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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Kantate, 06.05.2012

Predigt zu Apostelgeschichte 16:(23-24) 25-34, verfasst von Bernd Giehl

Vorbemerkung:      1) Predigt zu Apostelgeschichte 16, (23-24)25-34

                             2) Andacht zu demselben Text

 1)

Ich stelle mir vor. Ob der Erzähler dieser Geschichte wohl mit diesem Satz gearbeitet hat? Wohl eher nicht. Aber ich für mein Teil bin derjenige, der diese Geschichte noch einmal neu erzählen soll. Und wenn schon nicht erzählen, dann zumindest auslegen. Ich stelle mir also vor, wie ich jetzt das tragbare Mikrofon nehme und in der Kirche herumgehe. Ihre Blicke verfolgen mich. Was hat er jetzt vor? An einer Bankreihe bleibe ich stehen und halte das Mikrofon einem Mann hin. „Was halten Sie denn persönlich von dieser Geschichte?" Ich hoffe, dass er mir antwortet. Einen Moment schweigt er. Hat es ihm die Sprache verschlagen? Ich versuche, ihm auf die Sprünge zu helfen. „Sie sind doch ein gläubiger Mensch und die Frage, ob Gott existiert, haben Sie längst mit ‚Ja‘ beantwortet. Aber sagen Sie mir: Was halten Sie von der Geschichte, die ich gerade vorgelesen habe?"

Schließlich antwortet er mir doch noch. „Sie haben Recht, Herr Pastor, ich bin mein ganzes Leben lang ein gläubiger Mensch gewesen. Wenn es so in der Bibel steht, dann muss es wohl wahr sein. Schließlich ist die Bibel ein heiliges Buch und heilige Bücher sagen nun einmal die Wahrheit." Zwei Bänke weiter sitzt eine Lehrerin, die ich kenne. Die wird sich eher trauen. Sie scheint damit gerechnet zu haben, dass ich sie anspreche, jedenfalls erwidert sie, grundsätzlich glaube sie an Wunder, jedenfalls soweit sie von Jesus berichtet werden, dass aber dieses Wunder womöglich doch ein bisschen krass ist. Nein, sie wisse nicht, ob das wirklich so passiert sei, glaube aber, dass es heute so nicht mehr passieren würde. Nicht in unseren eher ungläubigen Zeiten. Und dass ihr das Probleme mache. Vielleicht weniger mit der Geschichte, wohl aber mit ihrer Umsetzung. Und deshalb sei sie nun gespannt, was der Herr Pfarrer dazu zu sagen habe.

 

Ein kluger Zug. Da hat meine Gesprächspartnerin den Ball mit einem weiten Pass wieder in mein eigenes Feld zurückgeschossen. Jetzt müssen Sie selbst Farbe bekennen, Herr Pfarrer. Geschieht Ihnen im Übrigen ja auch ganz Recht. Schließlich sind wir - Hörerinnen und Hörer - nicht gekommen, um von Ihnen gefragt zu werden, was wir denn persönlich glauben. Sondern wir sitzen hier im Gottesdienst, um zu hören, was Sie uns zu sagen haben. Was das Evangelium uns zu sagen hat.

Natürlich sagt sie das alles nicht. Aber so denkt sie. Ich sehe es an ihren Augen.

