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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 09.08.2015

Predigt zu Markus 12:28-34, verfasst von Klaus Bäumlin

„Und einer der Schriftgelehrten, die gehört hatten, wie sie miteinander stritten, trat zu ihm. Und da er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott ist allein Herr, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand und mit all deiner Kraft. Das zweite ist dieses: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Höher als diese beiden steht kein anderes Gebot. Und der Schriftgelehrte sagte zu ihm: Schön, Meister, und der Wahrheit gemäss hast du das gesagt! Einer ist er, und einen anderen ausser ihm gibt es nicht, und ihn lieben mit ganzem Herzen und mit ganzem Verstand und mit aller Kraft und den Nächsten lieben wie sich selbst – das ist weit mehr als alle Brandopfer und Rauchopfer. Und Jesus sah, dass er verständig geantwortet hatte und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und keiner wagte mehr, ihm eine Frage zu stellen.“

 

Liebe Gemeinde, Schriftgelehrte waren jüdische Theologen – also sozusagen meine Kollegen –, professionelle Ausleger der heiligen Schriften, der Bibel. Sie haben das Wirken von Jesus argwöhnisch beobachtet. Sie haben ihn in Streitgespräche verwickelt und versucht, ihm eine Falle zu stellen. Schriftgelehrte begegnen uns in den Evangelien als Gegner Jesu. Sie werden, als Mitglieder des Hohen Rats, am Prozess gegen Jesus beteiligt und mitverantwortlich sein für das Todesurteil gegen ihn. Das Evangelium zeichnet ein hartes, negatives Bild von den Schriftgelehrten. Jesus selbst hat die Leute vor ihnen gewarnt: „Hütet euch vor den Schriftgelehrten, die gerne in Talaren herumlaufen und sich auf den Marktplätzen begrüssen lassen, den ersten Platz in den Synagogen und bei jedem Gastmahl den Ehrenplatz einnehmen, und die der Witwen Häuser leerfressen und vorgeben, lange zu beten – sie werden um so härteren Richtspruch empfangen“ (Mk 12,38ff). Eine unüberwindliche Gegnerschaft also zwischen den Schriftgelehrten und Jesus. Für ihn hat sie tödliche Konsequenzen.

 

Und nun kommt einer von ihnen, ein einzelner, um sich mit Jesus zu besprechen. Es lohnt sich, hinüberzublicken auf das Matthäusevangelium, das diese Episode von Markus übernommen, sie aber verändert hat. Nach Matthäus kommt dieser Schriftgelehrte in der Absicht, Jesus mit der Frage nach dem wichtigsten Gebot aufs Glatteis zu führen. Und so kann dann Jesus zu ihm auch nicht sagen: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Wie anders das Markusevangelium! Es erzählt von einer freundlichen Begegnung und erweckt ganz den Eindruck, diesem Schriftgelehrten sei es ernst mit seiner Frage nach dem wichtigsten Gebot; sie gibt ihm zu denken. Und noch eindrücklicher, noch schöner: Dieser Schriftgelehrte und Jesus sind sich einig. Der jüdische Theologe stimmt Jesus zu: „Schön, Meister, und der Wahrheit gemäss hast du das gesagt!“ Er wiederholt die beiden Gebote mit seinen eigenen Worten. Und Jesus sieht darin eine verständige, zutreffende Antwort. Fast dünkt es einen, dass sich die beiden übereinander freuen.

 

Ich in froh, dass diese kleine Geschichte im Markusevangelium zu lesen ist. Die christliche Kirche und ihre Theologen haben von Anfang an bis in unsere Zeit einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen der Lehre Jesu und der jüdischen Frömmigkeit festgestellt. Das Liebesgebot sei das Neue, das Jesus verkündet habe; es unterscheide die Christen von der jüdischen Gesetzesfrömmigkeit, haben sie behauptet.

