Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

17. Sonntag nach Trinitatis, 30.09.2012

Predigt zu Jesaja 49:1-6, verfasst von Matthias Wolfes

Gottes Heil bis an der Welt Ende


Höret mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merket auf! Der HERR hat mich gerufen von Mutterleib an; er hat meines Namens gedacht, da ich noch im Schoß der Mutter war, und hat meinen Mund gemacht wie ein scharfes Schwert; mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt; er hat mich zum glatten Pfeil gemacht und mich in seinen Köcher gesteckt und spricht zu mir: Du bist mein Knecht! Israel, du, durch welchen ich will gepriesen werden. Ich aber dachte, ich arbeite vergeblich und brächte meine Kraft umsonst und unnütz zu, wiewohl meine Sache des Herrn und mein Amt meines Gottes ist. Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knechte bereitet hat, daß ich soll Jakob zu ihm bekehren, auf daß Israel nicht weggerafft werde (darum bin ich dem HERRN herrlich, und mein Gott ist mein Stärke), und spricht: Es ist ein Geringes, daß du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten Israels wiederzubringen. Sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, daß du seist mein Heil bis an der Welt Ende."


Liebe Gemeinde,

es sind gewaltige Worte, die uns aus dem Mund des Propheten entgegenschallen. Allein schon der Auftakt „Höret mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merket auf!" Man kann sich gut vorstellen, daß das in einem Oratorium, vom Chor gesungen, einen starken Eindruck macht. Sein Mund ist ein „scharfes Schwert". Er selbst dient dem Herrn als „glatter Pfeil", den er sich in den „Köcher" gesteckt hat.

Das sind Bilder aus der Militärwelt. Es geht um Bewaffnung; der Einsatz des Propheten muß wie eine Art Kriegseinsatz verstanden werden. Dann aber kommen Worte, die ganz anders klingen: Der Prophet berichtet, er sei mutlos gewesen. Alles kam ihm vergeblich vor, „umsonst und unnütz", obwohl seine Sache doch die Gottes gewesen war. Hierauf aber dann eine weitere Wendung: Nun spricht der Herr erneut zum Propheten. Er gibt ihm den Auftrag, Israel zu bekehren, damit es nicht „weggerafft" werde. Die klassische Prophetenbeauftragung ergeht also auch hier: „Du bist mein Knecht, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten Israels wiederzubringen." Doch damit hat es wiederum nicht sein Bewenden. Denn jetzt folgen die für uns eigentlich erst entscheidenden Worte. Der Prophet soll auch den „Heiden" die Herrlichkeit und Stärke Gottes bekannt machen. „Die Heiden", das bedeutet: die ganze Welt jenseits Israels. Ihnen soll er „das Licht" sein, „daß du seist mein Heil bis an der Welt Ende".

„Der Knecht Gottes, das Heil Israels und das Licht der Heiden": So heißt es in unseren Lutherbibeln als Überschrift zu dem Abschnitt. Das „Heil Israels" und das „Licht der Heiden" - diese beiden Momente ergeben sich unmittelbar aus dem Text, und wir werden natürlich besonders Gewicht darauf legen, daß der Prophet eben nicht allein zum Volk Israel geschickt wird, sondern auch zu allen Menschen jenseits und über die Grenzen Israels hinaus, also zu uns. Aber was bedeutet „Knecht Gottes"?

Unseren Abschnitt und noch drei weitere (in Jesaja 42, 50 und 53) nennt man „Gottesknechtlieder". Zwar sind es nicht eigentlich Lieder, aber in ihnen taucht der Ausdruck „Knecht Gottes" auf. Sie bilden eine Gruppe, und man kann sie ohne weiteres aus dem umgebenden Text herauslösen.

Geschrieben hat sie wohl derselbe namentlich unbekannte Prophet, von dem der gesamte weitere Text der Kapitel 40 bis 55 des Jesajabuches stammt. Man nennt ihn „Deuterojesaja", also „Zweiter Jesaja", und die Zeit, in der er verkündigte, war die des Babylonischen Exils, zur Mitte des sechsten Jahrhunderts vor Christus.

In den Gottesknechtsliedern geht es um einen besonderen Beauftragten des Herrn. Er wird an einzelnen Stellen auch sein „Sohn" genannt. Er ist gesalbt, das „Licht" Gottes, und soll „sein Recht" zu allen Völkern bringen. Das wirklich Erstaunliche ist nun aber, daß dieser Gottesknecht dafür seinerseits Schmach und Schande zu tragen hat, und zwar bis zur äußersten Grenze: Er wird sein Leben opfern müssen; „er schüttet sein Leben aus in den Tod und läßt sich unter die Frevler rechnen" (Jes 53, 12). Gleichzeitig aber errettet Gott ihn und gibt ihm Anteil an seiner eigenen Herrlichkeit: Der Herr findet „Gefallen an seinem Zerschlagenen und heilt den, der sein Leben zum Schuldopfer" gibt (V 10).

