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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Pfingstsonntag, 08.06.2014

Die dritte Seite der Medaille: Gerechtigkeit, Freiheit, Lebendigkeit!
Predigt zu Römer 8:1-2.10-11, verfasst von Michael Nitzke

 

1 So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. 2 Denn das Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Christus Jesus, hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.

10 Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen. 11 Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.

 

Liebe Gemeinde,

"Gerechtigkeit, Freiheit, Lebendigkeit!" Das könnte auf einem der unzähligen Plakate gestanden haben, die in den letzten Wochen uns dazu bewegen sollten, unser Kreuzchen an der richtigen Stelle zu machen.

"Gerechtigkeit, Freiheit, Lebendigkeit!" Das könnte der Kampfruf einer Demonstration sein, die auf einem der großen Plätze dieser Welt stadtfanden, dem Tahirplatz, dem Taksimplatz, dem Maidanplatz.

"Gerechtigkeit, Freiheit, Lebendigkeit!" Für diese drei Werte in genau dieser Kombination kämpfen aber weder Parlamentarier, die nach Brüssel oder Straßburg wollen, noch haben die Freiheitskämpfer in Kairo, Ankara oder Kiew, diese drei Worte kombiniert.

"Gerechtigkeit, Freiheit, Lebendigkeit!" Das sind die Worte, mit denen ich den Bibeltext zusammenfasse, der heute Grundlage der Predigt ist.

Diese Worte mögen klingen wie ein revolutionärer Kampfruf, sie sind zwar plakativ, eignen sich aber nicht wirklich für einen Wahlkampf.

Wenn diese Worte, einen Kampf beschreiben, dann keinen der mit Straßenbarrikaden und Polizeiknüppeln ausgetragen wird. Hier wird ein Kampf im inneren des Menschen beschrieben. Es kämpfen Kräfte in der Seele und im Herzen des Menschen. Kräfte, die genau wie die Gewalt eines Despoten, den Menschen in Knechtschaft führen können. Und es erschallt der Ruf der Freiheit. Er klingt zunächst wie das Flüstern eines Widerstandskämpfers im Untergrund, und dann wartet man, bis sich die leisen Stimmen zu einer Hymne des Sieges über den Tyrannen vereinigen. Doch wer ist der Unterdrückte, wer ist der Gewaltherrscher, und wie sieht die Vision für die Zeit nach dem erfolgreichen Kampf aus?

Obwohl dieser Kampf um Gerechtigkeit, Freiheit und Lebendigkeit ein Kampf im Inneren ist, hat er sich doch auch auf den Plätzen einer großen Hauptstadt zugetragen.

Ein Korrespondent aus dieser Hauptstadt hätte von diesem Geschehen vielleicht so berichten können:

Es geschah am Har haBait und es war eine unerhörte Demonstration, die die Mächtigen in Rage versetzte. Ein Angriff auf die eingespielten Gepflogenheiten einer Gesellschaft. Eine Offensive, die für die einen ein notwendiger Zwischenruf war, für die anderen ein unzulässige Handlung, die die Grenzen des Erlaubten überschritten hatte. Ein Akt der Gewalt, eine Impertinenz sondergleichen. Auf dem Har haBait, zu Deutsch etwa Tempelberg, hat ein einzelner Mann die wirtschaftlichen Grundlage einer Kultstätte infrage gestellt. Er übte Gewalt gegen die Einrichtungen von Einzelhändlern und Finanzdienstleistern aus und rief anmaßend die Worte: "»Mein Haus soll ein Bethaus sein«; ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht." (Lk 19,46)

An einem Ort namens Kraniou Topos, bewahrheiteten sich die Rufe derer, die zuvor gefordert hatten, man solle ihn hinrichten. Gestandene Offiziere der Ordnungsmacht bekundeten allerdings nun Sympathien mit dem Aufrührer, der sein Leben aushauchte. Doch es war zu spät: Die Mächtigen, die den Volkszorn angeheizt hatten, betrachten zufrieden ihr Werk an diesem Platz, den man auch Golgatha nennt.

