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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Reformationstag, 31.10.2012

Predigt zu Galater 5:1-6, verfasst von Uland Spahlinger

 

1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch be­schneiden laßt, so wird euch Christus nichts nüt­zen.

3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich be­schneiden läßt, daß er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.

4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gna­de gefallen.

5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muß.

6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

 

Welch ein Fanfarenstoß für die christliche Frei­heit, liebe Gemeinde! Wie müssen diese Worte denen in den Ohren klingen, die immer alles geordnet und geregelt wissen wollen und für die Gott eine Art allmächtiger Oberzensor ist. Freiheit - das ist das Leitwort der Reformation schlechthin. Freiheit vom jüdischen Gesetz, Freiheit von mittelalter­licher Werkgerechtigkeit, Freiheit vom Leistungs­druck unserer Tage oder der Selbstunter­werfung unter lebensfeindliche Systeme und ihre Herren: Freiheit aus der Bindung an Christus al­lein - die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes" (vgl. Röm. 8,21), die Freiheit eines Christen­men­schen! Was für ein Geschenk - und was für eine Her­ausforde­rung!

 

Deutlich wird an unserem Abschnitt für das Refor­mationsfest, dass die Freiheit konkret ist. Paulus zeigt das am Beispiel der Beschneidung. Ihm geht es dabei nicht um den medizinischen Aspekt - mög­licherweise würde er sich sogar heute auf der Sei­te der Kritiker einer Rechtsauffassung wiederfin­den, die religiösen Überzeugungen allzu unsensibel gegenübertritt. Er behandelt in unserem Text die Beschneidung als ein rein theologisches, ein geistliches Problem. Sie ist für ihn ein Sym­bol für die Art und Weise, in der du glaubst.

 

Entweder du unterwirfst dich dem Gesetz - dann aber gilt: „4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen." Paulus ist da ganz hart. Gnade kann man sich nicht verdienen. Gnade ist ein Geschenk.

Oder aber du lässt dich auf das Geschenk der Gnade ein. Du wagst es, der Gnade zu vertrauen. Dann gilt: „1b So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!"

 

Es gibt viele Formen der Knechtschaft. Ich erlebe das in meinem Kontext der lutherischen Minder­heitssituation in der Ukraine in Staat und Gesellschaft, aber tagtäglich auch in­nerhalb unserer Kirche. Überall spüren wir die Ketten der Vergangenheit: autoritäre oder korrupte Strukturen oder allzu festgefügte Traditionen kön­nen Formen der Knecht­schaft sein. Das fängt manch­mal ganz marginal an, wenn etwa einige darauf be­harren, nur diese oder nur jene Form des Gottes­dienstes sei die einzig rich­tige. Sprache kann eine Form der Knechtschaft sein, wenn einige auf einer Gottesdienstsprache bestehen, die von ande­ren nicht verstanden wird. Sprache kann zur Ge­heimsprache, zum Arkanprinzip, werden, zum exklu­siven Alleinstellungsmerkmal für Auserwählte. Eine Form von Verknechtung kann sein, dass jemand alle Entscheidungen allein trifft, ohne die Gemeinde zu informieren oder zu beteiligen. Es gibt viele For­men der Herrschaft und viele Formen der Knecht­schaft. Knechtschaft ist immer konkret.

 

Genauso konkret ist aber auch die Freiheit, von der Paulus redet. Diese Freiheit kommt aus dem Glauben an Gottes Gnade, die uns in Jesus Christus begegnet. Daher sagt Paulus auch am Ende unseres Abschnittes noch einmal ganz deutlich, was für ihn der ent­scheidende Punkt ist: „6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnitten­sein etwas, sondern der Glaube, der durch die Lie­be tätig ist." Der Glaube an Christus macht uns frei - frei, aber nicht bindungslos.

 

Wenn wir der Gnade Gottes vertrauen, dann können wir die Freiheit erfahren. Wir müssen nicht immer nur um uns selber kreisen. Wir müssen nicht voller Angst fragen: „Was kommt danach? Werde ich ok sein? Was muss ich tun, damit ich gerettet werde?" Nein, das Ge­genteil kann gelten: weil wir keine Angst um uns selbst haben müssen, sind wir frei, zu glauben und in der Liebe tätig zu werden.

