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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Reminiscere, 21.02.2016

Glaube und Migration
Predigt zu Hebräer 11:8-16, verfasst von Michael Bünker

Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde, in ein Land zu ziehen, das er erben sollte; und er zog aus und wusste nicht, wo er hinkäme. Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen in dem verheißenen Lande wie in einem fremden und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung. Denn er wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist. Durch den Glauben empfing auch Sara, die unfruchtbar war, Kraft, Nachkommen hervorzubringen trotz ihres Alters; denn sie hielt den für treu, der es verheißen hatte. Darum sind auch von dem einen, dessen Kraft schon erstorben war, so viele gezeugt worden wie die Sterne am Himmel und wie der Sand am Ufer des Meeres, der unzählbar ist. Diese alle sind gestorben im Glauben und haben das Verheißene nicht erlangt, sondern es nur von ferne gesehen und gegrüßt und haben bekannt, dass sie Gäste und Fremdlinge auf Erden sind. Wenn sie aber solches sagen, geben sie zu verstehen, dass sie ein Vaterland suchen. Und wenn sie das Land gemeint hätten, von dem sie ausgezogen waren, hätten sie ja Zeit gehabt, wieder umzukehren. Nun aber sehnen sie sich nach einem besseren Vaterland, nämlich dem himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott zu heißen; denn er hat ihnen eine Stadt gebaut.

Was für eine Migrationsgeschichte! Nein, keine Sorge, ich weiß schon, dass es nicht angeht, die biblischen Geschichten einfach so, mir nichts dir nichts und eins zu eins auf unsere heutigen Herausforderungen anzuwenden. Aber wenn Abraham unser Vater im Glauben ist, dann kann uns sein Geschick auch heute, gerade heute etwas sagen. Etwas über unseren Glauben. Etwas über unsere Hoffnung und die Verheißung, die uns gegeben ist und damit auch über den Ruf Gottes, den es heute zu hören gilt und den Auftrag, der daraus erwächst. Offenkundig steht an der Wiege unseres Glaubens auch die Erfahrung der Migration. So kann uns die Geschichte Abrahams aufmerksam machen, hellhörig und weitsichtig. Sie macht uns migrationssensibel.

Abraham bricht auf, so berichtet es das erste Buch Mose (Gen. 12,1), auf nichts als auf den Ruf Gottes allein. Gott sprach: Geh. Geh aus deinem Vaterland in ein Land, das ich dir zeigen will. Im Hebräischen steht hier ganz außergewöhnlich ein doppeltes „gehen“, lech lecha, das sich nur schwer ins Deutsche übersetzen lässt. Damit wird diesem einen Aufbruch, dem Aufbruch des Abraham, dem Beginn seiner Glaubensmigrationsgeschichte, eine besondere Bedeutung gegeben. Als wäre ein doppeltes Gehen gemeint. Einmal das irdische Gehen, der Aufbruch und die Suche nach einem neuen Land, einem unbekannten Land. Und dann ein anderes, ein zweites Gehen. Vielleicht ein Über-sich-selbst-Hinausgehen, ein Trans-zendieren. Über sich selbst, über das vertraute Heimatland, über die Familie, Verwandtschaft und Freundschaft hinausgehen, ja über sich selbst hinausgehen in den Horizont Gottes hinein.

Mag sein – so schreibt ein Kommentar zu dieser Stelle – dass in unserem „Jahrhundert der Flüchtlinge“ und Entwurzelten die bodenlose Radikalität dieses Rufes nicht leicht vernehmbar ist (Friedrich Wilhelm Marquardt).

Dem spürt der Hebräerbrief nach, das greift er auf und macht dieses Gehen des Abraham zum Ausdruck, zum Kennzeichen, zur Manifestation seines Glaubens.

Wie alle Menschen seiner Zeit meinte auch Abraham, dass es ohne männliche Nachkommen, ohne einen Sohn keine Zukunft gibt. Und auch da begegnet uns dieser besondere Aufbruch wieder, dieses Transzendieren aller natürlichen Verhältnisse. Seine Kraft war schon erstorben und seine Frau Sara unfruchtbar wegen ihres hohen Alters, und doch tritt ein, was Gott verheißen hat. Ihnen wird der Sohn geboren, der eine, durch den Gottes Verheißung auf alle übergeht, die nach ihm kommen und die zahlreich sind wie die Sterne am Himmel und der Sand am Meer. Zu ihnen gehören auch wir.