Also gut, entgegne ich ihr, ebenfalls im Stillen. Im Grunde habe ich ja damit gerechnet, dass die Frage kommt. Und ich bin ja auch bereit, Auskunft zu geben. Andernfalls hätte ich nicht fragen dürfen. Aber so klar, wie Sie sich das wahrscheinlich wünschen, kann ich Ihnen nicht antworten. Ich muss „sowohl - als auch" sagen. Einerseits empfinde ich die Geschichte als ziemlich krass. Da sind Menschen ohne Prozess in den Kerker geworfen worden. Sie sind angeklagt, ihren Glauben bekannt zu haben. Sicher: Sie haben eine Sklavin, die für Geld wahrsagte, von ihrem Wahrsagegeist befreit. Weil sie ihrem Besitzer nun kein Geld mehr einbringt, hat der sich an die Justiz gewandt, und daraufhin sind Paulus und Silas eingesperrt worden. Und zwar im Hochsicherheitstrakt, wo nur die gefährlichsten Verbrecher gefangen gehalten werden. Zusätzlich sind sie auch ausgepeitscht worden. So weit, so ungerecht. Es gab keinen Prozess und womöglich werden sie auch noch lange im Gefängnis sitzen müssen. Der Reiche hat immer Recht; er kann sich die Richter kaufen. Das war vermutlich in der Antike so, und in vielen Ländern der Dritten Welt, ja selbst im einen oder anderen Staat Osteuropas ist es bis heute so. Und womöglich wird dort auch ein Formel 1 Rennen gefahren. Oder eine Fußballeuropameisterschaft ausgetragen. Womöglich wird die Kanzlerin anreisen, wenn Deutschland ins Finale kommt Das Eine hat mit dem Anderen ja schließlich nichts zu tun.

Und die Menschen im Gefängnis? Die schreien vielleicht vor Zorn und Schmerzen. Die rufen Gott an, er solle alle, die sie so haarsträubend behandelt haben, mit dem Blitz vom Himmel treffen. Und als das nach Stunden oder Tagen immer noch nicht geschehen ist, als die Welt sich einfach weitergedreht hat, ohne dass ihr Schreien irgendeinen Sinn hatte, da sagen sie zu Gott, jetzt sei es vorbei mit ihrer Geduld. Nie mehr würden sie von ihm reden. Die Missionierung der Heiden könne übernehmen, wer will; sie jedenfalls seien raus aus dem Geschäft. Nichts für ungut, lieber Gott, aber wenn die eine Seite nicht zahle, müsse die andere auch nicht liefern.

War es so? Sie erinnern sich sicher noch. „Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und die Gefangenen hörten sie." „Geht's noch?" möchte man da fragen. „Haben sie vielleicht vierstimmig eine Kantate gesungen, zur Ehre ihres Gottes, der über den Himmeln thront und jedem das zukommen lässt, was er verdient? Also wirklich, Herr Pfarrer, das können Sie meiner Großmutter erzählen, vielleicht nimmt die Ihnen das ab, aber doch nicht mir. Einem Mann, der in der Welt steht. Der jeden Tag Entscheidungen treffen muss, und manche sind hart. Glauben Sie Herr Pfarrer, dass der Angestellte, den ich nach zwanzig Jahren entlassen muss, weil die Firma Personal abbaut, dass der mir auf Knien dankt? Dass der sagt: ‚Endlich muss ich nicht mehr um sechs Uhr aufstehen. Jetzt kann ich tun und lassen, was ich will.‘ Glauben Sie, dass der das tut? Der wird nächstes Jahr 45 und weiß genau, wie seine Chancen stehen."

Was für ein Glück, dass ich mir das alles nur vorstelle. Ich muss ihm nicht antworten. Ich sehe ihn da unten sitzen, den Manager, mit dem ich mich manchmal unterhalte und der hin und wieder auch kritisch nachhakt. Ich mag ihn und seine Art zu fragen. Er wird nicht aufstehen und mich da oben auf der Kanzel fragen. Aber in unserer Geschichte kommt es ja noch besser. „Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, sodass die Grundmauern des Gefängnisses wankten, Und sogleich öffneten sich alle Türen, und von allen fielen die Fesseln ab." Aber dann bleiben alle Gefangenen in ihrer Zelle, damit der Gefängnisdirektor sich nicht ins eigene Schwert stürzen muss. Halten zu Gnaden, aber das ist nun wirklich ein bisschen dick aufgetragen.