 

Jesus aber zitiert aus dem Alten Testament, der jüdischen Bibel, aus der Tora, den Geboten: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott ist allein Herr, und du sollst deinen Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand und mit all deiner Kraft.“ So steht es wörtlich im 5. Mosebuch (6,4f). Es ist darüber hinaus das Glaubensbekenntnis Israels, das Juden und Jüdinnen noch heute in ihrem täglichen Gebet bekennen. Und auch das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ist keine Erfindung Jesu. Auch es findet sich im Gesetz des Mose (3. Mose 19,18f). Vielleicht liegt das Besondere darin, dass Jesus diese beiden Gebote heraushebt aus den vielen anderen Geboten und sie zusammenstellt und in unauflösliche Beziehung zueinander bringt wie die beiden Brennpunkte eine Ellipse und so auf diese Weise sagt: In diesen beiden Gebote sind alle anderen enthalten, der ganze gute Wille Gottes ist in ihnen zusammengefasst.

 

Der jüdische Schriftgelehrte stimmt dieser Zusammenfassung zu. Eine tiefe und schöne Übereinstimmung also zwischen Jesus und diesem Schriftgelehrten, eine Übereinstimmung auch zwischen Jesus und dem Bekenntnis und Glauben Israels. Jesus hat keine neue Religion begründet. Was er lehrte, ist in Übereinstimmung mit Mose und den Propheten. So hätte es eigentlich zwischen der Synagoge und der Kirche, zwischen Juden und Christen, bei allen Differenzen und Konflikten, im zentralen Punkt der Gottes- und der Nächstenliebe Verständigung und Übereinstimmung geben können, statt Verachtung, Ablehnung und Feindschaft ein friedliches Wetteifern unter Brüdern und Schwestern im Halten des Doppelgebots. Das ist das erste, was mir diese Geschichte aus dem Markusevangelium sagt.

 

Was Juden und Christen verbindet, verbinden müsste, ist nicht nur der Glaube, sondern die Liebe zu dem einen gemeinsamen Gott. „Du sollst deinen Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand und mit all deiner Kraft.“ An die Existenz eines Gottes glauben, daran glauben oder es immerhin für möglich halten, dass es einen Gott gibt, eine höhere Macht, einen letzten Sinn, eine erste Ursache und ein letztes Ziel, ein unerforschliches Geheimnis – das ist eine Sache. Gegenstand unserer Liebe kann das alles nicht sein. Wo es um Gott und unser Verhältnis zu ihm geht, sind Begriffe unzureichend. Nur die Sprache der Liebe ist ihm angemessen. Und so, wie sich das Geheimnis der Liebe der Beschreibung entzieht, nur ausgesprochen werden kann im DU – du, dich meine ich, dich liebe ich, die einzige – so können wir von Gott nicht besser und wahrer reden, als wenn wir DU zu ihm sagen. Das erste der beiden wichtigsten Gebote lädt ein zum Minnesang, ermächtigt, ermutigt, befreit uns zum DU, richtet unsere Herzen und Gedanken, unsere Vernunft und unsere Sinne, unser ganzes Leben aus auf dieses DU hin, lässt uns mit diesem DU im Herzen aufwachen, durch den Tag gehen, lässt uns einschlafen und erfüllt noch unsere Träume mit dem geliebten DU – weil wir hören und wissen und spüren, dass dieses DU unser Leben ist, bevor wir sprechen können, und uns lieben wird, wenn uns die Sprache vergeht.

 

Vielleicht, liebe Gemeinde, müssten unsere Gottesdienste dies zum Ausdruck bringen. Vielleicht sollte der gelehrte Theologe ein wenig zur Seite treten. Vielleicht müssten unsere Gottesdienste zu Gelegenheiten werden, wo wir nicht mehr nur über Gott reden und diskutieren, sondern zu ihm reden in Worten der Liebe und Zärtlichkeit, mit ihm diskutieren und streiten, zu ihm klagen und trauern, zu ihm lachen und weinen, zu ihm beten, ihm singen, ein Lied der Liebe, in dem wir dem geliebten DU, wie Liebende es tun, alles anvertrauen: das Schöne und das Traurige das Intimste und das Öffentliche – aus ganzem Herzen und mit ganzen Seele, mit Verstand und mit all unserer Kraft.

 

Aber nun bindet Jesus dieses erste Gebot sogleich zusammen mit dem andern: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Das wäre nun doch nicht der rechte Gottesdienst, wenn wir uns sozusagen nur nach oben hin öffneten, wenn es beim Beten und Singen, beim Loben und Danken, bei der Gottesminne bliebe.

