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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Estomihi, 02.03.2014

Religiöse Riten ohne Nächstenliebe kommen bei Gott nicht an
Predigt zu Jesaja 58:1-9a, verfasst von Klaus Wollenweber

 

Liebe Gemeinde,

eine Frau bittet ihre Hausärztin, ihrem Mann einmal deutliche, ernste Worte über seine Lebenssituation zu sagen; denn er will seine Krebskrankheit nicht wahr haben und läßt sich auf keine weitere Behandlung ein. Wer von uns hört schon gerne eine unbequeme Diagnose eines Arztes oder einer Ärztin? Dabei sollen doch die klaren Worte zur Heilung anspornen und nicht die Situation verschlimmern!

Unbequeme, kritische Töne hören wir ebenso bei den biblischen Propheten. Sie führen mit scharfen Worten ihren Zeitgenossen deren „Krankheiten" vor Augen. Ziel ist ebenfalls keine Verschlimmerung, sondern eine Heilung, eine Veränderung zum gesunden, authentischen Leben.

Hören wir nun die für den heutigen letzten Sonntag vor der Passionszeit, vor der sog. Fastenzeit, vorgeschlagenen harten Worte aus dem Buch des Propheten Jesaja 58. Kapitel, die Verse 1-9a:
1 Der HERR sagt: »Rufe, so laut du kannst! Lass deine Stimme erschallen wie eine Posaune! Halte meinem Volk, den Nachkommen Jakobs, ihr Unrecht und ihre Vergehen vor! 2 Sie fragen mich Tag für Tag, warum ich sie solche Wege führe. Wie ein Volk, das sich an das Recht hält und meine Gebote befolgt, fordern sie von mir, dass ich zu ihrer Rettung eingreife, und wünschen sich, dass ich ihnen nahe bin. 3 'Was für einen Sinn hat es', jammern sie, 'dass wir Fasttage* abhalten und deinetwegen Entbehrungen auf uns nehmen? Du beachtest es ja gar nicht!' Darauf sage ich, der HERR: Seht doch, was ihr an euren Fasttagen tut! Ihr geht euren Geschäften nach und beutet eure Arbeiter aus. 4 Ihr fastet zwar, aber ihr seid zugleich streitsüchtig und schlagt sofort mit der Faust drein. Darum kann euer Gebet nicht zu mir gelangen. 5 Ist das vielleicht ein Fasttag, wie ich ihn liebe, wenn ihr auf Essen und Trinken verzichtet, euren Kopf hängen lasst und euch im Sack in die Asche setzt? Nennt ihr das ein Fasten, das mir gefällt? 6 Nein, ein Fasten, wie ich es haben will, sieht anders aus! Löst die Fesseln der Gefangenen, nehmt das drückende Joch von ihrem Hals, gebt den Misshandelten die Freiheit und macht jeder Unterdrückung ein Ende! 7 Ladet die Hungernden an euren Tisch, nehmt die Obdachlosen in euer Haus auf, gebt denen, die in Lumpen herumlaufen, etwas zum Anziehen und helft allen in eurem Volk, die Hilfe brauchen! 8 Dann strahlt euer Glück auf wie die Sonne am Morgen und eure Wunden heilen schnell; eure guten Taten gehen euch voran und meine Herrlichkeit folgt euch als starker Schutz. 9 Dann werdet ihr zu mir rufen und ich werde euch antworten; wenn ihr um Hilfe schreit, werde ich sagen: 'Hier bin ich!'

