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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 14.09.2014

Predigt zu Apostelgeschichte 6:1-7, verfasst von Sibylle Rolf

 

In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen. Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Judengenossen aus Antiochia. Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten die Hände auf sie. Und das Wort Gottes breitete sich aus und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.


Liebe Gemeinde,

wenn ich mir die Konflikte ansehe, die es gegenwärtig in der Ostukraine, im Nahen und im Mittleren Osten gibt, bin ich manchmal versucht zu denken: ach, früher war alles besser! Unser Predigttext widerspricht. Auch in der frühen christlichen Gemeinde gibt es einen Konflikt zwischen Kulturen. Und das ganz kurz nach Pfingsten! Und das, obwohl doch alle vom Heiligen Geist berufen und zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen waren! Der Verfasser der Apostelgeschichte hatte in Kapitel 2 erzählt, wie der Heilige Geist über die Jünger gekommen war und der christlichen Gemeinde 3.000 Gemeindeglieder auf einmal hinzugefügt hatte. Zwei Kapitel später berichtet er von der Einheit der Gemeinde in der Gemeinschaft, in der Lehre der Apostel, im Brotbrechen und im Gebet. Man gewinnt den Eindruck: Es könnte nicht schöner sein: das Leben in der Gemeinschaft der Kirche bildet fast schon einen Vorgeschmack auf das Paradies ab. Man könnte sogar denken: Früher war alles besser. Es gab es eben doch, den Himmel auf Erden, das Paradies.

Allein, das Paradies ist nicht haltbar, auch (und vielleicht gerade) nicht in der christlichen Gemeinde. Der Predigttext berichtet: die Harmonie ist brüchig, Streit kündigt sich an zwischen Kulturen, ein Konflikt zwischen griechisch und hebräisch sprechenden Menschen. Und es ist nicht nur die Sprache, die entzweit, denn mit der Sprache werden Traditionen und Werte überliefert. Fremdsprachige Menschen bleiben einander fremd, unvertraut, unheimlich - auch wenn man sich noch im gleichen religiösen Kontext bewegt: es sind alles Judenchristen, also Menschen, die vom Judentum zum christlichen Glauben durch die Taufe übergetreten sind. Und doch: es sind griechisch sprechende und hebräisch sprechende Judenchristen. Einige Kapitel später wird die Apostelgeschichte den Übertritt des Evangeliums zu den Heiden erzählen. Wieder eine Grenzüberschreitung, und auch die ist mit Angst vor Fremdheit und mit Konflikt verbunden.

Hier wird also vom Konflikt berichtet zwischen den hebräisch sprechenden Judenchristen, deren Kultur und Herkunft der Alte Orient in Palästina ist, und den griechisch sprechenden Judenchristen, die mit der Sprache und dem Denken der damals Mächtigen aufgewachsen sind. Wer gebildet war, wer etwas zu sagen hatte: der sprach Griechisch. Der Apostel Paulus gehörte im übrigen da. Auch Lukas, der Verfasser des Evangeliums und der Apostelgeschichte. Der Sprachkonflikt ist ein Grenzkonflikt: was gehen mich die anderen an? Muss ich nicht vor allem für die sorgen, die mir nahe und vertraut sind? Hoch aktuell ist das. Was geht uns die wirtschaftliche Lage Italiens, Spaniens, Portugals oder Griechenlands an? Sind wir nicht zunächst für die Sanierung und die Wohlfahrt im eigenen Land, im eigenen Haus zuständig?

Die Apostelgeschichte berichtet: Der Konflikt zwischen den Kulturen wird auf dem Rücken der Schwachen ausgetragen - den alleinstehenden Frauen, schon damals die Menschen mit dem höchsten Armutsrisiko. Das zahlenmäßige Wachstum der Gemeinde, von dem unser Text berichtet, steht in scharfem Kontrast zum Hunger der Schwächsten. Während die Gemeinschaft scheinbar zunimmt, nehmen andere ab, und das wird als unerträglicher Gegensatz empfunden. Es geht darum in diesem Konflikt nicht nur um die Erfindung der Diakonie und den Einsatz der Armenpfleger, wie die Lutherbibel den Text überschreibt. Es geht um alles, um das Große Ganze, um Hunger und Macht, um Brot und Glauben und um die Frage, wie in der christlichen Gemeinde Glauben und Liebe zusammengehören.

Der Hunger der Witwen bekommt Symbolcharakter. Er ist ein Störfaktor. Witwen sind in ihrer Zeit Gefahren ausgesetzt. Sie haben niemanden, der für sie sorgt und können sich in ihrer Not nur an Gott wenden, von dem die Bibel sagt, er sei der Vater der Waisen und der Richter der Witwen. Wenn die Witwen sich an Menschen wenden, von denen sie annehmen dürfen, dass diese Gott nachfolgen, und wenn sie dann abgewiesen werden ihrer fremden Herkunft wegen - so ist das ein Skandal erster Güte, der die Glaubwürdigkeit der christlichen Gemeinde unterhöhlt. Denn damit werden die Witwen zu Menschen zweiter Klasse gestempelt, und ihnen wird das von Gott garantierte Recht auf Fürsorge verwehrt. Und das stellt die Gemeinschaft, die der Heilige Geist an Pfingsten gestiftet hatte, in Frage.

