Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Reformationsfest, 31.10.2013

Predigt zu Jesaja 62:6-7.10-12, verfasst von Friedrich Seven

 

 

O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen.

Lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!

Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auch für die Völker!

Siehe, der Herr lässt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her!

Man wird sie nennen „Heiliges Volk", „Erlöste des Herrn" und dich wird man nennen „Gesuchte" und „Nicht mehr verlassene Stadt".

Selbst Gott, liebe Gemeinde, gönnt sich keine Ruhe.

Wer hofft, vielleicht nach einer langen Sinnsuche, bei Gott anzukommen und endlich Ruhe zu finden, der wird durch den Propheten an die aktuelle Jahreslosung erinnert: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, aber die Zukünftige suchen wir."

Die Wächter, von denen Jesaja hier spricht, haben eigentlich in Jerusalem nichts mehr zu bewachen. Wer wird denn noch in eine in Schutt und Asche liegende Stadt einziehen, um ein geschlagenes Volk zu überfallen.

Die einzige Gefahr, die dem Volk hier noch droht, ist das Vergessen. Hier ist das Leben durch das Leben selbst bedroht, weil auf nichts mehr gehofft wird, weil augenscheinlich nichts mehr von der Zukunft zu erwarten ist. Da sollen die Wächter darüber wachen, dass das Volk Gott nicht vergisst, vor allem aber, dass Gott sein Volk nicht vergisst.

Denn wenn Gott die Menschen nicht mehr ansähe, ja wenn auch ihm anderes in den Sinn kommen könnte, dann würde er die Menschen auf immer und ewig vergessen. Das wäre dann doch das schlimmste Gericht.

Aber Gott will nicht von seinem Volk lassen, und er will bei seiner Zusage, ein neues Jerusalem zu errichten, bleiben. Deswegen braucht auch er die Wächter.

Von einer heilsamen Unruhe im Lande, davon spricht der Prophet, eine solche, die auch Gott bewegt. Wer könnte da einschlafen wollen?

„Wach auf, wach auf, du deutsches Land! Du hast genug geschlafen." So singen wir es mit Johann Walter, dem Dichter und Komponisten der Reformation, dem „Urkantor der lutherischen Kirche".

Wir feiern heute das Reformationsfest und wollen erinnern an Martin Luther, an das „Mönchlein", das die Suche nach Gottes Gerechtigkeit in Unruhe hielt.

Als ihm im Studium der Bibel Gottes Gnade geschenkt worden ist, ließ es ihm im Kloster keine Ruhe mehr. Das unruhige Suchen hatte ihn in die Klosterzelle geführt, und weil er mit der frohen Botschaft von der Rechtfertigung aus Gnaden nicht allein bleiben wollte, führte es ihn auch wieder hinaus. Wer in Gottes Liebe leben darf, den treibt es auch zu seinen Mitmenschen.

Gottes Wort ließ ihm keine Ruhe; und der inzwischen als Professor in Wittenberg wohl bestallte Theologe schrieb sich mit fünfundneunzig Thesen von der Seele, was er den Menschen zu sagen hatte. Alsbald wurde er gelesen, gehört und wieder neu gelesen bis heute.

Mit Luther veränderte sich die Kirche, das Land und das Reich, denn die Unruhe, die von ihm ausging, beunruhigte auch die politisch Ohnmächtigen und gar noch mehr die Mächtigen.

Dabei wollte sich der Reformator anfangs mit dem Thesenanschlag keineswegs auf eine Seite im Reich schlagen und etwa die Fürsten im Kampf gegen den alt-gläubigen Kaiser oder gar gegen die aufständischen Bauern unterstützen, aber die Unruhe, in die er die Menschen mit den Thesen versetzte, war so groß, dass sich mit ihr nicht nur die Frage nach dem gnädigen Gott im Himmel, sondern auch nach der Macht auf Erden stellte.

So ist Luther solch ein Wächter zu nennen, der die Sehnsucht in seinem Volk wachgehalten hat. Aber hat er damit auch Gott in Unruhe versetzen können?

Ist in der Geschichte, die sich da von Wittenberg aus in Bewegung setzte, wirklich auch Gottes heilsames Handeln zu spüren gewesen?

Bis heute ist es die Frage an die Geschichte, ob der 31. Oktober 1517 nicht nur ein Datum in der deutschen, der europäischen, ja gar in der Weltgeschichte ist, sondern zugleich auch eines der Heilsgeschichte.

Zu widersprüchlich sind die Ergebnisse: Die Freiheit eines Christenmenschen findet jedenfalls bis heute nicht überall den politischen Freiraum, den sich der Glaubende wünscht, um mit der Liebe zu Gott und zu dem Nächsten in Frieden leben zu können.