 

Liebe Gemeinde,

diese prophetischen Worte wirken wie ein schwarzer Kontrasttext zu dem närrischen Karnevalsgeschehen in diesen Tagen bis Aschermittwoch. Ist es sinnvoll, auf dieses närrische Treiben kritisch und mit prophetischen, harten Worten einzugehen? Da sind Menschen, die sich kostümieren, in eine andere Rolle schlüpfen, den Alltag einmal hinter sich lassen wollen und fröhlich mit anderen feiern, tanzen, schunkeln und lachen. Es gibt auch die Alkoholexzesse und Agressivitäten, aber diese sind nicht das Normale am farbenfrohen, lustigen Karnevalstreiben. Der biblische Prophet hat Karneval / Fasching nicht gekannt; er hätte es aber auch mit seinen scharfen Worten nicht vor Augen gehabt; denn ihm ging es um die rechte Zuordnung von religiösem Tun und alltäglichem Handeln der Menschen damals.

Die Menschen zur Zeit des Propheten waren wirklich religiös, fromm, und sie kleide-ten sich in Säcke und taten Asche auf Ihr Haupt. Ihre religiösen Rituale konnten einerseits sehr gemeinschaftsstärkend sein, wenn alle die gleichen Handlungen vornehmen, und andererseits sollte ihr Tun Ausdruck ihrer Reue und der Buße sein. Aber sie wahrten nur die rituellen Formen; sie funktionierten in Sachen Religion und wollten Gott gegenüber alles Regelhafte recht machen. Vergleichsweise wie im alltäglichen Leben einer Familie oder Ehe alles funktionieren kann; man ißt und trinkt, man arbeitet und ist gut versorgt, aber keiner nimmt die Sorgen und Nöte des anderen wahr, nimmt ihn einfach mal in den Arm und zeigt Verstehen und Einfüh-lung. Bei allem „Funktionieren" fehlt die echte Beziehung und die mitmenschliche Ausstrahlung.

In diese Situation hinein bringt der Prophet sein großes „Aber". Denn es wird eine Diskrepanz sichtbar zwischen dem vermeintlich religösen, gottgefälligen Tun und der inneren Einstellung zum Nächsten, zu den vorhandenen, sozialen Mißständen im Volk Israel. Alles mögliche unternahmen damals diese frommen Menschen mit ihren rituellen Fastenbräuchen, um Gott zu besänftigen und zu beeinflussen, und zugleich betrieben sie weiterhin ihre nicht gerade humanen Geschäfte: sie stritten miteinan-der, sie betrogen den Geschäftspartner, und - wenn möglich - suchten sie ihren Vorteil und hauten den anderen dabei übers Ohr. Ellenbogenrecht und Faustrecht wurden ungehindert zum eigenen Profit und Vorteil eingesetzt. Gier, Macht und Besitzstreben bestimmten das Handeln der nach außen hin sich fromm gebenden Menschen.

So ein Lebensstil ist unglaubwürdig und unerträglich!: Gott wohlgesonnen stimmen mit Fasten, die Hände falten zum Gebet und zugleich mit den Füßen nach dem Nächsten treten! Das widerspricht eindeutig dem Doppelgebot der Liebe. Gottes-liebe und Nächstenliebe gehören untrennbar zusammen.

Liebe Gemeinde, auch heute besteht die Gefahr, daß religiöse Übungen und rituelle Fastenhandlungen für das Wohlfühlen der eigenen Persönlichkeit wichtig genom-men werden und die soziale Komponente nicht mitbedacht wird. Das eigene Ich steht beim heutigen Fasten - wie z.B. bei der Aktion „7-Wochen-ohne" - im Mittelpunkt. Der Verzicht dreht sich hier um die eigene Person. In allen Ritualien, in denen Erlösung und Seelenheil gesucht wird, richtet sich der Blick hauptsächlich auf das eigene Seelenheil; i c h mache mir Sorgen um mich selbst, um meine Einheit von Leib, Seele und Geist. Ich soll meine Mitte finden, so wird es mir in Meditations-kursen angeboten. Dabei bleibt die fantasievolle Sorge um das Heil und Wohl des Nächsten auf der Strecke. Wenn ich den Nächsten nicht mehr wahrnehme, werde ich selbst zunehmend einsamer und isolierter. Das Alleinsein mit der Pflicht, die religi-ösen Rituale zu erfüllen, macht weder lebendig noch glücklich. Da ist man trotz aller Fastenriten fern von dem Gott des Lebens.

