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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Miserikordias Domini, 19.04.2015

Der gute Hirte
Predigt zu Johannes 10:11f., verfasst von Eberhard Busch

Der heutige Sonntag trägt die lateinische Bezeichnung Misericordias Domini. Diese Worte sind aus Psalm 89 genommen, wo es heißt: „Von den Taten der Barmherzigkeit Gottes will ich singen“. Der heutige Tag will unsere Gedanken genau darauf hinlenken:  auf Gottes Barmherzigkeit. Von ihr mögen wir singen und uns freuen an ihr. Was mit ihr gemeint ist, hat man sich oft mit dem Gleichnis Jesu von dem guten Hirten veranschaulicht. Davon redet unser heutiger Predigttext. Man kann zuweilen in älteren Wohnungen Bilder von solchem guten Hirten sehen, der um sich eine Schar von Schafen versammelt hat. Manchmal trägt er eines von ihnen auch auf dem Schoß oder auf den Schultern. Vielleicht kennen einige noch das schlichte Kinderlied und summen es zuweilen: „Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten ...“ Einst besuchte ich einen noch nicht alten Landwirt, der nach einem, wie er selbst meinte, verkehrt gelaufenen Leben im Sterben lag. Der schaute nun unablässig zu einem solchen Hirtenbild an der Wand auf. Das gab ihm an seinem Ende einen tröstlichen Halt.

Solche Bilder haben eine lange Tradition. Bereits eines der ältesten christlichen Gemälde in einer römischen Katakombe zeigt einen jungen Hirten, der sich seiner Schafe annimmt. Das Bild von dem guten Hirten ist aus der Bibel übernommen. Im Alten Testament, beim Propheten Hesekiel (34,23), lesen wir, wie Gott seinem Volk verheißt: „Ich will ihnen einen einzigen Hirten erwecken, der sie weiden soll.“ Bekannt ist der Psalm 23, der davon redet, dass Gott selbst dieser Hirte ist; und darum werde uns nichts mangeln, selbst wenn wir in einem finsteren Tal wandern müssen. Im Neuen Testament ist das aufgegriffen. Hier, in unserem Predigttext sagt Jesus sogar von sich: „Ich bin der gute Hirte“. Ist es nicht geradezu atemberaubend, wie er hier das auf seine eigenen Lippen nimmt, was der Psalm von Gott sagt? Und er sagt es so, dass niemand Anderer das auf seine Lippen nehmen kann! Er ist es und kein Anderer außer ihm und keiner so wie er. 

Es ist erst recht atemberaubend, wenn wir weiter fragen: Woran ist es denn erkennbar, dass er der eine gute Hirte ist? Er, der doch als Wanderprediger durch Palästina zog und schließlich am Kreuz hingerichtet wurde! Gerade er der eine gute Hirte? Was zeichnet ihn denn aus? Im Lukasevangelium erzählt Jesus in einem anderen Gleichnis von einem Hirten, der von den Schafen seiner Herde weggeht, um statt dessen dafür ein einziges Schaf zu suchen, das verlorengegangen ist und sich verirrt hat (Lk 15,1-7). Dem geht er nach, bis er es findet und mit Freuden auf seine Schultern legt. Eine seltsame Geschichte! Wie kann jemand um eines einzigen, davon gelaufenen Tiers willen all die anderen stehen lassen! Und was hat das mit Gott im Himmel zu tun? Doch passen wir gut auf: Was hat das mit Gott im Himmel zu tun? Ja, eben dies: So wie der, der uns im Bild des Hirten vorgestellt wird, genau so ist Gott! Was dieser tut, das tut er voll in Übereinstimmung mit „unserem Vater, der du bist in dem Himmel“. Wollen wir uns Gott im Himmel vorstellen, so tun wir es darum am besten so, dass wir uns diesen Hirten vor Augen halten, so wie jener Landwirt , ihn, der hier auf der Erde den Verlorenen und Missratenen nachgeht. Bis er sie findet und sich ihrer annimmt! Er ist „der gute Hirte“.

