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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Jubilate, 26.04.2015

Predigt zu Johannes 16:16-22 (dänische Perikopenordnung), verfasst von Niels Henrik Arendt

Wenn man die Erzählungen aus der Bibel liest oder im Gesangbuch liest oder aus ihm singt, kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass unsere eigene Zeit gefühlsarm ist im Vergleich zu dem, was hier erzählt wird. Nimmt man die Abschiedsreden Jesu, den Text für diesen Sonntag, dann spricht Jesus davon, dass die Jünger weinen und klagen und trauern werden, wenn sie Jesus nicht mehr sehen können. Auch in den Liedern, die wir singen, ist von Weinen und von Freude in einer Weise die Rede, die wir aus unserer Wirklichkeit gar nicht kennen. Sind wir geistig abgestumpft, nicht mehr imstande, wirklich tief zu fühlen? Berühren uns die alten Worte nicht mehr wirklich, weil unsere Bedürfnisse in der Gegenwart anders sind als damals, als diese Worte geschrieben wurden?

In dem, was Jesus zu seinen Jüngern am letzten Abend sprach, als sie zusammen waren, liegt dies, dass alles in ihrem Leben grundlegend davon abhängt, ob er gegenwärtig ist oder nicht. Wenn er da ist, soll Freude sie bestimmen; denn wenn sie ihn sehen, werden sie auch ihr eigenes Leben deutlich sehen, sehen, was der Sinn dieses Lebens und von allem anderen ist. Aber wenn er nicht gegenwärtig ist, wird ihr Leben von Trauer und Schmerz geprägt sein, die sich nach Erlösung sehnen. Dann wird nicht nur er ihnen verborgen sein, sondern auch der Sinn von Leben und Tod, dann werden alle die Fragen zurückkehren, deren Antworten sie kannten, als er unter ihnen war.

Wenn die Worte, die Jesus zu den Jüngern sagt, so gelesen werden sollen, dass sie auch uns angehen, dann müssen auch wir stets mit einem solchen unerlösten Schmerz leben – wir leben ja mit den unbeantworteten Fragen, wir können keineswegs immer sehen, was der der Sinn ist mit dem, was in der Welt geschieht oder was der Sinn unseres eigenen Lebens ist. Jesus ist für uns unsichtbar – in diesem Sinne leben wir in derselben Situation wie die Jünger. Aber wir leben nicht mit einer verborgenen oder offenbaren Trauer darüber.

Vielleicht ist das in Wirklichkeit am schlimmsten für uns selbst, denn vielleicht bedeutet das, dass wir auf die entsprechende Freude verzichtet haben. Wir leiden nicht unter dem Zustand der Gegenwart, weil wir vielleicht nicht wirklich erwarten, dass es eine größere Freude geben kann als die, die uns vergängliche Güter geben können. Oder vielleicht weil wir aufgegeben haben, resigniert haben, uns damit abgefunden haben, dass unsere tiefsten Sehnsüchte nicht in Erfüllung gehen können.

Jesus spricht davon, dass das Leben hier einen Schmerz enthalten kann. Ein leichteres Gefühl der Unvollkommenheit kennen wir wohl. Wir können von Unzufriedenheit ergriffen werden mit unseren Möglichkeiten. Wir können verlangen, dass wir genauso viele Güter des Lebens erhalten wie die anderen. Wir können auch zuweilen meinen, dass das Dasein viele unbeantwortete Fragen enthält. Aber geradezu ein Schmerz? Nein, soweit lassen wir es nicht kommen, denn das hieße große Erwartungen haben, und was wollen wir eigentlich mehr als es schön und gemütlich zu haben, solange wir leben?

Aber wir betrügen uns selbst – wir lassen uns betrügen, wenn wir nicht wirklich das Vollkommene wünschen. Wir betrügen uns selbst, wenn wir den Schmerz umgehen und uns nicht wirklich anfechten lassen. Wir beruhigen uns damit, dass die höchst vergänglichen guten Gaben, die wir in unserem Leben empfangen, dennoch „gut genug“ sind, es macht keinen Sinn, mehr zu wollen. Da ist zu wenig Zweifel in uns, und deshalb auch zu wenig Glauben. Da ist zu wenig Hoffnung in uns, und deshalb auch zu wenig Schmerz. Wir haben die Perspektive verkürzt. Wenn wir Gott nicht sehen können, sind wir damit zufrieden, dass wir dann ohne ihn leben müssen. Wenn wir keine Antwort auf unsere Fragen erhalten, stellen wir sie nicht mehr. Wenn es die Vollkommenheit nur als Hoffnung gibt, und sogar als eine Hoffnung, die sich nur in Bildern ausdrücken kann, verzichten wir auf sie. Wenn der Schmerz über die Unvollkommenheit des Lebens nicht in dieser Welt verwunden werden kann, verdrängen wir ihn.

Die Worte der Bibel und in den Liedern wirken vielleicht für unsere Wirklichkeit zu groß, aber das liegt daran, dass unsere Wirklichkeit zu klein geworden ist. Unsere große Gefahr ist, dass wir gegenüber all dem, was wir nicht unmittelbar durchschauen können, aufgeben und uns dann damit begnügen, unsere unmittelbaren Bedürfnisse zu befriedigen.