Bin ich das, der so redet? Ja, das bin ich. Oder genauer: Das ist die eine Stimme in meinem Kopf. Es gibt aber noch eine andere. Und diese Stimme sagt: „Sei doch nicht so pessimistisch. Du hast doch Erfahrung mit seltsamen Geschichten. Also gib doch zu, dass sie dich herausfordert. Das macht dir doch Spaß, dich mit schwierigen Texten auseinanderzusetzen. Das regt deine Kreativität an. Und auf die bist du doch stolz. Also los. Geh auf Spurensuche, Zerbrich dir den Kopf. Du wirst es schon schaffen."

Also muss ich jetzt wohl noch einmal neu einsetzen. Mich reizt diese Geschichte, weil Ich glaube, dass sie mehr ist als nur eine mehr oder weniger gut erzählte Legende. Sie trägt eine Wahrheit in sich, jenseits der Frage, ob es wirklich so passiert ist. Dieser Wahrheit möchte ich jetzt nachspüren.

 

Und jetzt wissen Sie vermutlich schon, wo ich einsetzen werde. Ja, ich war schon mal im Gefängnis. In Wiesbaden habe ich im Jugendknast den einen oder anderen meiner ehemaligen Konfirmanden besucht. Es war eine merkwürdige Erfahrung, hinter dem Beamten mit dem großen Schlüsselbund herzugehen, der immer wieder graue Metalltüren aufschließen musste, damit ich hindurchgehen konnte. Aus dem vergitterten Fenster in einen grauen ummauerten Innenhof zu sehen und mir dabei vorzustellen, wie es wäre, hier Wochen oder gar Monate zu verbringen und den Tagesablauf von anderen streng geregelt zu bekommen. Mich Regeln fügen zu müssen, die meine Freiheit hart beschneiden. Jedes Mal wenn ich jemanden im Knast besucht habe, war ich froh, dass ich wusste: In ein, zwei Stunden würde ich wieder auf dem Parkplatz stehen und nachhause fahren.

Aber natürlich sind mir diese Besuche jedes Mal nachgegangen. Wenn einer schon so früh vom Weg abkommt, was wird dann aus ihm werden, habe ich mich gefragt. Welche Chancen hat dieser Mensch dann noch? Wird er am Ende doch noch einen Weg finden? Wird es Menschen geben, die zu ihm halten und ihn nicht fallen lassen? Das wäre vermutlich das Wichtigste.

Aber wenn ich mir selbst zuhöre, merke ich: Das ist es noch nicht. Ich habe das noch nicht wirklich erlebt. Die Gefängnisse, die ich selbst kennengelernt habe, waren von anderer Art.

 

Schade eigentlich. Ich war doch schon so nah dran. Aber dann war es doch wieder eine Sackgasse. Jedenfalls für uns rechtschaffene Bürger, die allenfalls mal ein Knöllchen für zu schnelles Fahren oder Falschparken bekommen oder eine Geldbuße, weil wir die Steuererklärung immer noch nicht abgegeben haben und den geforderten Betrag dann innerhalb einer Woche auch brav bezahlt haben. Gibt es Gefängnisse, die wir kennen?

Ja, es gibt sie. Eines habe ich ja schon erwähnt. Vielleicht ist es Ihnen gerade wieder eingefallen. Es war das Thema „Arbeitslosigkeit" bzw. die Angst vor ihr. Ich vermute, die meisten von Ihnen können sich gut vorstellen, was die Angst davor mit einem macht. Gibt es einen schlimmeren Makel als zuhause herumsitzen zu müssen und nicht mehr in die Firma gehen zu können? Es ist ja nicht nur das Geld, das fehlt. Das ist sicher schlimm genug. Mindestens ebenso schlimm ist wahrscheinlich, dass die Anderen wissen: Der hat seine Arbeit verloren. Die ist gekündigt worden. Faulenzer vermutlich. Geschieht ihm recht. Das hat der nun davon.