 

Für viele Menschen ist das nur schwer zu ertragen. Sie möchten lieber hören: du musst dieses oder je­nes tun, du musst dich so oder so verhalten, dann wird alles gut. Es macht ihnen zu schaffen, dass sie eigen­ständig aus dem Glauben heraus entscheiden sollen, was die Liebe zum Nächsten von ihnen erwartet. Viele haben Angst, selbst zu kurz zu kommen, wenn sie nach dem Glauben und der Liebe handeln. Andere haben Formen des christlichen Glaubens kennengelernt, vor denen Paulus sie ge­warnt hätte: Formen der Gesetzlich­keit und der geistlichen Unfreiheit.

Und wiederum andere kennen es nur so, dass sie in ihrem Leben ganz allein für sich selbst sorgen müssen. Sie haben vielleicht das Wort „Solidari­tät" als einen ideologischen Slogan kennengelernt, hinter dem aber in Wirklichkeit nur Unrecht und Ungerechtig­keit versteckt waren. Wie sollten sol­che Menschen frei werden, wenn sie niemals erfah­ren haben, wie wertvoll, wie herrlich die Freiheit ist? Wie sollen sie erfahren, dass die Freiheit ein bewahrenswertes Gut ist?

 

In der theologischen Diskussion um die Freiheit eines Christenmenschen wird gern darauf hingewie­sen, dass zwischen der christlichen Freiheit, die ihre Bestimmung aus der Bindung an Christus ge­winnt, und einer säkularen, bis in die Bindungslo­sigkeit sich ausdehnenden Freiheit zu unterschei­den sei. Ich bin mir nicht sicher, ob diese - theologisch sicher notwendige - Unter­scheidung immer durchzuhalten ist. Wir sind nun einmal Christen und Bürger, Gerechte und Sünder. Wir zerfallen nicht in Sonntagschristen und All­tagsmenschen. Die aus dem Glauben gewonnene christliche Freiheit muss sich auch im Ringen um bürgerliche Freiheiten bewähren.

 

Und sie braucht nicht nur das event, sondern den beharrlichen, unspektakulären täglichen Einsatz, die Einübung (auch das eine Lernerfahrung aus der ukrainischen Lebenswelt). Thorsten Latzel veranschaulicht das in einem kleinen Ge­dicht:

 

Am Tag danach

Die eigentliche Revolution beginnt am Tag danach.

Wenn der Qualm verraucht ist, der Sekt getrunken, und die gewonnene Freiheit bewahrt sein will.

Dann schauen die alten Mächte zum Fenster rein. Und schicken charmante Gesandte vorbei -

Sicher­heit und Gewohnheit, Ordnung und Tradition.

"War denn wirklich alles schlecht an den Fleischtöpfen Ägyptens?"1

 

Martin Luther und die Reformatoren haben das Thema der christlichen Freiheit bei Paulus neu entdeckt. Sie haben mit dem Hirn verstanden und mit dem Her­zen gespürt: Ja, Paulus hatte recht. Es gibt diese Freiheit. Christus selbst hat in allem, was er tat, diese Freiheit verkörpert. Er war, können wir sagen, diese Freiheit. Freiheit aus der uneingeschränkten Bindung an Gott. An dieser Frei­heit wollten sich die Reformatoren orien­tieren. Und so ist es kein Zufall, dass Martin Luther in seiner berühm­ten Freiheitsschrift den zentralen Satz formulier­te: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christen­mensch ist ein dienstbarer Knecht unter alle Dinge und jedermann untertan." - Ganz im Sinne des Apo­stels Paulus spricht er hier. Und er entwickelt ein Bild vom Menschen, der durch das Vertrauen auf Gottes Gnade die Lebensangst über­windet. Er entwi­ckelt ein Bild vom Menschen, für den Gott nicht fern ist, sondern zu dem er mit Je­sus „Unser Va­ter" sagen kann. Er entwickelt ein Bild vom Men­schen, der durch den Glauben direkt zu Gott spre­chen kann - im Gebet und auch durch die Gemein­schaft mit anderen Menschen. So wird etwa das Wort Jesu konkret: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen" (Mt. 18,20).