„Fasten" im prophetischen Sinne jedoch schafft eine menschliche Atmosphäre des Mit- und Füreinanders. So lichtet der Prophet den frommen Schleier, indem er auf-fordert: „Ladet die Hungernden an euren Tisch und nehmt die Obdachlosen in euer Haus auf." Nach der einwandfreien biblischen Diagnose mit dem Hinweis auf die krankhafte Ichbezogenheit der frommen Menschern folgt durch den Propheten die Therapie, der Hinweis auf die Möglichkeit des heilenden Prozesses: „Es strahlt euer Glück auf wie die Sonne am Morgen und eure Wunden heilen schnell." Wenn wir wörtlich übersetzen, kommt die medizinische Bildsprache noch besser zum Vor-schein: „dann wird über die Wunden neue, gesunde Haut wachsen"!

Von heilenden Wunden wissen wir, daß so ein Prozeß nicht von heute auf morgen vor sich geht. Der Prophet rechnet mit einer ungewissen Entwicklungsdauer dieses Heilungsprozesses, wenn Menschen sich auf den Weg von der selbstgenügsamen Frömmigkeit zur Hinwendung und Anteilnahme an Lebensprobleme anderer Perso-nen einlassen. Zugleich ist dieser Prozeß ein Vorgang der Befreiung von dem Kult-zwang um die Askese und von dem ichbezogenen Verzicht. Da geschieht eine Be-freiung hin auf ein neues Sehen: Ich kann mich den Sorgen, Nöten und Mühen anderer genauso zuwenden wie deren Glück und Freude. Das ist eine Befreiung, die die selbst verantwortete Isolation und Beziehungslosigkeit und somit das egozen-trische Denken und Handeln überwindet.

Dietrich Bonhoeffer hat 1944 aus dem Gefängnis heraus in einem Brief geschrieben:
„Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen - sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann - ... einen Kranken oder einen Gesunden - und dies nenne ich Diesseitgkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, - dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, ... und ich denke, das ist Glaube, ...; so wird man ein Mensch, ein Christ."

Liebe Gemeinde, die Menschen, die heute und morgen in bunten Kostümen ohne Übermut fröhlich feiern, können uns anstecken, den Raum zu einem Leben zu öffnen, der uns sonst verschlossen ist und bleibt, nämlich die eigenen Leiden, Sorgen und Mühen, mal zurückzulassen und den anderen Menschen wahrzunehmen und mit ihm den Raum der gemeinsamen Fröhlichkeit zu öffnen. Auch dies ist in Bonhoeffers Sinn eine Lebensweise, bei der wir uns Gott ganz in die Arme werfen.

Die eingangs so kritischen, harten lauten Worte des Propheten führen zu einer Heilung im Sinne einer Veränderung der Blickrichtung. Der so geheilte Mensch sieht jetzt in dem Fasten,Beten und in anderen Ritualen einen Weg, mit anderen Men-schen zusammen Gott zu begegnen und um Vergebung zu bitten. Der Geheilte weiß auch, daß Gott ihm hilft, das Elend und die Freude mit dem Nächsten zu teilen. Über diese neu gewonnene Lebenshaltung können wir uns nur freuen; denn Gott geht diesen Weg mit uns: „Wenn ihr um Hilfe schreit, wird Gott sagen: Siehe, hier bin ich!" Das sind die letzten Worte des Propheten, die noch heute für uns ihre Gültigkeit behalten haben. Wir Christen sehen sie in in den Worten Jesu Christi verwirklicht, wenn dieser uns mit dem Taufbefehl zusagt: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende."

Amen

Der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn. Amen

 



Altbischof Klaus Wollenweber
53129 Bonn
E-Mail: Klaus.Wollenweber@kkvsol.net

Bemerkung:
Lied EG 420 Brich mit den Hungrigen dein Brot
Lied EG 428 Komm in unsre stolze Welt


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