Oder ich denke an Menschen, die ihrem verlorenen Leben nachtrauern. Den Chancen, die sie womöglich nie gehabt haben. Pechvögel vielleicht oder die, die sich dafür halten. Auch die gibt es und womöglich gar nicht so wenige.

Nein, es bedarf keiner Gefängnismauern und Gitter vor den Fenstern sowie Beamte mit großen Schlüsselbunden, um Menschen gefangen zu setzen. Um ihnen die Perspektive zu rauben.

Und dann die Frage aller Fragen. Was kann ich denen anbieten, die nie Gefängnismauern von innen gesehen haben? Die aber dennoch Leid erfahren haben, die in ihrer Hoffnungslosigkeit festsitzen. Soll ich denen diese Geschichte vorlesen? Soll ich den Satz zitieren: „Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott?" Selbst wenn ich es tun würde, sie würden es nicht verstehen.

 

Und doch ist dieser Satz der Wendepunkt. Und es ist auch alles andere als zufällig, dass hier eine Zeitangabe gemacht wird: „Um Mitternacht." Ein Sprichwort sagt: „Die Mitte der Nacht ist der Anfang des neuen Tages." Ob uns das einleuchtet? Wer an Schlaflosigkeit leidet, der erfährt eher das Gegenteil. So viele Stunden, bis es wieder hell wird und man ein neues Tagwerk beginnen kann. Es ist das Gefühl eingesperrt zu sein und nicht rauszukommen, das einen dann quält.

Aber könnte der neue Tag nicht auch eine neue Chance bieten? Könnte man die Vergangenheit nicht hinter sich lassen und darauf hoffen, dass etwas neues beginnt?

Vielleicht könnte man es so sehen. Wenn man sich lösen könnte von dem, was einen quält. Wenn man denn Hoffnung hätte, dass es anders wird. Oder sich zumindest an die schönen Erfahrungen im eigenen Leben erinnern würde.

Ich vermute, dass Paulus und Silas genau das tun. Sie erinnern sich an die guten Erfahrungen, die sie mit Gott gemacht haben. Erinnern sich daran, dass sie immer wieder neue Kraft aus ihrem Glauben gezogen haben. Und vielleicht hoffen sie auch darauf, dass Gott sie befreien wird. Oder ihnen zumindest Kraft gibt, ihr Leiden zu ertragen.

Und genau das schafft nun Distanz zur Gegenwart. Die Mauern des Gefängnisses werden ein wenig durchlässiger. Sie lassen zumindest schon einmal Licht in die Dunkelheit.

So weit so gut. So kann es gehen. Jedenfalls wenn einen die Kraft noch nicht völlig verlassen hat. Aber passiert das auch, wenn man im tiefen Kellerloch sitzt?

Nun muss ich ja zugeben, dass ich mich nur bis zu einem gewissen Punkt in die beiden hineinversetzen kann. Ihre Fröhlichkeit, ihre Bereitschaft, Gott auch unter Schmerzen zu loben, kann ich nicht nachvollziehen. Ihre Hoffnung kann ich teilen; der Rest bleibt mir verschlossen.

 

Aber womöglich ist das auch nicht so wichtig. Wichtiger scheint mir zu sein, dass auch ich erlebt habe, dass die Türen der inneren Gefängnisse, die mich festhielten, sich immer wieder geöffnet haben. Dass ich nach langen Phasen der Traurigkeit plötzlich wieder Mut fand. Dass die Vergangenheit leichter wurde, weniger schmerzte und ich mich nicht mehr ständig mit dem auseinandersetzen musste, was geschehen war. Stattdessen fand ich wieder Kraft für die Gegenwart. Auch in meinem Leben gab es schon Zeiten, in denen ich nicht mehr damit gerechnet hatte. Umso überraschender dann das Erleben der Hoffnung. Manchmal passierte das von einem Tag auf den anderen, dass die Gefängnismauern plötzlich gesprengt wurden und ich ins Freie konnte. Zu andere Zeiten dauerte es länger. Dann öffnete sich die Tür nur einen Spalt breit, Ich war noch nicht draußen, aber der Gang, auf den die Tür hin sich geöffnet hatte, war ein bisschen heller als die Zelle, in der ich gesessen hatte. Und irgendwann nahm ich die Blumen wieder wahr oder die blühenden Bäume oder die Vögel, die vor meinem Fenster sangen.