Hier werde die gewichtigsten Aussagen formuliert. Dieses letzte Gottesknechtslied, in Kapitel 53, hat für das christliche Denken natürlich eine enorme Bedeutung; es ist von Anfang an auf Christus bezogen worden. Schon im Neuen Testament, im achten Kapitel der Apostelgeschichte, geschieht es so, und erst recht bei den frühen christlichen Theologen.

Innerhalb der Schriften des Alten Testaments stehen diese Gottesknechtslieder ganz vereinzelt. Sie haben in der jüdischen Auslegung bis zum Aufkommen des Christentums kaum eine Rolle gespielt, und es ist auch selbst wieder ein bemerkenswerter Umstand, daß ihre spätere (und heutige) Deutung auf den Messias erst eine Folge der christlichen Interpretation gewesen ist. Die Rabbinen der klassischen Zeit bildeten in diesem Fall ihre eigene Lehre vor dem Hintergrund der christlichen Bibelauslegung aus.

Wer aber ist nun dieser „Gottesknecht"? Kann es sein, daß Deuterojesaja vom Volk Israel spricht? Oder handelt es sich doch um eine Einzelperson, etwa einen Propheten oder eben den Messias? Es ist nicht klar erkennbar, weder in unserem speziellen Text noch in den anderen Liedern. Wie es scheint, will der Prophet auch gar nicht wirklich Klarheit in dieser Frage schaffen. Er spricht mit Absicht so. Seine Ausdrucksweise ist absichtlich verbergend, verhüllend, esoterisch. Und wir werden das Rätsel, das hier besteht, auch heute nicht lösen, so wie es zu allen früheren Zeiten nicht gelöst worden ist.

Ein Rätsel kann ja auch dann ernstgenommen werden, wenn man es bestehen läßt. Wahrscheinlich war schon den Hörern des Propheten selbst nicht völlig klar, was gesagt wird. Wir können uns darauf stützen, daß in der christlichen Tradition die Gottesknechtslieder auf Christus gedeutet worden sind. Wir selbst stehen in dieser Tradition, und so wird es uns geradezu als zwingend erscheinen, die Worte des Deuterojesaja mit dem zu verbinden, was wir von Christus wissen. Es wäre ganz unnatürlich und meiner Ansicht nach eine falsche Pietät gegenüber dem Alten Testament, wenn wir an dieser Stelle anders verfahren wollten. Aber was den Propheten selbst betrifft, so ist uns hier eine Grenze gezogen, und sie muß man beachten.

Wie dem auch sei, es ist nicht unser Thema, wie man die Worte im historischen Kontext des Deuterojesaja verstehen muß oder kann. Wir wollen vielmehr auch das Gottesknechtslied so auffassen, wie wir es generell mit den biblischen Texten tun, die uns in unseren Gottesdiensten begegnen. Sie sollen uns aufhelfen. Wir fragen nicht, was ist ihr ursprünglicher Sinn, sondern wir wollen uns auf sie einlassen, uns von ihnen etwas sagen lassen und sie so auffassen, daß aus ihnen eine Stimme spricht.

Für uns ist deshalb vor allem von Bedeutung, an welchen ganz bestimmten Adressaten die Rede gerichtet ist. Die Propheten sprechen in der Regel zum Volk Israel. Ihm gilt ihre Rede; zu ihm sind sie von Gott gesandt. Was die Sendung betrifft, so ist das auch hier, im Gotttesknechtslied, so, jedenfalls bei dem zunächst ergehenden Auftrag. Aber zu wem spricht der Prophet? Er spricht gerade nicht zum Volk Israel. „Höret mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merket auf!", so beginnt der Text. Der Gottesknecht verkündet den Völkern: Gott hat zu mir gesagt „Ich mache dich zum Licht der Völker". Er ist von Gott berufen worden, um durch ihn ein Werk an seinem Volk zu tun. Darüber aber kam eine große Verzweiflung über den Gottesknecht und er hielt alles für vergeblich. Dann aber hat der Herr den Auftrag nicht nur erneuert, sondern auch noch erweitert und ihn auf alle Völker ausgedehnt. Das Ziel ist, daß das Heil des Herrn bis zu den Enden der Erde reiche.

Es bleibt dabei: Über dem ganzen liegt ein Schleier. Wir können nicht genau erkennen, worauf die Sache hinausläuft. Gott will sich verherrlichen, aber nicht direkt und sinnenfällig, etwa in seiner Rettungstat an Israel. Es handelt sich vielmehr um ein verborgenes Tun, ein paradoxes. Denn Gott will sich ja durch seinen Knecht verherrlichen, nicht durch die eigene Allmächtigkeit. Vor allem ist es deshalb paradox, weil ja an diesem Knecht eben nur das Gegenteil von dem zu sehen ist, was wir normalerweise mit Herrlichkeit verbinden.