Es wurde ruhig um die Anhänger des Aufrührers, doch mehr als sieben Wochen später versammeln sie sich, um am Schawuot-Fest teilzunehmen. Sie verwandelten das Fest zu einer Präsentation neuer Stärke. Augenzeugen berichten, von einem ungewöhnlichen Sturm der sich während der Versammlung ereignete. Von den Anwesenden ging eine eigenartige Strahlkraft aus, als trügen sie Fackeln, was aber nicht der Fall war. Normalerweise vermischen sich zahlreiche Fremdsprachen an diesem kosmopolitischen Platz zu einem unüberwindbaren Stimmengewirr, aber jetzt lauschen sie alle der Stimme eines Mannes mit Namen Simon Petrus, dessen Rede den Platz erfüllt. Später unterziehen sich alle einem Ritual, das vor einigen Jahren ein Mann namens Johannes Baptist etablierte. Tausende lassen sich auf diesem Platz mit Wasser übergießen.

Sie erwarten von dieser Zeichenhandlung eine Art innere Reinwaschung, die sie mit dem Hingerichteten verbinden soll. Seine Anhänger haben seinen Tod nie wahrhaben wollen. Auf Befragen erklären, sie, er sei wieder am Leben. Wie dem auch sei, eines ist offensichtlich: An diesem Tag, den sie Pentekoste oder auch Pfingsttag nennen, erfüllt der Geist dieses Mannes unverkennbar den ganzen Platz. Das Verhalten der Teilnehmer verändert sich während dieser spontanen Versammlung. Beobachter vermuten, dass Alkohol im Spiel sei. Doch wer die Menschen sieht, erlebt ein Bild des Friedens.

Was wollen diese Menschen? Sie verlangen keinen Regierungswechsel. Wenn man dem späten Chef-Theoretiker dieser Gruppierung namens Paulus von Tharsus folgt, dann kann man das Anliegen dieser Menschen wie folgt beschreiben: Der Geist des Hingerichteten Jesus von Nazareth, der für seine Anhänger immer noch lebendig ist, verspricht: "Gerechtigkeit, Freiheit, Lebendigkeit!"

Erleben wir hier, wie an so vielen großen Plätzen der Welt, wieder eine friedliche Revolution, die sich später in ihr Gegenteil verkehrt, oder mit der Zeit im Sande verläuft? Wir würden es ihr nicht wünschen.

Soweit der Bericht des fiktiven Korrespondenten, von den Ereignissen, die sich heute wieder jähren.

Was ist da passiert, am ersten Pfingsten der Geschichte? War es der Start zu einer Revolution der Herzen, oder hat es herzlich wenig bewirkt?

Ich behaupte: Der Geist dieser Bewegung wirkt noch heute, und er bewegt die Herzen jeden Tag.

Um zu ermessen, welcher Kampf hier ausgetragen wird, muss man die Positionen kennen. Auf der einen Seite ist der Mensch. Auf der anderen Seite, ist das was ihn gefangen nimmt. Das ist das Joch der Knechtschaft, das jeder Freiheitskämpfer abschütteln will.

Die Namen dieser Unterjocher sind Sünde und Tod. Und diese beiden Namen sind die beiden Seiten derselben Medaille.

Bevor wir uns dieser Medaille mit ihren beiden Seiten widmen, müssen wir uns vergegenwärtigen, was diese Medaille für uns bedeutet. Diese Medaille glänzt so sehr, dass wir uns von ihr blenden lassen. Einerseits schmerzt dieses Blenden so sehr im Auge, dass uns die Tränen kommen, wenn wir nur daran denken. Andererseits zeiht uns der Glanz so an, dass wir vergessen, dass es nur der Abglanz einer Scheinwelt ist, die uns im Leben nicht wirklich weiterhilft.

Warum legen wir die Medaille nicht ab? Warum jagen wir ihr nach, und kümmern uns nicht lieber um wichtigere Dinge? Weil wir uns an sie gewöhnt haben. Und weil wir Gewohntes nicht mehr missen wollen und vor Ungewohntem zurückscheuen. Heute wird von Gefangenen berichtet, die eine gewisse emotionale Nähe zu ihren Unterdrückern entwickelt haben, weil sie niemanden anders sehen, und weil sie deshalb von niemand anderem Hilfe erwarteten, als von dem der ihnen die Freiheit raubt.

