1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!
2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden laßt, so wird euch Christus nichts nützen.
3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden läßt, daß er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.
4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen.
5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muß.
6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.
Welch ein Fanfarenstoß für die christliche Freiheit, liebe Gemeinde! Wie müssen diese Worte denen in den Ohren klingen, die immer alles geordnet und geregelt wissen wollen und für die Gott eine Art allmächtiger Oberzensor ist. Freiheit - das ist das Leitwort der Reformation schlechthin. Freiheit vom jüdischen Gesetz, Freiheit von mittelalterlicher Werkgerechtigkeit, Freiheit vom Leistungsdruck unserer Tage oder der Selbstunterwerfung unter lebensfeindliche Systeme und ihre Herren: Freiheit aus der Bindung an Christus allein - die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes" (vgl. Röm. 8,21), die Freiheit eines Christenmenschen! Was für ein Geschenk - und was für eine Herausforderung!
Deutlich wird an unserem Abschnitt für das Reformationsfest, dass die Freiheit konkret ist. Paulus zeigt das am Beispiel der Beschneidung. Ihm geht es dabei nicht um den medizinischen Aspekt - möglicherweise würde er sich sogar heute auf der Seite der Kritiker einer Rechtsauffassung wiederfinden, die religiösen Überzeugungen allzu unsensibel gegenübertritt. Er behandelt in unserem Text die Beschneidung als ein rein theologisches, ein geistliches Problem. Sie ist für ihn ein Symbol für die Art und Weise, in der du glaubst.
Entweder du unterwirfst dich dem Gesetz - dann aber gilt: „4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen." Paulus ist da ganz hart. Gnade kann man sich nicht verdienen. Gnade ist ein Geschenk.
Oder aber du lässt dich auf das Geschenk der Gnade ein. Du wagst es, der Gnade zu vertrauen. Dann gilt: „1b So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!"
Es gibt viele Formen der Knechtschaft. Ich erlebe das in meinem Kontext der lutherischen Minderheitssituation in der Ukraine in Staat und Gesellschaft, aber tagtäglich auch innerhalb unserer Kirche. Überall spüren wir die Ketten der Vergangenheit: autoritäre oder korrupte Strukturen oder allzu festgefügte Traditionen können Formen der Knechtschaft sein. Das fängt manchmal ganz marginal an, wenn etwa einige darauf beharren, nur diese oder nur jene Form des Gottesdienstes sei die einzig richtige. Sprache kann eine Form der Knechtschaft sein, wenn einige auf einer Gottesdienstsprache bestehen, die von anderen nicht verstanden wird. Sprache kann zur Geheimsprache, zum Arkanprinzip, werden, zum exklusiven Alleinstellungsmerkmal für Auserwählte. Eine Form von Verknechtung kann sein, dass jemand alle Entscheidungen allein trifft, ohne die Gemeinde zu informieren oder zu beteiligen. Es gibt viele Formen der Herrschaft und viele Formen der Knechtschaft. Knechtschaft ist immer konkret.
Genauso konkret ist aber auch die Freiheit, von der Paulus redet. Diese Freiheit kommt aus dem Glauben an Gottes Gnade, die uns in Jesus Christus begegnet. Daher sagt Paulus auch am Ende unseres Abschnittes noch einmal ganz deutlich, was für ihn der entscheidende Punkt ist: „6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist." Der Glaube an Christus macht uns frei - frei, aber nicht bindungslos.
Wenn wir der Gnade Gottes vertrauen, dann können wir die Freiheit erfahren. Wir müssen nicht immer nur um uns selber kreisen. Wir müssen nicht voller Angst fragen: „Was kommt danach? Werde ich ok sein? Was muss ich tun, damit ich gerettet werde?" Nein, das Gegenteil kann gelten: weil wir keine Angst um uns selbst haben müssen, sind wir frei, zu glauben und in der Liebe tätig zu werden.