Allerdings gibt es auch untaugliche Hirten. „Mietlinge“ werden sie in unserem Text genannt. Woran erkennen wir sie? Eine echte Frage. Denn man hält sie zumeist gar nicht für arge Gestalten. Es scheint nicht so schlecht, was sie attraktiv macht. Sie treten mit schönem Gesicht auf. Die Medien lenken unsere Augen und Ohren auf sie hin; und wir jubeln ihnen zu. Man läuft ihnen nach, in der Tat wie dumme Schafe. Aber man täusche sich nicht! Diese falschen Hirten lenken uns leicht ab von dem, was uns ernstlich bedroht. Es ist die Gefahr, bildlich gesprochen, durch einen Wolf angefallen zu werden, ein Untier, das, wie im Märchen vom Rotkäppchen, es sich bei uns bequem macht, „damit ich dich besser fressen kann“. Heute ahnen wir etwas von Bedrohungen, die die Menschheit „auffressen“ wollen. Aber in solcher Gefahr ist auf jene verkehrten Hirten kein Verlass. Da sind sie verschwunden und helfen nichts. Wenn es drauf ankommt, lassen sie uns im Stich. Da suchen sie das Weite und wollen lieber selber ihre eigene Haut retten. Die falschen Hirten denken halt an sich selbst zuerst.

Oder ist wenigstens auf uns selbst Verlass angesichts solcher Bedrohung? Bei einem Abschied von Anderen pflegt man zu sagen: „Pass auf ich auf!“. Das ist eine gut gemeinte Redensart. Sie meint auch etwas Rechtes: Wir sollen unser Leben nicht töricht aufs Spiel setzen. Unser Leben ist ein einmalig Kostbares. Aber da ist es doch schon ein starkes Stück, dass in diesem Bibelwort so kühn erklärt wird: Wir alle brauchen einen Aufpasser, und das seien nicht wir selber. Ist das nicht eine Zumutung, die wir sofort abschütteln möchten? Ich kenne einen Gelehrten, der die Menschheit einteilte in „Ährenleser“, wie er es nannte, und in freie Menschen; und mit den Ährenlesern meint er unselbständige Menschen. Nach meiner Erfahrung machen wir alle gern diese Unterscheidung. Selbstverständlich halten wir uns dabei für die Freien, im Gegensatz zu den anderen, die Schafsköpfe sind. Wie viele Autofahrer fahren heute nach diesem Grundsatz! Doch gehört auch das zur Barmherzigkeit Jesu, dass er uns da widerspricht: Für ihn können wir alle tatsächlich nicht für uns allein leben. Wir sind  Kreaturen, die irgendwem hinterher laufen, und sei es einer Gestalt wie dem Rattenfänger von Hameln, der die ihm Folgenden ins Verderben führt. Der gute Hirte rettet uns von dem Verderben, indem er solchem Betrug widerspricht.

Und das ist wahrhaftig ein eingreifender Widerspruch. Der gute Hirte redet nicht von dem, was uns lieb und teuer ist. Er redet davon, dass wir ihm lieb und teuer sind. Er redet nicht von unserem Eigentum und seinem Schutz. Er redet von seinem Eigentum.  Er hat das Recht, uns an seine Hand zu nehmen. Er übt dieses Recht aus und Er erhebt diesen Widerspruch, weil er für uns der gute Hirte ist. Er weiß, ihr könnt allein nicht gehen, nicht einen Schritt. Deshalb geht es in unserem Leben entscheidend nicht darum, was uns alles gehört. Es geht zuerst darum, dass wir ihm gehören. Deshalb gilt, so wie es im Psalm 100 heißt: „Sein sind wir, sein Volk und die Schafe seiner Weide.“ Gleich am Anfang des Heidelberger Katechismus (von 1563) ist das aufgenommen: Das ist mein einziger Trost, „dass ich mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben nicht mein, sondern meines getreuen Heilandes Jesu Christi eigen bin ...“ Und schon der Reformator Calvin schrieb: „Wir gehören nicht uns, vielmehr wir gehören dem Herrn, im Leben und im Sterben.“ Wir sind in seiner Hand und niemand darf uns daraus herausreißen. Wir gehören ihm, mit allem, was uns gehört.

