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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

17. Sonntag nach Trinitatis, 12.10.2014

Predigt zu Epheser 4:1-6d, verfasst von Ulrich Pohl

„Das machen wir alles zusammen, wir sind eine Familie", so lautete das geflügelte Wort der Mutter meines Freundes Hans. Es war schon eine besondere Familie: Da wurde viel gesungen, abends oft gemeinsam Halma gespielt oder Monopoly, am Wochenende gab es Wanderfahrten, auf denen ich manchmal mit dabei war. Als die Kinder größer waren, wurde gemeinsam musiziert. „Das machen wir alles zusammen."
Oft habe ich meinen Freund Hans um sein zu Hause beneidet. Doch dann kam die Zeit, an denen er den Satz vom alles zusammen machen verfluchte. Je älter er wurde, desto wütender wurde er auf diese „Einheitsklebe", wie er es nannte. Und desto größer wurde sein Bedürfnis, sich abzugrenzen, etwas Eigenes zu machen, sich selbst zu erfahren, „mal ohne die". Aber: „Das machen wir alles zusammen." Je länger die Mutter an dieser Forderung festhielt, desto unerträglicher wurde es für meinen Freund. Nun übernachtete er immer häufiger bei uns. Und kaum dass er das Abi in der Tasche hatte, zog er von zu Hause aus. Studiert hat er in München, so weit wie möglich weg von zu Hause. Heute ist er Professor in Bochum. Hin und wieder sehen wir uns, und zu vorgerückter Stunde wird dann der Satz zitiert: „Das machen wir alles zusammen."

Einheit ist kein Wert an sich, auch familiäre Einheit nicht. Verordnete Einheit kann einengend sein, erzwungene Einheit kann lähmen.

Der Apostel Paulus verordnet der Gemeinde in Ephesus aber genau das: Einheit und Einigkeit. Er hat gute Gründe dafür. Er sieht die Gefahr, dass sich die Gemeinden, die er gegründet hat, in verschiedene Parteien aufspalten. Denn viele von Ihnen waren ursprünglich selbst aufgrund von Abspaltung entstanden. Auch die in Ephesus, an die sich der heutige Predigtabschnitt richtet. Sie war und aus der dortigen jüdischen Synagogen hervorgegangen. Zu den jungen Christengemeinden zählten sich aber nicht nur Juden, sondern auch Frauen und Männer, die aus anderen Kulturen stammten, Griechen oder Ägypter zum Beispiel. Sie lebten nun alle - mit den verschiedensten kulturellen Prägungen unter einem Gemeinde-Dach zusammen. Die Judenchristen hatten strikte Vorstellungen davon, was religiöses Leben bedeutete. Sie hielten die jüdischen Speisegebote und beschnitten ihre kleinen Jungen. Die anderen kümmerten sich nur wenig um Reinheitsgebote, sie legten Wert auf ein einfaches und unbefangenes religiöses Leben. Die Gefahr, dass beide Gruppen in Streit gerieten und getrennte Wege gingen, war groß. Zudem wusste Paulus: Gemeinden, die sich einmal abspalten, haben die Tendenz, sich wieder und wieder zu teilen. Wie die zum Beispiel die Weingarten Gottes Gemeinde in NN, deren Werdegang ich in den letzen 25 Jahren mitverfolgt habe. Entstanden ist sie aus einer großen Gruppe besonders frommer Christen, denen die Landeskirche zu lax war. Fast ein Drittel der Kirchengemeinde spaltete sich damals ab. Samt dem Pfarrer zog man aus und gründete etwas Neues außerhalb aller kirchlichen Strukturen. Die neu gegründete Gemeinde blühte rasch auf, sie erhielt Zulauf von enttäuschten Christinnen und Christen aus der Umgebung. Doch dann hörte man immer öfter von Streitigkeiten. Nur fünf Jahre dauerte es, bis sich die Gemeinde erneut teilte: In einen fromm liturgischen-Zweig und in einen fromm-sozialen Zweig. Doch nun war keine der stark genug, ein Gemeindehaus zu unterhalten und eine Pfarrerin zu bezahlen. Heute ist von ihnen nur noch ein Häuflein Aufrechter übrig, die sich der Landeskirche wieder annähern. Solch ein Schicksal möchte der Apostel Paulus seinen Gemeinden ersparen. So führt er den Christinnen und Christen in Ephesus vor Augen, was alles sie eint: Ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott, der Vater ist über alle und in allem gegenwärtig.