 

Die eine Seite der tyrannischen Medaille ist der Tod. Der Tod scheint unausweichlich zu sein. Der Tod, bestimmt unser Leben so sehr, dass wir oft die falschen Entscheidungen treffen, weil wir nur von diesem vermeintlichen Ende unser Leben betrachten. Die einen fürchten einen frühen Tod, und deshalb fürchten sie noch mehr, von dem, was ihnen im Leben bleibt, zu wenig zu bekommen. Sie packen ihr Leben voll mit Erlebnissen und Sehnsüchten. Sie erfüllen sich die skurrilsten Wünsche, weil sie sich sagen: "Wenn ich schon einmal dem Tod ins Auge sehen muss, dann will ich wenigstens alles Mögliche erlebt haben!" Und dabei tun sie oft Dinge, die ihnen selbst und ihren Mitmenschen nicht gut tun. Sie erliegen dem Glanz des Goldes, und merken nicht, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Sie geben ihren Sehnsüchten nach, und merken nicht, dass viele der Wege, die sich dadurch öffnen, geradewegs in die Sucht führen, die den Tod beschleunigt, statt ihn zu verdrängen.

Die anderen sind zu vorsichtig und vergessen, aus Angst vor dem Tod wirklich zu leben. Sie lassen sich von dem erwarteten Lebensende so sehr einschüchtern, dass sie vergessen, wie sie ihr Dasein mit Leben füllen könnten. Sie leben in der Angst, statt in Liebe zu leben. Leben ist auch immer ein Wagnis. Etwas Gutes zu tun, trägt auch die Möglichkeit des Scheitern in sich, wenn man es deshalb aber gar nicht erst versucht, ist das Vorhaben schon zum Scheitern verurteilt, bevor es begonnen hat. Liebe zu geben, ist so ein Wagnis. Das Risiko, besteht darin, dass sie nicht erwidert wird, wenn ich dieses Risiko aber nicht eingehe, weiß ich, dass ich keine Liebe empfange. Ein Leben ohne Liebe ist aber dem Tod schon sehr nahe. Diese Seite der Medaille glänzt dann so sehr, dass ich vor ihr die Augen verschließe.

 

Die andere Seite der erbarmungslosen Medaille ist die Sünde. Die Sünde ist nicht die Summe der kleinen Gesetzesübertretungen, die Sünde ist nicht das was man gemeinhin für unmoralisch hält. Die Sünde ist die Tatsache, dass ich nicht damit rechne, dass es noch etwas anderes gibt, als diese beiden Seiten. Die Sünde ist, dass ich mich vom Tod gefangen nehmen lasse, und nicht mit einem Befreier rechne. In meinem dunklen Verließ, sehe ich den Befreier nicht, aber ich muss mir immer vor Augen halten, dass er da ist und mich sucht, und eines Tages da steht und mir die Hand reicht, mich heraus zieht und in den Arm nimmt. Die Sünde ist, dass ich das Vertrauen auf den Befreier aus Augen verliere und nur den Blick auf den Tod richte, der mich gefangen nimmt.

Aber was sollen wir tun? Eine Medaille hat nun mal nur zwei Seiten. Was anderes gibt es nicht!

Stimmt! Und stimmt auch wieder nicht. Stimmt, eine Medaille oder eine Münze hat nicht mehr Seiten als zwei. Stimmt nicht, denn sie hat mehr als nur zwei Seiten, denn sie hat auch noch einen Rand. Und dieser Rand hat es in sich. Da steht nämlich oft etwas drauf. Die Randinschrift1 auf den deutschen Zwei-Euro-Münzen lautet genau wie auf den alten Fünf-Mark-Stücken: "Einigkeit und Recht und Freiheit", das hört sich fast so an, wie die Worte, mit den ich denen Paulustext beschrieben habe: "Gerechtigkeit, Freiheit, Lebendigkeit!" Aber die Paulusworte gehen noch wesentlich weiter als der Wahlspruch unseres Staates. Wer einmal ein niederländisches Zwei-Euro-Stück im Portemonnaie findet, kann auf dem Rand lesen: „God zij met ons" (Gott sei mit uns). Wenn es denn ernst gemeint ist, was auf dem Rand der holländischen Münze steht, dann ist das ein Hinweis, auf den, der uns allein Befreiung schenken kann. Ein Hinweis auf den, der Gerechtigkeit, Freiheit und Lebendigkeit schenkt.