 

Und das hat dann auch Folgen für die ganze Kirche. Wo Menschen in Freiheit zusammenkommen, da kann es keinen Druck und keine Machtausübung der einen über die anderen geben. Es kann keine Willkür ge­ben. Es dürfen keine geistli­chen Muskelspielchen passieren. Es kann nicht sein, dass die einen die anderen wieder unter das Joch der Knechtschaft bringen.

 

Hier ist der Glaube in seiner Unabhängigkeit von oft sehr kurzlebigen Freiheitsverständnissen ande­rer Anbieter auf dem Markt des gesellschaft­lichen Diskurses herausgefordert: Wie steht es mit der Freiheit der Weitergabe persönlichster Daten im Internet? Wie steht es mit Autorenrechten? Wie steht es mit den Entfaltungsmöglichkeiten für Kinder aus Harz-IV-Familien? Ab wann „lohnt" eine Nierentransplantation nicht mehr? Ergeben wir uns dem Kosten-Nutzen-Diktat des Marktes? Und geraten wir so nicht stikkum wieder un­ter das Joch der Unfreiheit? Wohlgemerkt: einer sehr säkularen Unfreiheit, die nichtsdestotrotz unser Leben, unsere Entfaltungs­möglichkeiten, un­sere Lebensperspektiven massiv beeinflussen kann. Wie ist es „am Tag danach" - frohes Erwachen oder Katerstimmung?

 

Der Theologe Oswald Bayer hat den folgenden Vor­schlag unterbreitet: „Ich schlage vor," schreibt er, „Freiheit als 'kritischen Vermittlungsbegriff' zu gebrauchen. Der Begriff der 'Freiheit' ist wie kein zweiter geeignet, einen fruchtbaren Streit um die Wahrheit des christlichen Glaubens und Lebens im Bezug zur jeweiligen geschichtlichen Situation zu entbinden"2.

 

Die Reformatoren sind da weit, sehr weit gegangen. Ganz konsequent haben sie das Thema der Freiheit aus dem Glauben durchdacht. Sie nehmen auch ihre Amtsträger in die Pflicht, die Theologen, die Pas­toren und Bischöfe. Im Augsburgischen Bekenntnis halten sie vorn fest, dass sie „magno consensu"3, „einträchtiglich" zur Formulierung ihrer Position gelangt sind; weiter hinten, im 28. Artikel „Von der Bischo­fen Gewalt" sagen sie in großer Eindeu­tigkeit, dass die Bischöfe „sine vi humana, sed verbo"4, also ohne menschliche Gewalt, sondern al­lein durch Gottes Wort die Kirche regieren sollen.

Lassen wir für heute die politischen Fragen der damaligen Zeit beiseite: dann finde ich hier ein Grundverständnis, das sich dem Diskurs ver­dankt, der Debatte, der kontroversen Diskussion und dem Ringen um eine gemeinsame Position. Dis­kurse brauchen Zeit. Aber wahrschein­lich ist die Entschleunigung von Entscheidungen ein Freiheits­signal, das wir ganz dringend brauchen, um dem Diktat des immer höheren Tempos entgegenzutreten.

 

Ich bin überzeugt: in eben diesem Sinn will uns der Text des großen Apostels an die Freiheit erin­nern und zur Freiheit ermutigen. Freiheit aus dem Glauben, Freiheit zur Gemein­schaft als Schwestern und Brüder, Freiheit zum Dienst an den Schwachen und Langsamen.

 

Freiheit des Menschen für Gott und für die Men­schen, die Nächsten, ja sogar die Feinde, ist und bleibt ein zentrales Anliegen des Evangeliums. Die Reformati­on, zu der wir uns bekennen, hat die Freiheit, dieses große Geschenk Gottes, neu ent­deckt und uns als Vermächtnis anvertraut. Unsere Aufgabe und unsere Würde ist es, dieses Vermächt­nis aufzunehmen und aus ihm zu leben.

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! ...

Denn in Christus Jesus gilt ... der Glaube, der durch die Liebe tätig ist" (Gal. 5, 1+6).

Amen.

 



Bischof Uland Spahlinger
Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche der Ukraine
Odessa
E-Mail: spahlinger.uland@gmx.de

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