Nur der Blick auf die Reformation, ihre Geschichte und deren Folge bis heute kann uns nicht zum Glauben und zur Hoffnung auf das neue Jerusalem ermutigen.

„Die Angst mich zur Verzweiflung trieb und nichts denn Sterben bei mir blieb, zur Hölle musst ich sinken" , so haben wir es gerade gesungen und so werden wir es wohl auch weiter tun.

Zwischen der Geschichte und dem einzelnen Menschen, zwischen dem Leben und mir klafft ein unüberwindlicher Graben, zu tief und zu breit, als dass ich aus dem, was geschehen kann und mir geschehen ist, einen Sinn für mich finden könnte.

Im Grunde lebe auch ich noch in den Trümmern der heiligen Stadt und höre nicht den Weckruf der Wächter.

„Da jammert Gott in Ewigkeit mein Elend übermassen, er dacht an sein Barmherzigkeit, er wollt mir helfen lassen, er wandt zu mir das Vaterherz, es war bei ihm fürwahr kein Scherz, er ließ‘s sein Bestes kosten"

Da höre ich den Wächter Martin Luther, wie er von dem Retter singt, von dem Besten, dass Gott uns gegeben hat, seinem Sohn.

Bei Meister Eckehart, der die Verbindung des Christus mit der Botschaft des Propheten Jesaja genau erfasst hat, spricht Gott in seiner Unruhe, dass ihm keine hohe Gleichheit und kein Friede der Liebe genüge, bis dass er endlich selbst in seinem Sohn offenbar und er selbst in der Liebe des Heiligen Geistes entbrannt und entzündet würde.

Die Unruhe Gottes rührt daher, dass er sich selbst hineinbegeben hat in mein Leben. Ich soll mich daran erinnern, aber ich darf auch ihn daran erinnern.

Doch wenn sich Gott meiner erinnert hat, kann ich mich dann nicht zufrieden geben, statt mich nun erst recht beunruhigt auf den Weg zu machen in das neue Jerusalem?

Wer lässt sich denn noch so beunruhigen, wer macht sich denn noch Tag für Tag auf den Weg zum verheißenen neuen Jerusalem?

Möchten wir nicht viel lieber in unserer Stadt hier auf Erden bleiben, uns lieber in unseren Erwartungen und Hoffnungen auf das beschränken, was uns die Erfahrung und die Phantasie versprechen?

Wollen wir wirklich durch diese Tore, von denen Jesaja spricht, einziehen in das neue himmlische Jerusalem? Wer weiß, was uns dort erwartet. Das neue muss doch deswegen nicht unbedingt gut sein, bloß weil wir von ihm hören aus dem Munde des Propheten. Lasst es uns doch erst einmal vergleichen mit anderen kirchlichen Verlautbarungen.

Vielleicht suchen wir deswegen so nach den festen Kirchenmauern, weil wir Angst haben, Gott könnte auch sie erschüttern, wenn er seine Stadt neu erbaut.

Warum überhaupt solche Unruhe, ist es nicht schon Bewegung genug, wenn wir auf der Stelle treten?

Hören wir heute noch von der Gnade, von Gottes zuvorkommender Antwort auf all die Fragen, die uns nicht loslassen, weil wir mit ihnen den Wunsch nicht loslassen wollen, endlich menschenmögliche Lösungen für unser Leben zu finden?

Können wir noch von der Gnade hören, wenn wir ungnädig mit uns ins Gericht gehen wegen unserer Schwächen und wegen unserer Schwäche?

Aber die Liebe Gottes will uns aufhelfen aus unserer Schwachheit und setzt dich und mich in Bewegung zu den Menschen in unserer Stadt, zu den Menschen, mit denen wir uns auf den Weg machen können, um durch die Tore in das neue Jerusalem einzuziehen.

Keiner weiß, wie lange der Weg dorthin ist, aber im Glauben sind wir mit einem Menschen bekannt geworden, der schon in der Stadt lebt, die vom Himmel ganz auf die Erde kommen soll.

Wo geglaubt wird, ist noch eine Unruhe im Lande, die alles andere ist als der Sturm vor der Ruhe oder die Friedhofsruhe.

Martin Luther ist Zeit seines Lebens ein unruhiger Mensch geblieben, aber in der poetischen Dichte seiner Schriften und gerade in der Bewegung seiner Lieder wird doch immer wieder auch eine Ruhe spürbar, die schon an Gottes Ruhe nach getaner Tat erinnert.

Es ist die Ruhe, aus der der Dank kommt.

Amen!

 



Pfarrer Dr. Friedrich Seven
37412 Scharzfeld
E-Mail: riedrichseven@t-online.de

(zurück zum Seitenanfang)