 

Jesus hat das Gebot der Nächstenliebe dem sogenannten Heiligkeitsgesetz im 3. Buch Mose entnommen, Dort steht es als Zusammenfassung verschiedener Weisungen für das soziale Verhalten in Israel. Dazu gehören die Weisungen, nicht zu stehlen, einander nicht zu betrügen, zu übervorteilen oder zu verleumden, den Nächsten nicht auszubeuten, dem Tagelöhner seinen Lohn nicht vorzuenthalten, die alten Menschen zu achten und die Fremden nicht zu unterdrücken, Es geht also bei der Nächstenliebe nicht um ein weltumspannendes Gefühl – „seid umschlungen Millionen“. Es geht wirklich um das Nächste: um die Menschen um uns herum, mit denen wir es jeden Tag zu tun haben, auch um die, die wir uns nicht aussuchen, die Nachbarn, die Kollegen, die Leute in der gleichen Strasse und im Altersheim, die Arbeitslosen, die Asylbewerber, die Leute, mit denen wir ein Geschäft abschliessen oder denen wir eine Wohnung vermieten. Das ganze Geflecht zwischenmenschlicher, persönlicher, beruflicher und geschäftlicher Beziehungen kommt da ins Spiel.

 

In der Verbindung mit dem Nächsten bekommt „Liebe“ noch einen andern Inhalt. Sie hat es weniger mit Gefühl und Zuneigung zu tun als vielmehr mit Gerechtigkeit. Und Gerechtigkeit heisst, anderen Menschen gerecht werden, ihr Lebensrecht achten und schützen. Und deshalb beginnt Nächstenliebe damit, dass wir die andern Menschen überhaupt einmal wahrnehmen, Das Gebot der Nächstenliebe lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Menschen, die neben uns leben, Gott macht sie zu unseren Nächsten und macht uns mitverantwortlich für ihr Leben und Wohlergehen. Er ruft uns zu aufmerksamer und tätiger Solidarität, zu Anteilnahme und Teilen.

 

Jesus bindet die beiden Gebote zusammen zu einer unauflöslichen Einheit. Keines ohne das andere. Gott kannst du nicht lieben, ohne deinen Nächsten zu lieben.

„Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott, den er nicht sieht, nicht lieben“ (1 Joh 4,20).

 

Aber auch das andere ist wahr: Wenn wir Gott lieben, wenn er uns zum DU wird, dem wir das Leben verdanken, dann werden wir auch frei und fähig zur Nächstenliebe. Unsere Liebe ist ja Reflex und Antwort auf seine Liebe zu uns. „Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat“ (1 Joh 4,19). Andere lieben, Anteil nehmen am Leben anderer können wohl nur Menschen, die selber Liebe erfahren, angenommen und geachtet sind. Wir haben es nötig, dass jemand Ja zu uns sagt, damit wir uns selber annehmen können und aus unserer Selbstbezogenheit herausfinden und den Weg finden zum Nächsten hin. So sind die beiden Gebote miteinander verbunden, bedingen und unterstützen einander und weisen uns den Weg zum Leben.

 

Der Schriftgelehrte in unserer Geschichte hat Jesus zugestimmt, und Jesus hat zu ihm gesagt: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Höre ich recht, wenn ich da einen leisen Vorbehalt mithöre? Nicht fern – aber noch nicht drin im Reich Gottes? Mit dem Kennen und Aufsagen des Gebots ist es nicht getan. Wird die verständige Einsicht auch zur Praxis? Wird sie im Leben des Schriftgelehrten etwas in Bewegung bringen und verändern? Wird er das doppelte Gebot nicht nur zitieren – wird er es auch tun?

Wird er in Reichweite zum Reich Gottes stehen bleiben – oder wird er hinein kommen, wird das Reich Gottes ihn einholen? Wird das doppelte Liebesgebot ihm den Weg ins Leben weisen – und wird er den Weg gehen?

 

Aber nichtwahr, liebe Gemeinde, die Frage richtet sich nicht nur an diesen Schriftgelehrten. An dieser Stelle sind wir Christen und Christinnen heute so unmittelbar und direkt gemeint, angesprochen und gefragt wie hier der verständige Schriftgelehrte.

 



Pfarrer i.R. Klaus Bäumlin
CH-3006 Bern
E-Mail: klaus@baeumlin.ch

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