein Ziel nicht erreichen. Doch er wollte zurück, zurück zu seinem todkranken Sohn. Wollte ihm die Hand halten, den Schweiß von der Stirn wischen. Wollte vor allem bei ihm sein, wenn er -

Nein, das durfte nicht passieren, das würde nicht passieren. Hatte er nicht gerade gehört, dass sein Sohn lebe? Und hatte er dem Gehörten nicht geglaubt? Woher jetzt der Zweifel?

„Es ist wohl die tagelange Angst, die noch in mir ist", dachte er, „die Angst um diesen Jungen, meinen einzigen." Vor seinem inneren Auge tauchten Bilder auf, ungeordnete Bilder aus der Vergangenheit. Die fiebrigen Augen sah er, die nichts wahrnahmen, sah den Jungen sich in Fieberphantasien hin- und herwälzen, sah das schweißnasse Haar. Andere Bilder schoben sich dazwischen und darüber: Wie der Junge im Sand spielte, am Seeufer im flachen Wasser planschte, wie er versuchte, eine Taube zu fangen. An die ersten tapsigen Schritte seines Sohnes erinnerte er sich und an das erste Lächeln.

Tränen stiegen in ihm auf, er schluckte sie herunter. „Du hast dir viel zu wenig Zeit für dein Kind genommen", warf er sich vor, „deine Arbeit war dir wichtiger als dein Kind. Bald ist der Junge groß, und du kennst ihn kaum!" An diesem Gedanken merkte er, dass Hoffnung in ihm war, die Hoffnung, dass sein Sohn gesund würde. Diese Hoffnung beflügelte seinen Schritt, konzentriert und zügig ging er voran.

Dabei ging er noch einmal das Gespräch mit Jesus durch. Er war zu ihm gekommen, ihn um Hilfe zu bitten. Nach allem, was er bisher über Jesus gehört hatte, fand er die Reaktion Jesu auf seine Bitte enttäuschend, ja, geradezu empörend: „Wenn ihr keine Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht." - Was hatte das mit seinem Anliegen zu tun; ihm ging es nicht um Glauben, ihm ging es um die Gesundheit seines Sohnes. Hätte diese Sorge ihn nicht gequält und getrieben, er wäre auf der Stelle wieder gegangen. Oder hätte einen Streit angefangen. Diese Sorge aber hatte ihn veranlasst, sein Anliegen noch einmal und dringlich vorzutragen: Komm, bevor mein Kind stirbt!

„Und wenn . . . ", erschrak er, „und ich bin nicht bei ihm, sondern laufe einen ganzen Tag zu diesem Rabbi und lass mich erst einmal beschimpfen und erniedrigen. Dann lehnt er meine Bitte ab, mitzukommen. Behauptet, dass mein Junge lebt, und schickt mich weg. ‚Dein Sohn lebt' - das klang allerdings so überzeugt und überzeugend, dass ich voll Hoffnung und Zuversicht gegangen bin. Einerseits. Andererseits war mir klar: Mehr kriegst du hier nicht."

War es richtig gewesen, sich auf den Weg zu machen, seine Frau mit dem kranken Kind allein zu lassen, war es richtig gewesen, sich an diesen einen Strohhalm zu klammern? ‚Den geknickten Halm wird er nicht zerbrechen', fiel ihm Jesaja ein. Zwar wusste er, wen Jesaja damit meinte, er aber bezog dies Wort auf Jesus. Das gab ihm Halt, das richtete ihn aus seinen Zweifeln und Ängsten auf, und er konzentrierte sich wieder auf den Weg.

Der war steil und steinig, die Knie begannen zu schmerzen, und Durst machte ihm das Atmen schwer. Er nahm einen Schluck aus seinem Wasserbeutel. Warm war das Wasser und erfrischte ihn kaum. Etwas später - die Sonne stand schon ziemlich weit unter halber Höhe - hörte er Ziegen in den Felsen, hörte die Rufe eines Hirten. „Der wird die Tiere zum frischen Wasser führen", dachte der Vater und folgte den Tönen der Herde. Bald sah er, dass seine Vermutung stimmte und dass der Hirte ihn zu sich winkte.

Als sie einander begrüßt hatten, bot der Hirt ihm kühles Wasser an und ein Stück Brot, erkundigte sich nach dem Woher und Wohin. Der Vater erzählte von seinem kranken Jungen, von seiner Begegnung mit Jesus, erzählte von seinen Hoffnungen und Zweifeln. Mit Grunzlauten signalisierte der Hirt Verstehen und Verständnis. Dann, nach längerem Schweigen, sagte der Hirt: „Verlass dich auf das, was Jesus gesagt hat. Gib deinen Sohn nicht auf!" Nun begann der Hirt, ein kleines Feuer zu machen, und lud den Vater ein, mit ihm zu essen. „Bald wird es dunkel", bemerkte der Hirt, „bis Kafarnaum schaffst du es nicht mehr. Du kannst hier bleiben." Dabei wies er auf eine Höhle in den Felsen, darin einige wohnliche Gegenstände.

Bald nach dem Essen - der Vater steuerte frisches Obst aus seinem Beutel bei - legten sie sich schlafen. Ruhig schlief der Hirte, unruhig der Vater. Immer wieder weckten ihn die ungewohnten Geräusche, und immer wieder träumte er von seinem Sohn. Es waren Zukunftsträume, in denen er den Jungen als Halbwüchsigen sah, als jungen Erwachsenen gar, stark und strahlend. Diese Träume verwirrten ihn, doch sie machten ihm Mut und das Herz leichter.

Als die Morgenkälte ihn weckte, hatte der Hirt schon die Ziegen gemolken und Brot gebacken. Nach dem Frühstück verabschiedete der Vater sich, der Hirte sagte noch einmal: „Verlass dich auf das, was Jesus gesagt hat. Gib deinen Sohn nicht auf!", gab dem Vater noch frisches Brot und frisches Wasser mit auf den Weg und wand sich wortlos seiner Herde zu.

Trotz der unruhigen Nacht fühlte der Vater sich erfrischt und gestärkt, und bevor die Sonne im Zenit stand, sah er Kafarnaum vor sich liegen. Er wollte seinen Schritt beschleunigen, blieb stattdessen aber stehen. Angst lähmte ihn, die Angst, er könne zu spät kommen und sein Weg sei vergeblich gewesen. Er stand wie erstarrt, blickte auf Kafarnaum mit weit geöffneten Augen, vor denen es dunkel flimmerte. Da hörte er wie aus weiter Ferne die Stimme des Hirten: „Verlass dich auf das, was Jesus gesagt hat. Gib deinen Sohn nicht auf!"

Das löste seine Starre, verscheuchte seine Angst, verschaffte ihm wieder einen klaren Blick. Mit ruhiger Zuversicht begann er den letzten Abstieg zum See hinunter.

Und noch während er hinabging, kamen ihm seine Knechte entgegen und sagten, sein Knabe lebe. Da erkundigte er sich bei ihnen nach der Stunde, in der es besser geworden war mit ihm. Da sagten sie zu ihm: Gestern in der siebten Stunde ist das Fieber von ihm gewichen. Nun erkannte der Vater, dass es zu jener Stunde geschehen war, in der Jesus zu ihm gesagt hatte: Dein Sohn lebt; und er kam zum Glauben, er und sein ganzes Haus.

Amen



Landespfarrer a.D. Paul Kluge
Leer
E-Mail: paul-kluge@t-online.de

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