 

Die dritte Seite der Medaille, der Rand, kann uns einen Hinweis darauf geben, was der Geist des Schöpfers und des Auferstandenen uns schenkt. Aber Vorsicht, es ist nur ein Vergleich, und sie wissen ja, jeder Vergleich hinkt.

Auf unserer Medaille steht die hoffnungsvolle Inschrift "Gerechtigkeit, Freiheit, Lebendigkeit".

Bei der Gerechtigkeit geht es um das rechte Maß. Ich darf keiner Seite zu viel entgegenkommen, sonst entsteht ein Ungleichgewicht, was zur Ungerechtigkeit führt. Es geht also darum, Balance zu halten. Dazu gehört eine ruhige Hand. Solch eine ruhige Hand brauche ich, wenn ich eine Münze auf den Rand stelle. Aber wenn es gelingt, bin ich froh, es entsteht ein neues Bild. Die Münze liegt nicht mehr, sie steht aufrecht.

Aufrecht stehen und aufrecht durchs Leben gehen, das ist auch ein Bild für das Leben in Gerechtigkeit. Dieser aufrechte Gang ist nicht immer leicht. Aber wenn ich einmal den Bogen raus habe, fällt es mir immer leichter.

Wir lassen die Medaille nun so aufrecht stehen und widmen uns dem Thema Freiheit, dazu brauchen wir sie nur vorsichtig anzuschieben. Sie beginnt zu rollen. Eine Münze kann auf dem Rand überall hin rollen. Sie ist frei. Vielleicht sind die Münzen der Händler und Wechsler im Tempel so befreit in alle Himmelsrichtungen gerollt, denn manchmal ist es gar nicht so schwer aufrecht zu stehen, das geschieht oft manchmal ganz unvermittelt.

Und Lebendigkeit? Wie gern hat man als Kind sich daran erfreut, Münzen auf dem Rand drehen zu lassen. Eine solche kindliche Fröhlichkeit heißt auch Lebendigkeit. Und das bedeutet sich nicht von nichts abhängig zu machen.

"Gerechtigkeit, Freiheit, Lebendigkeit!" Die dritte Seite der Medaille sollte uns ein wenig helfen, uns dem revolutionären Pfingstereignis zu nähern.

"Gottes Geist befreit zum Leben", mit diesen Worten hatte der Kirchentag 1991 im Ruhgebiet (bzw. Dortmund) diesen Text auf den Punkt gebracht. Vielleicht könnten wir diese Losung noch erweitern: Gottes Geist befreit zu einem Leben in Gerechtigkeit.

Wenn der Geist Gottes in mir wohnt, dann wird mich die Angst vor dem Tod nicht lähmen. Wenn der Geist Gottes in mir wohnt, dann wird er auch verhindern, dass ich mein Leben mit falschen Dingen so voll stopfe, dass kein Raum mehr für Liebe ist. Der Geist Gottes wird mich befreien, er verhilft mir zum aufrechten Gang eines freien Menschen, der jedem mit Gerechtigkeit begegnet.

Wenn der lebendige Geist Gottes in mir wohnt, dann werde ich immer Leben in mir haben, dann habe ich den Kampf gegen den Tod hinter mir, dann wird mich nichts mehr lähmen, mir nichts mehr Angst machen.

Der Geist Gottes macht lebendig. Ich habe meine Wahl getroffen. Oder sollte ich besser sagen, Gott hat seine Wahl getroffen? Denn Gott hat sein Kreuz gemacht. Am Kreuz zu Golgata, am Kraniou Topos, der Schädelstätte, hat er den Kampf mit dem Tod aufgenommen. Und er hat über ihn gesiegt am dritten Tag. Und fünfzig Tage danach am Pfingsttag wurden die Menschen vom Geist erfüllt, der zum Leben befreit.

 

Ich wünsche Ihnen ein frohes und gesegnetes Pfingstfest.

Amen.

 



Pfarrer Michael Nitzke
44229 Dortmund
E-Mail: michael.nitzke@philippusdo.de

Bemerkung:
1 www.zwei-euro.com/allgemein/randschriften.html (abgerufen 31.3.2014)


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