Aber nun ist das ja eine Wundergeschichte. An diesem Punkt werden die Meinungen sich vermutlich teilen. Die einen werden sagen: „Wunder gibt es immer/ heute oder morgen/ können sie geschehn." Und die anderen werden vielleicht entgegnen: „Vielleicht im Schlager, aber ich selbst habe noch nie ein Wunder erlebt."

Nun bin ich kein Freund des Schlagers, aber es gibt einen Satz in dem Lied von Katja Ebstein, den ich unterschreiben würde, und der heißt: „Wenn sie dir begegnen, musst du sie auch sehn."

Ich persönlich kann sagen: Ich habe das Wunder schon erlebt. Und es tut gut, davon zu erzählen.

 

Ob Paulus und Silas also auf ein Wunder gehofft haben, als sie ihr Loblied sangen? Man könnte es aufgrund des Textes so sehen. Was aber wäre passiert, wenn das Wunder nicht geschehen wäre? Hätten sie dann aufgehört, Gott zu loben? Ich denke nicht. So einfach ist die Beziehung zwischen dem Lob Gottes und dem Wunder, das anschließend passiert, wohl doch nicht. Ich denke jedenfalls nicht, dass sie ein Junktim gesetzt haben: „Wir loben dich jetzt, also befreie uns bitte. Und beeil dich bitte." So einfach ist es wohl nicht. Selbst wenn wir es gern so hätten. Das liefe am Ende auf Erpressung hinaus, und die traue ich den beiden einfach nicht zu.

 

Kein Junktim also. Keine Erpressung. So einfach funktioniert das mit dem Glauben nicht. Glaube ist anders. Er ist Vertrauen und zum guten Teil auch Hoffnung. Und manchmal ist er auch ein tapferes „Trotz allem." Glaube könnte sagen: „Auch wenn es jetzt ganz finster um mich ist, so vertraue ich dennoch darauf, dass es bald wieder hell wird. Oder wie es in dem Gedicht von Bert Brecht heißt:

Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag."

(Quelle: Wikilivres.info)

 

 

 2) 

 

Lesung des Textes für Kantate Apg.16,23-34 „Paulus und Silas loben Gott“

  1. Frage an die versammelten Damen und Herren:

„Was denkt ihr, wenn ihr diese Geschichte hört?“

 

  1. Kurzes Gespräch über die Geschichte.

„Bitte fasst euch kurz“.

  1. Statement BG

Heute Morgen lag ich ganz entspannt im Stuhl meiner Zahnärztin. Sie machte Röntgenaufnahmen von meinem gesamten Ober- und Unterkiefer. Etwa zehn Röntgenaufnahmen. Bei der ersten und der letzten (jeweils Backenzähne) musste ich – trotz anästhetischem Lutschbonbon – würgen. Zwischendurch versuchte ich zu entspannen. Es gelang nur teilweise, weil ich immer wieder an das furchtbare Würgen denken musste. Ich erinnerte mich an die Tür meiner ersten Zahnärztin in meinem Heimatort, durch die ich zum ersten Mal mit drei oder vier Jahren gehen musste. Ich erinnere mich an den Geruch. Den werde ich nie mehr vergessen, selbst wenn ich eines Tages dement werde. Dies Tür war das Tor zur Hölle. Jedes Mal, wenn ich wieder zum Zahnarzt gehe, denke ich an diese Tür.