Aber was, wenn ich gar keine Einigkeit vorfinde? Wenn es nur Zank und Streit gibt in der Gruppe, im Verein, in der Familie, in der Gemeinde?

Die biblische Geschichte, die wir eben in der neutestamentlichen Lesung gehört haben, erzählt davon. Man meint ja erst einmal, nicht richtig verstanden zu haben, aber tatsächlich: Jesus schickt die Frau, die da zu ihm kommt und um Hilfe bittet, mit einem wirklich barschen Satz weg: „Keiner nimmt seinen Kindern das Brot weg und gibt es den Hunden!" Hunde! „Jesus hat Anteil an den Vorurteilen seiner Zeit", so hat es ein kluger Bibelforscher einmal treffend formuliert. Vorurteile, Verletzung und Abgrenzung, das ist es, was aus dem Verhalten Jesu spricht. Von Einheit und Frieden keine Spur. Diejenige, die es schafft, das Blatt zu wenden ist die Frau. Sie nimmt Jesus beim Wort, bei seinem schlimmsten Wort sogar: Hunde. „Kann sein, dass ihr uns Hunde nennt, Herr. Aber selbst dann ist es doch so, dass die Hunde wenigstens die Reste bekommen, die bei Tisch übrig bleiben!"

Ist es die Schlagfertigkeit? Ist es die Beharrlichkeit, mit der die Frau für ihre Tochter bittet? Wie auch immer, Jesus lässt sich von ihr überzeugen. Er geht über die Brücke, die ihm die Frau anbietet und steigt damit über die Mauer, die sein Volk, die Juden, von allen übrigen Völkern, den Heiden trennt. Die Christinnen und Christen der Gemeinde in Ephesus werden sich diese Geschichte besonders gern ins Gedächtnis gerufen haben. Erzählt sie doch davon, dass es schließlich auch in den Augen Jesu etwas gab, was Juden und Heiden verbindet, mehr verbindet, als alles, was sie trennt.

Der Apostel Paulus also ermahnt und ermuntert die Gemeinde, daran zu arbeiten, dass sie eins ist und einig bleibt. Der Evangelist Matthäus zeigt uns in seiner Geschichte von Jesus und der Frau, wie das gehen kann: Mit viel Schlagfertigkeit, mit Phantasie und Beharrlichkeit. Mit der Bitte um Hilfe quer über alle Mauern hinweg. Und auch mit dem Mut, das auszusprechen, was noch trennt. Es deutlich auszusprechen, wie Jesus es tut, es sogar so auszusprechen dass darin die Verletzungen anklingen. Es liegt eine Verheißung darauf: Dort, wo ehrlich und offen gesprochen wird, hat ganz sicher jemand ein Herz, das größer ist als alles, was trennt. Und faßt sich jemand ein Herz und spricht das richtige Wort zur richtigen Zeit. Und das kann alle Feindschaft überwinden.

Das Wechselspiel zwischen deutlicher Abgrenzung und der Bereitschaft, sich für die Zusammengehörigkeit einzusetzen, ist wohl auch etwas, wovon die Politik lernen kann...

Gerade in den letzten Monaten erleben wir, wie um uns her mehr und mehr von dem, was Menschen miteinander verbindet, auseinanderbricht. Wir sehen mit Schrecken, wie Staaten aus einander brechen und der religiöse Hass um sich greift. Die Kriege werden rücksichtsloser, die Friedensverhandlungen so zäh, dass sie fast aussichtslos scheinen. Vielleicht liegt es daran, dass mittlerweile zu vielen die Grundlage fehlt um eigenverantwortlich und in Würde zu leben: Überfischte Meere, ausgelaugte Böden, Heerscharen von Hungernden Familien, von Kranken und Sterbenden. Kein Mensch, der den Verlust seiner Heimat nicht als tiefen Schnitt empfindet, wir hier zwischen den Braunkohlelöchern wissen das. Die einen verlieren, woran sie hängen. Die anderen leben komfortabler, reicher und satter als bisher. Die einen hungern und finden keinen Ort zum leben. Die anderen leben im Überfluss.