Wer ist der, der so nach uns greift? Ein raffgieriger Herrscher, der alles für sich haben will? Ein Taugenichts, der auf Kosten anderer leben will? Einer der modernen Raubritter? Hören wir nur gut hin! Im Gegenteil, vielmehr das ist meine Beglaubigung, sagt er: Ich bin damit der wahre Aufpasser, damit der gute Hirte der Menschen, dass ich mich für sie aufopfere und aufreibe. „Der gute Hirte lässt sein Leben.“ Dieses Sich-Aufopfern, sein Sterben und Tod, das ist sein Beweis dafür, dass er das Recht und die Fähigkeit hat, als der wahre Hirte und Hüter für Andere da zu sein. Ist das nicht ein sonderbarer Vorzug vor all den leuchtenden Gestalten, die sich eindrucksvoll vor uns aufspielen, so als seien sie unsere Leitfiguren?

Ist es nicht sogar abstoßend, sich der Obhut einer solch armseligen Gestalt anzuvertrauen? – einer solchen, die sich derart ganz und gar verausgabt, dass sie darüber ihr Leben verliert! Der Dichter Johann Wolfgang von Goethe hat den Satz notiert: Er hasse vier Dinge – den Rauchtabak, Wanzen, Knoblauch und das vierte Wort wollte er nicht einmal ausschreiben, sondern er malte es nur: ein Kreuz. Hat er damit nicht ausgeplaudert, was so manche einfachere Geister ebenso denken, was uns wohl im Grunde alle empört: das Kreuz im Mittelpunkt des christlichen Glaubens? Der Apostel Paulus hat an die Korinther geschrieben: „Ich hielt mich nicht dafür, dass ich etwas Anderes wüsste unter euch als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten“ (1. Kor.2,2). Und wir haben dem, nach dem Jünger Johannes, hinzuzusetzen: Wer etwas Anderes wissen will, der weiß auch nichts von dem guten Hirten.

Aber wir verstehen das nicht, wenn wir nicht sofort die Fortsetzung dieses Satzes hören: „Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“ Dazu das bittere Kreuz – „für uns“, auch „für mich“, nicht nur für mich, auch für zahllos viele Andere. Jesus sagt im selben Zusammenhang das Geheimnisvolle: „Ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; und die muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören und wird eine Herde und ein Hirte werden“ (V. 16). Wie tröstlich und wie hoffnungsvoll klingt das! Auch die vielen von uns Vergessenen und Übersehenen – Er, der gute Hirte, hat sie nicht vergessen und Er übersieht sie nicht. Er ist auch für sie da, nicht weniger als für uns. Er nimmt uns nicht nur als sein Eigentum in Anspruch. Er opfert sich selber auf für dieses sein Eigentum. Und wenn Gefahren über uns kommen – und wir stehen ja heutzutage schon mittendrin, er sucht da nicht wenigstens seine eigene Haut zu retten. Er flieht nicht. Er lässt die Seinen nicht im Stich, und wenn es ihm das eigene Leben kostet.

Aber warum setzt er sich derart für die Seinen ein? Was findet er denn an ihnen, an uns so Hervorragendes, dass er sich für sie, für uns so extrem hingibt? Die Frage, ob wir ihn als unseren guten Hirten anerkennen, dreht sich auf einmal um und wir sind gefragt: Was findet er denn an uns, dass er uns in seiner Nähe haben will? Der Berner Pfarrer Walter Lüthi schrieb dazu: „Nicht unsere Stärke, nicht unser Haben, nicht unsere Güte ist es, die ihn reizt, uns zu besitzen, sondern umgekehrt: unsere Armut, unsere Not ist es, unsere Mangelhaftigkeit, unser Unvermögen – unsere Sünde. Sie treibt ihn dazu, unser Hirte zu sein.“ Kurz, es ist von uns unverdient, dass wir bei ihm sein dürfen. Wir hätten anderes verdient. Aber er nimmt es auf sich, was wir verdient haben. Der schlesische Liederdichter Johann Heermann schrieb dazu die Zeile: „Wie wunderlich ist doch diese Strafe: der gute Hirte leidet für die Schafe.“

Was bleibt uns übrig als dies, dem guten Hirten dafür zu danken und ihm zu folgen, wohin er uns auch führen mag. Und ihm zu folgen, gehorsam seinem Ruf, seinem Wort und seiner Weisung. So ihm folgen in unseren täglichen Aufgaben und im Umgang mit unserem Geld und Gut, in unsere Freuden und Leiden. Ihm folgen! Sind wir einmal schon darauf gekommen, dass die Schafe hinter einem Hirten uns darin ein Vorbild sein können?



Prof.Dr. Eberhard Busch
37133 Friedland
E-Mail: ebusch@gwdg.de

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