Die Behandlung dauerte eine gute Stunde. Hinterher aß ich chinesisch im Nauheimer Kaiserpalast und trank dazu Elsässer Edelzwicker. Das tat unendlich gut. Beim Verlassen des Lokals fand ich am Ausgang ein hektographiertes Blatt mit einer christlichen Erweckungsbotschaft. Zehn junge chinesische Missionare erzählten darauf, wie sie vor Jahren zu Jesus fanden. Zuerst sahen sie IHN selbst in einem Königsgewand mit goldener Schärpe. Sie hatten eine Vision, in der sie in einen Felsen hineinging. Die Geschichte erinnerte an Dantes Vision von der Hölle. Nur zeitgemäßer – und damit schrecklicher. Beim Lesen waren die Visionen kaum zu ertragen. Aber die, die sie erlebt hatten, hatten sie an der Hand des HERRN erlebt. Die, die sie sahen, hatten ihre Chance verwirkt. Sie wurden von Schlangen und Dämonen entsetzlich gequält. Nur die Gruppe der jungen Männer gelangte wieder ins Freie, damit sie ihre Geschichte weitererzählen konnten. 

Und jetzt fragt ihr euch: Macht unser Pfarrer sich über die Missionare lustig? Meine Antwort heißt: Ja und Nein. Der Unterschied ihrer Geschichte zu der Geschichte, über die ich gerade rede ist mit Händen zu greifen. In der Geschichte der zehn Chinesen sind es die anderen, die furchtbar leiden müssen. In der Geschichte von Paulus und Silas im Gefängnis leiden die beiden Hauptfiguren selbst an der Ungerechtigkeit der Welt.

Aber das stimmt ja nur halb. Sie sind im Gefängnis, sie leiden Qualen und singen ein Loblied auf Gott.

Wenn ich am Sonntag den Gottesdienst halten würde, würde ich die eigene und die Reaktion meiner Zuhörer aufgreifen. „Wie können sie nur Gott im tiefen Kerker ein Loblied singen? Sind die denn von allen guten Geistern verlassen?

Die Antwort heißt: Im Gegenteil. Sie singen Gott eine Kantate, weil sie SEine Hilfe schon früher erfahren haben. Mehr noch: Ein wenig ähneln sie den Missionaren, von denen ich erzählt habe. Das Leid, das sie erleben, kann sie nicht auffressen, weil sie wissen: Gott wird sie an die Hand nehmen und sie hinausgeleiten. Die Würmer, die Schlangen und Dämonen, die sie sehen, können ihnen nichts anhaben. Gott beschützt sie auch in der Hölle des Hochsicherheitsgefängnisses.

*

 Und die Brücke zu uns? Gibt es die? Die Frage habe ich gleich am Anfang beantwortet. In der Geschichte von „meinem Zahnarztstuhl“. Ihr braucht keine Ausbildung in Psychotherapie, um zu merken: Dieser Stuhl ist meine persönliche Hölle. Ich fürchte mich vor ihm. Nun habe ich relativ ironisch von der Erfahrung von heute Morgen erzählt.  Dass ich „entspannt“ in diesem Stuhl lag, klang alles andere als ernst gemeint. Es war aber tatsächlich so. Jedenfalls in den Pausen, in denen keine Röntgenaufnahmen meiner Zähne gemacht wurden. Da konnte ich tatsächlich loslassen und meine Gedanken frei fließen lassen, ohne sie zu bewerten. Ich dachte nur hin und wieder an das Würgen. Ich habe keine Loblieder auf meinen Gott gesungen. Ehrlich gesagt, habe ich nicht einmal an ihn gedacht. Aber er war bei mir in dieser Stunde. Er hat mir geholfen, dass ich zeitweise ganz ohne Angst war.

*

Nein, ich heiße nicht Paulus. Auch Silas ist nicht mein zweiter Vorname. Aber dass ich befreit wurde aus den Gefängnissen, in denen ich schon war, das habe ich erfahren. Nicht nur heute.

Dafür danke ich Gott. Amen.



Pfarrer Bernd Giehl
Nauheim und Trebur
E-Mail: bernd.giehl@t-online.de

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