Deshalb: Überall da, wo von Weltgemeinschaft, Frieden, Einigkeit und Grundwerten die Rede ist - müssen klare Worte gesprochen werden: Es geht nicht ohne Gerechtigkeit! Ohne Gerechtigkeit und ohne dass alle Menschen auf diesem Planeten ein intaktes Umfeld vorfinden, um selbstbestimmt zu leben. Ohne Gerechtigkeit wird die Einheit zur Diktatur. Unsere Nationalhymne weiß das: Gleich hinter der Einigkeit besingt sie das Recht! Und gleich hinter dem Recht die Freiheit. Auch der Apostel Paulus selbst hatte ein Gespür für diesen Zusammenhang, er spricht von der Toleranz: Ertragt einer den anderen in Liebe. Einheit braucht Vielfalt. Und die Bereitschaft, allen Menschen einen Platz zuzubilligen, wie auch immer sie leben, was auch immer sie denken und glauben.

Zuletzt hat der Bibelabschnitt des Sonntags für mich noch eine weitere Bedeutung. Gott liegt auch an der inneren Einheit seiner Geschöpfe, der Menschen. Er will ihre innere Unversehrtheit. Wir sollen nicht mit uns selbst uneins werden, wenn wir uns in Beruf, Familie oder Gesellschaft einer vorgegebenen Einheit unterordnen. Wenn wir dauerhaft funktionieren, also bei etwas mitmachen, obwohl wir eigentlich nicht davon überzeugt sind, kann es sein, dass wir uns selber fremd werden. Ich habe das als Gefängnispfarrer erlebt. Ich habe im Gefängnis viele Häftlinge als Menschen kennengelernt. Sie haben mir gebeichtet, was sie mit ihren Taten angerichtet haben. Und - viel schwerer für sie: Sie haben sie mir erzählt, was sie als junge Menschen selbst mitgemacht haben. Kein Täter, und sei sein Verbrechen noch so widerwärtig, der nicht irgendwann in seinem Leben einmal ein Opfer gewesen ist. Wenn ich „meine Jungs" immer mal wieder so erkannt habe, so verletzt und verletzlich wie sie wirklich waren, habe gedacht: Dieser Mensch braucht in erster Linie Liebe und nicht Strafe. Trotzdem musste ich sie nach dem Gespräch wieder auf die Zelle zurück bringen und hinter ihnen den Schlüssel im Schloss drehen. Ich habe mir gesagt, komm das ist jetzt so, da hast du ja zu gesagt und jetzt musst du das auch machen. Mach zu, vergiss dein Mitleid und dein Verständnis. Du musst jetzt funktionieren.
Funktionieren und versuchen, den inneren Widerspruch zu vergessen, ihn dauerhaft beiseite zu schieben. Dabei kann es passieren, dass man sich in der einen oder anderen Situation nicht mehr wiedererkennt. Und dass man auf die Dauer mit sich selbst uneins wird.

Für die, die so etwas erleben, sind die Worte des Apostels Paulus auch ein Trost: Ein Herr, ein Gott, eine Taufe. Auch wenn ich manchmal nicht mehr weiß, ob ich noch ich selbst bin, bleibt doch Gott, der mich als einen ganzen und heilen Menschen betrachtet. Bleibt Gott, der Einer ist und einer bleibt, einer in allem und durch alles und über allem. Dann entpuppt sich die Einheit als Geschenk. Die Einigkeit eines Menschen mit sich selbst, aber auch die Einigkeit einer Gemeinde: Ein Geschenk, das Gott gibt. Es ist etwas, wofür wir Menschen nur sehr bedingt selbst sorgen können. Es ist etwas, wofür Gott sorgen will. Natürlich ist es etwas, wofür wir uns einsetzen sollen. Aber am meisten ist die Einheit unserer Familien, unserer Gemeinde und unseres eigenen Ich etwas, wofür wir beten sollen.

 



Pfarrer Ulrich Pohl
Neuss/Kirchherten
E-Mail: Ulrich.Pohl@ekir.de

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