In diesem ständigen und vielfachen Hinausgehen über das Gegebene und Vorhandene begegnen uns die ganz normalen Erfahrungen der Migranten und Migrantinnen. Ich erwähne einmal die Integration: Abraham und die Seinen leben als Fremdlinge in dem neuen Land, unstet, nicht sesshaft, in Zelten, wie besonders betont wird. Ein festes Zuhause, ein gemauertes Daheim erwarten sie hier gar nicht, das erwarten sie, von Gott zu bekommen. Als Gäste und Fremdlinge leben sie auf Erden, egal, wo sie sich aufhalten. Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir, heißt es im Hebräerbrief an anderer Stelle. Ganz pointiert bringt diese urchristliche, ja wirklich ur-christliche Einstellung der Diognetbrief, eine kleine Schrift aus dem zweiten Jahrhundert, auf den Punkt. Dort heißt es über die Christinnen und Christen ganz lapidar: „Jede Fremde ist für sie Vaterland und jedes Vaterland Fremde“ (Diognet 5,5). Ja, es stimmt schon: Der Glaube macht migrationssensibel.

Auch die Möglichkeit der Rückkehr in die alte Heimat wird angesprochen. Wenn das Land, das sie suchten, die alte Heimat gewesen wäre, hätten sie ja auch einfach dorthin zurückkehren können. Aber sie suchen ja die bessere Heimat, das bessere Vaterland. Aus der ungesicherten Existenz, dem Nomadenleben, das sie alle führen, blicken sie niemals zurück in eine vermeintlich bessere und leider verlorene Vergangenheit. Stets richtet sich der Blick nach vorne! Dem Himmel zu, der in der Vorstellung des Hebräerbriefes zugleich oben und vorne ist. Dort hat Gott ihnen die Stadt gebaut. So ist es immer die Zukunft, nach der wir uns auszurichten habe. Wie wollen wir denn leben in zwanzig, dreißig Jahren? Was werden wir denn unseren Enkeln sagen, wenn sie uns fragen ob wir nichts gewusst haben und was wir getan haben?

Und das alles nehmen Abraham und Sara auf sich aus Glauben. Ohne es zu wissen. Ohne es zu erlangen. Von ferne sehen sie, was ihnen verheißen ist und grüßen es. Guten Morgen, liebe himmlische Heimat! Für diese Aufbruchglaubenden, Exodusglaubenden, Migrationsglaubenden schämt sich Gott nicht, im Gegenteil! Ihnen baut er die bleibende Stadt, wo er mit ihnen wohnen will.

Als am Ende des Zweiten Weltkrieges tausende, ja hunderttausende Menschen ins heutige Österreich gekommen sind, weil sie fliehen mussten oder vertrieben wurden, hat der damalige Bischof unserer Kirche, Gerhard May gemeint: Die Evangelische Kirche kennt keinen Unterschied zwischen Österreichern und Flüchtlingen. Dann bezieht er sich auf eine Bibelstelle im Brief an die Epheser (Eph. 2,19) und setzt fort: Die Kirche Christi kennt keine Heimatlosen, Flüchtlinge, Gäste oder Fremdlinge – hier sind alle Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen. Das war im Jahr 1951 und zeigt etwas von der Grundüberzeugung, die unsere Kirche – wie alle Kirchen – bis heute prägt. Es ist eine andere Botschaft als die von Zäunen und Obergrenzen. Es ist eine Botschaft, die die Not sieht, die die Menschen sieht und sich nicht davor abschirmt. Es ist eine Botschaft, die der Zuversicht, der Menschlichkeit mehr Gewicht gibt als den Sorgen und Ängsten. Es ist die Glaubensbotschaft.



Bischof Dr. Michael Bünker
Wien
E-Mail: michael.buenker@chello.at>

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