„Ihr werdet weinen und heulen“. d.h. Ihr sollt euch nicht dadurch selbst betrügen, dass es scheinbar keine Antwort auf all das gibt, was Ihr nicht versteht. Ihr sollt Euch nicht auf diese Welt fixieren, damit sollt Ihr Euch nicht begnügen. So wie alle Trauer Ausdruck dafür ist, dass das Leben etwas Gutes ist, so ist die Trauer, von der Jesus spricht, Ausdruck der größten Erwartung an das Leben. Wir leben noch nicht in der Zeit, in der Jesus sichtbar unter uns ist, wo die Freude vollkommen ist, wo alles „klar zu schauen ist“, wo alles Sinnlose endgültig überwunden ist, aber wir leben in einer Zeit, in der wir unsere eigene unvollkommene Wirklichkeit im Lichte der Worte sehen können, die wir heute gehört haben: „Ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen“.

Wir sind noch immer sterblich, aber wir sind nicht unwiderrufliche Opfer des Todes. Wir sind „Hütten aus Erde“, aber Gott wohnt unter uns.

Ich möchte ein afrikanisches Gleichnis erzählen: Ein Mann fing eines Tages einen jungen Adler, nahm ihn mit nach Hause und setzte ihn zu seinen Hühnern, gab ihm Hühnerfutter, obwohl er ein Adler war, König der Vögel. Eine Jahre später kam ein Mann zu Besuch und sagte: „Dieser Vogel ist ein Adler und kein Huhn“. „Ja“, sagte der Besitzer, „aber ich habe ihn dazu erzogen, ein Huhn zu sein. Er ist kein Adler mehr; er ist ein Huhn, auch wenn es fünf Meter zwischen seinen Flügelspitzen sind“. „Nein“, sagte der Mann, „er ist noch immer ein Adler, er hat das Herz eines Adlers. Ich werde ihn dazu bringen, in den Himmel zu steigen“. „Nein“, sagte der Besitzer, „das ist ein Huhn, das nie fliegen wird“. Sie einigten sich darauf, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Der Fremde nahm den Adler, hob ihn empor und sagte mit großer Überzeugung: „Adler, du bist ein Adler, du gehörst dem Himmel und nicht dieser Erde, breite deine Flügel aus und fliege“. Der Adler sah nach beiden Seiten, dann sah er auf die Erde und sah die Hühner beim Essen und hüpfte zu ihnen. „Was habe ich gesagt“, sagte der Besitzer, „es ist ein Huhn“. „Nein“, sagte der Fremde, „es ist ein Adler, wir versuchen es morgen noch einmal“. Am nächsten Tag ging er auf das Dach mit dem Adler und sagte: “Adler, du bist ein Adler, breite deine Flügel aus und fliege“. Aber wieder hüpfte der Adler auf die Erde, als er die Hühner beim Essen sah, und aß zusammen mit ihnen. Der Besitzer sagte: „Ich habe ja gesagt, es ist ein Huhn“. „Nein“, sagte der Fremde, „es ist ein Adler, und er hat noch immer das Herz eines Adlers, morgen werde ich ihn dazu bringen zu fliegen“. Am nächsten Tag stand er früh auf und nahm den Adler mit an den Fuß eines großen Berges außerhalb der Häuser der Stadt. Die Sonne war beim Saufgehen und vergoldete die Gipfel der Berge, so dass jeder Gipfel in dem schönen Morgen strahlte. Er hob den Adler empor und sagte: „Adler, du bist ein Adler, du gehörst dem Himmel und nicht dieser Erde, breite deine Flügel aus und fliege“. Der Adler sah sich um und erzitterte, als würde er erfüllt von neuem Leben, aber er flog nicht. Der Mann zwang ihn nun, direkt in die Sonne zu blicken. Plötzlich breitete er seine Flügel aus, und mit einem Schrei erhob er sich immer höher in die Luft und kehrte nicht zurück. Es war ein Adler, auch wenn er als ein Huhn gehalten und gezähmt worden war.

„Meine Brüder“, sagte der, der das Gleichnis erzählt hatte, „wir sind im Bild Gottes geschaffen, aber jemand hat uns eingebildet, dass wir Hühner sind, und wir glauben noch immer, dass wir es sind. Breite deine Flügel aus und fliege. Begnüge dich nie mit Hühnerfutter!“ So erzählten sie in Afrika.

Wer sagt, dass unsere tiefsten Sehsüchte und Erwartungen nicht in Erfüllung gehen? War sagt, dass es keine andere Freude gibt als die, seine Bedürfnisse zu befriedigen? Jesus sagt, dass es die gibt! Er sagt, dass es eine Freude gibt, die vollkommen ist, und dass sie in seinem Namen einmal die unsere wird. Amen.



Pastor, ehem. Bischof Niels Henrik Arendt
DK-6990 Ulfborg
E-Mail: NHA(at)km.dk

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