Für viele Menschen ist das nur schwer zu ertragen. Sie möchten lieber hören: du musst dieses oder jenes tun, du musst dich so oder so verhalten, dann wird alles gut. Es macht ihnen zu schaffen, dass sie eigenständig aus dem Glauben heraus entscheiden sollen, was die Liebe zum Nächsten von ihnen erwartet. Viele haben Angst, selbst zu kurz zu kommen, wenn sie nach dem Glauben und der Liebe handeln. Andere haben Formen des christlichen Glaubens kennengelernt, vor denen Paulus sie gewarnt hätte: Formen der Gesetzlichkeit und der geistlichen Unfreiheit.
Und wiederum andere kennen es nur so, dass sie in ihrem Leben ganz allein für sich selbst sorgen müssen. Sie haben vielleicht das Wort „Solidarität" als einen ideologischen Slogan kennengelernt, hinter dem aber in Wirklichkeit nur Unrecht und Ungerechtigkeit versteckt waren. Wie sollten solche Menschen frei werden, wenn sie niemals erfahren haben, wie wertvoll, wie herrlich die Freiheit ist? Wie sollen sie erfahren, dass die Freiheit ein bewahrenswertes Gut ist?
In der theologischen Diskussion um die Freiheit eines Christenmenschen wird gern darauf hingewiesen, dass zwischen der christlichen Freiheit, die ihre Bestimmung aus der Bindung an Christus gewinnt, und einer säkularen, bis in die Bindungslosigkeit sich ausdehnenden Freiheit zu unterscheiden sei. Ich bin mir nicht sicher, ob diese - theologisch sicher notwendige - Unterscheidung immer durchzuhalten ist. Wir sind nun einmal Christen und Bürger, Gerechte und Sünder. Wir zerfallen nicht in Sonntagschristen und Alltagsmenschen. Die aus dem Glauben gewonnene christliche Freiheit muss sich auch im Ringen um bürgerliche Freiheiten bewähren.
Und sie braucht nicht nur das event, sondern den beharrlichen, unspektakulären täglichen Einsatz, die Einübung (auch das eine Lernerfahrung aus der ukrainischen Lebenswelt). Thorsten Latzel veranschaulicht das in einem kleinen Gedicht:
Am Tag danach
Die eigentliche Revolution beginnt am Tag danach.
Wenn der Qualm verraucht ist, der Sekt getrunken, und die gewonnene Freiheit bewahrt sein will.
Dann schauen die alten Mächte zum Fenster rein. Und schicken charmante Gesandte vorbei -
Sicherheit und Gewohnheit, Ordnung und Tradition.
"War denn wirklich alles schlecht an den Fleischtöpfen Ägyptens?"1
Martin Luther und die Reformatoren haben das Thema der christlichen Freiheit bei Paulus neu entdeckt. Sie haben mit dem Hirn verstanden und mit dem Herzen gespürt: Ja, Paulus hatte recht. Es gibt diese Freiheit. Christus selbst hat in allem, was er tat, diese Freiheit verkörpert. Er war, können wir sagen, diese Freiheit. Freiheit aus der uneingeschränkten Bindung an Gott. An dieser Freiheit wollten sich die Reformatoren orientieren. Und so ist es kein Zufall, dass Martin Luther in seiner berühmten Freiheitsschrift den zentralen Satz formulierte: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht unter alle Dinge und jedermann untertan." - Ganz im Sinne des Apostels Paulus spricht er hier. Und er entwickelt ein Bild vom Menschen, der durch das Vertrauen auf Gottes Gnade die Lebensangst überwindet. Er entwickelt ein Bild vom Menschen, für den Gott nicht fern ist, sondern zu dem er mit Jesus „Unser Vater" sagen kann. Er entwickelt ein Bild vom Menschen, der durch den Glauben direkt zu Gott sprechen kann - im Gebet und auch durch die Gemeinschaft mit anderen Menschen. So wird etwa das Wort Jesu konkret: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen" (Mt. 18,20).