Lukas löst in seiner Erzählung den Konflikt bemerkenswert diplomatisch. Es geht nicht darum, Gemeinschaft zu zerschneiden und Vertrauen aufzukündigen. Es geht nicht darum, Schuld zu benennen. Sondern es ist ihm um die Wiederherstellung von Gemeinschaft zu tun, um die Möglichkeit, Bedürfnisse und Hunger zu stillen: den Hunger nach Brot, den Hunger nach Gemeinschaft und den Hunger nach dem Wort Gottes. Die Strategie ist lösungsorientiert: raus aus der Komfortzone des Schimpfens, rein in die anstrengende Zone des Tuns.

Die Gemeinde verfasst eine Stellenausschreibung: gesucht werden Menschen, denen die Aufgabe übertragen werden kann, sich um die Armen zu kümmern. Die Stellenbeschreibung geht mit einer Selbstverpflichtung der Jünger einher, die jetzt Apostel genannt werden: wir wollen das unsere tun, nämlich unsere Kräfte für die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus einsetzen, damit viele Menschen begeistert werden. Wir wollen nach Kräften den Hunger nach Gott stillen. Wir wollen den Menschen die Barmherzigkeit Gottes vor Augen stellen und die Sehnsucht nach Gottes Reich wecken, wo Gott den Hunger von allen stillt. Wir wollen die Hoffnung stärken, dass Gott das Leben für seine Menschen will.

Die Gemeinde lässt sich überzeugen. Sieben Namen werden genannt, allesamt griechischen Ursprungs, und die Sieben erhalten, was sie für ihren Dienst brauchen: Gebet und Segen. Gesegnet werden sie zu denen gesandt, die sie brauchen. Sieben sind es, für jeden Tag der Woche einer. Mit den sieben ist die Fürsorge für die Armen gewährleistet, mit den zwölfen der Dienst am Wort Gottes. Die Ordnung ist wieder hergestellt, der Konflikt ist befriedet. Die Witwen werden wieder satt, und die Gemeinde wächst.


Mit diesen wenigen Versen erzählt Lukas von einem Wendepunkt in der christlichen Gemeinde. Er erzählt, wie Menschen es verstanden haben, dass sie nicht nur für den Hunger derer zuständig sind, deren Sprache sie sprechen, sondern dass sie vielmehr gesandt und beauftragt sind, allen Hungrigen und allen Bedürftigen zu dienen. In dieser Gemeinde werden keine Stellen geschaffen, weil etwa ein Reformationsjubiläum ansteht, sondern es wird nach Lösungen gesucht, weil es handfeste Probleme gibt.

Der Text sagt mir: Für den Dienst am Evangelium braucht es nicht viel. Es braucht das Gebet und die Fürsorge für die Armen. Es braucht die Begeisterung des Glaubens, das Vertrauen in die Barmherzigkeit Gottes, und den barmherzigen Blick für Andere. Und beides gehört unbedingt zusammen, der Glaube und die Liebe. Das wusste auch Martin Luther, den sein Vertrauen in den gnädigen Gott stets bewogen hat, sich gegen den gnadenlosen Umgang von Menschen miteinander zu stellen. Diakonie ohne Gebet lässt die Suppe zu dünn und die Decke zu kurz werden, mit der wir andere zu wärmen versuchen. Gebet ohne Diakonie lässt uns die Bodenhaftung verlieren. Schwärmer hat Luther ein bisschen verächtlich diejenigen genannt, die sich im Gebet nur um sich selbst drehen und die Nöte ihrer Nächsten aus den Augen verlieren. Sie vergessen, dass Gott in Gestalt der armen Witwe selbst mit am Tisch sitzt.

Die Kirche Jesu Christi lebt nicht in der Feier ihrer selbst. Sie lebt nicht in der Feier von Reformationsjubiläen - so wichtig und interessant diese auch sein werden. Sie lebt im direkten Kontakt mit Menschen, die hungrig sind: hungrig nach Gottes Wort, das sie sich nicht selbst sagen können, und hungrig nach Brot, das sie sich nicht selbst geben können.

Was gehen uns die griechischen Witwen an? Was gehen uns die arbeitslosen Jugendlichen im Süden Europas an? Oder die Flüchtlinge, die sich auf den Weg nach Lampedusa machen? Was haben wir mit den verfolgten Christen im Irak oder in Nigeria zu schaffen? Was bedeuten uns die Konflikte der Kulturen in der Ostukraine und im Nahen und Mittleren Osten? All diese Menschen sind unsere Geschwister vor Gott, mit uns vereint durch den heiligen Geist des Pfingstfestes und auf unser Gebet genauso angewiesen wie auf unsere Hilfe. Wohlgemerkt: unsere Hilfe nicht als ein Almosen, sondern unsere Geschwisterlichkeit, indem wir das Leben und die Barmherzigkeit Gottes mit ihnen feiern und ihren Hunger stillen: den Hunger nach Gottes Wort und den Hunger nach Brot. Wie erfrischend, wie pfingstlich wäre eine Kirche, die mit Gott rechnet, der im Brot zu den Menschen kommt, der Menschen ohne Ansehen der Person Brot schenkt und seine Barmherzigkeit. Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist! Amen.

 



Pfrin. PD Dr. Sibylle Rolf
68723 Oftersheim
E-Mail:

Bemerkung:
Vorbemerkung: die Predigt verdankt sprachlich und inhaltlich wesentliche Einsichten der Meditation von Kristin Jahn, Arbeitsteilung im Paradies, GPM 68, 2014, 406-412. Nach der Predigt wird im Gottesdienst das Abendmahl gefeiert.


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