Es wird hier also ein ganz neuer Raum eröffnet für die Offenbarung. Gott zeigt sich zwar, aber auf eine ganz andere, neue Weise, die mit den bisherigen prophetischen Ankündigungen und Bekundungen seltsam unvereinbar ist. Das vor allem scheint mir für einen christlichen Bibelleser und Bibelhörer wichtig zu sein.

Was ja für alle Prophetie im Alten Testament gilt, das finden wir in einer sehr eigenartigen Weise hier noch einmal gesteigert: Der Prophet gibt dem Geist Gottes eine Gestalt. Gottes Wort kann ja gar nicht anders in der Welt erschallen als durch das Menschenwort. Und hier ist es eben die Stimme des Deuterojesaja, der diese Rolle zukommt. Darin liegt die Bedeutung, die diese prophetischen Reden für uns haben. Gott bedient sich nicht nur des Propheten als seines Sprechers, sondern er nimmt als Geist gleichsam Gestalt in ihm an und erscheint denen, die die Stimme hören, in dieser Weise. Einem Hörer, der sich der Rede stellt, ist es Wort Gottes, hörbar in der Welt und gesprochen von Menschenmund und Menschenzunge.

Wir vertrauen auf Gott. Das heißt auch: Wir gehen davon aus, daß Gott sich in der Gesamtheit des Wirklichen zur Anschauung bringt. Wie er das tut, bleibt uns verborgen. Auch erkennen wir nicht, was das im einzelnen für die Geschichte, die Natur und die Welt, in der wir unser Leben leben, bedeutet. Aber wenn der Prophet seine Stimme erhebt und bekundet: „So sprach der Herr zu mir", dann gilt uns das als ein Eingreifen Gottes in der Welt.

Das Nachdenken über den Glauben und Gott hat uns längst dazu gebracht, uns davor zu hüten, irgendwelche geschichtlichen Einzelgeschehnisse in der Welt (einschließlich derer in Biographien) als Fingerzeige Gottes anzusehen. Das führt ganz und gar in die Irre, und jeder, der in diesem Sinne um Gottes Beistand bei einem einzelnen Vorhaben bittet, ist in der Gefahr, sich der Versuchung auszuliefern. Es ist nicht das einzelne Schicksal mit allen seinen Wendungen und Wirrungen, das Gott den Schauplatz liefert. Wie könnten wir sonst damit fertigwerden, daß er, wenn wir doch annehmen wollten, er habe gerade uns aus der Katastrophe gerettet, als damals der Passagierdampfer unterging, die vielen anderen dem Verderben preisgegeben habe? Nein, dieser Weg führt in die Irre.

Ganz etwas anderes ist es, wenn wir davon ausgehen, daß Gott sich vernehmbar, verstehbar, hörbar macht in der Welt. Das ist ganz etwas anderes, als wenn wir Zeichen dafür fordern, daß und wie Gott die Welt bewegt. Die Welt „bewegen", das ist nur uns Menschen möglich, die wir eben selbst zu dieser Welt gehören und es vermögen, die Dinge der Welt zu bewegen.

Das Universum, in seiner ganzen stofflichen Unermeßlichkeit, ist stumm. Seine Geschichte bleibt gleichgültig; sie ist eine Geschichte von Atomen und ihren Verbindungen; auch das „Leben" ist nur ein kurzfristiger Zustand der Materie. In all seiner Flüchtigkeit erhebt sich aber eben hier der Geist. Und er ist es, in dem und aus dem heraus Gott sich hörbar macht. Und zwar hörbar in der Welt. Ich will noch einmal betonen, daß das etwas ganz anderes ist als wenn wir sagen, Gott „bewege" die Welt. Der Geist, der Geist des Menschen ist es, über den Gott in der Welt wirkt. Durch den Geist des Menschen gewinnt Gott Macht in der Welt. Ebenso ist aber das Scheitern des Menschen auch sein Scheitern. Von der Existenz Gottes zu sprechen, bedeutet, von der realen Macht Gottes im und über den Geist des Menschen zu sprechen.

Die Rede des Propheten ist ein überaus machtvoller Akt Gottes. Die Ankündigung ist revolutionär. Aus dem religiösen Zusammenhang des Volkes Israel heraus ergeht ein Auftrag, der sich auf die ganze Weite des menschlichen Geschlechtes, auf die gesamte Familie Adams erstreckt. Es geht nicht mehr allein um die Rückgewinnung des verirrten Volkes, nicht mehr allein darum, „die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten Israels wiederzubringen". Sondern es geht jetzt auch darum, der gesamten Menschheit das Heil Gottes zu erschließen. Bis an das Ende der Welt reicht der Horizont, und mit diesem geradezu sensationellen Auftrag wird der Prophet zum Licht der Welt. Das sind die Worte, derer sich der Geist dieses Propheten bewußt ist, und die gesprochen werden auf den Ruf hin: „Höret mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merket auf!"

Amen.  



Pfarrer Matthias Wolfes
Berlin-Neukölln,
E-Mail: wolfes@zedat.fu-berlin.de

(zurück zum Seitenanfang)