Und das hat dann auch Folgen für die ganze Kirche. Wo Menschen in Freiheit zusammenkommen, da kann es keinen Druck und keine Machtausübung der einen über die anderen geben. Es kann keine Willkür geben. Es dürfen keine geistlichen Muskelspielchen passieren. Es kann nicht sein, dass die einen die anderen wieder unter das Joch der Knechtschaft bringen.
Hier ist der Glaube in seiner Unabhängigkeit von oft sehr kurzlebigen Freiheitsverständnissen anderer Anbieter auf dem Markt des gesellschaftlichen Diskurses herausgefordert: Wie steht es mit der Freiheit der Weitergabe persönlichster Daten im Internet? Wie steht es mit Autorenrechten? Wie steht es mit den Entfaltungsmöglichkeiten für Kinder aus Harz-IV-Familien? Ab wann „lohnt" eine Nierentransplantation nicht mehr? Ergeben wir uns dem Kosten-Nutzen-Diktat des Marktes? Und geraten wir so nicht stikkum wieder unter das Joch der Unfreiheit? Wohlgemerkt: einer sehr säkularen Unfreiheit, die nichtsdestotrotz unser Leben, unsere Entfaltungsmöglichkeiten, unsere Lebensperspektiven massiv beeinflussen kann. Wie ist es „am Tag danach" - frohes Erwachen oder Katerstimmung?
Der Theologe Oswald Bayer hat den folgenden Vorschlag unterbreitet: „Ich schlage vor," schreibt er, „Freiheit als 'kritischen Vermittlungsbegriff' zu gebrauchen. Der Begriff der 'Freiheit' ist wie kein zweiter geeignet, einen fruchtbaren Streit um die Wahrheit des christlichen Glaubens und Lebens im Bezug zur jeweiligen geschichtlichen Situation zu entbinden"2.
Die Reformatoren sind da weit, sehr weit gegangen. Ganz konsequent haben sie das Thema der Freiheit aus dem Glauben durchdacht. Sie nehmen auch ihre Amtsträger in die Pflicht, die Theologen, die Pastoren und Bischöfe. Im Augsburgischen Bekenntnis halten sie vorn fest, dass sie „magno consensu"3, „einträchtiglich" zur Formulierung ihrer Position gelangt sind; weiter hinten, im 28. Artikel „Von der Bischofen Gewalt" sagen sie in großer Eindeutigkeit, dass die Bischöfe „sine vi humana, sed verbo"4, also ohne menschliche Gewalt, sondern allein durch Gottes Wort die Kirche regieren sollen.
Lassen wir für heute die politischen Fragen der damaligen Zeit beiseite: dann finde ich hier ein Grundverständnis, das sich dem Diskurs verdankt, der Debatte, der kontroversen Diskussion und dem Ringen um eine gemeinsame Position. Diskurse brauchen Zeit. Aber wahrscheinlich ist die Entschleunigung von Entscheidungen ein Freiheitssignal, das wir ganz dringend brauchen, um dem Diktat des immer höheren Tempos entgegenzutreten.
Ich bin überzeugt: in eben diesem Sinn will uns der Text des großen Apostels an die Freiheit erinnern und zur Freiheit ermutigen. Freiheit aus dem Glauben, Freiheit zur Gemeinschaft als Schwestern und Brüder, Freiheit zum Dienst an den Schwachen und Langsamen.
Freiheit des Menschen für Gott und für die Menschen, die Nächsten, ja sogar die Feinde, ist und bleibt ein zentrales Anliegen des Evangeliums. Die Reformation, zu der wir uns bekennen, hat die Freiheit, dieses große Geschenk Gottes, neu entdeckt und uns als Vermächtnis anvertraut. Unsere Aufgabe und unsere Würde ist es, dieses Vermächtnis aufzunehmen und aus ihm zu leben.
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! ...
Denn in Christus Jesus gilt ... der Glaube, der durch die Liebe tätig ist" (Gal. 5, 1+6).
Amen.