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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

12. Sonntag nach Trinitatis, 14.08.2016

Saulus wird Paulus - Paulus ist Saulus!
Predigt zu Apostelgeschichte 9:1-20, verfasst von Gert-Axel Reuss

Liebe Gemeinde,

‚Saulus wird Paulus!’ So wird die berühmte Bekehrung des Apostels gerne auf den Punkt gebracht. Auch wenn die Apostelgeschichte diesen Namenswechsel erst einige Kapitel später und eher beiläufig vornimmt (Apg 13,9 „Saulus, der auch Paulus heißt …“), aus dem Christenverfolger wird der Heidenapostel schlechthin.

„Saulus aber schnaubte noch mit Drohen und Morden gegen die Jünger des Herrn …“ – Luthers sprachgewaltige und wortmächtige Übersetzung steigert die Dramatik dieser Lebenswende noch einmal. Da ist einer blind vor Wut und wird am Ende lammfromm. Da richtet einer seine ganze Energie auf die Zerstörung der Gemeinde (Apg 8,3), um später sein Leben einzusetzen für „den Namen unseres Herrn Jesus Christus“ (vgl. Apg 15, 26).

Diese Kehrtwende kann man sich gar nicht groß genug vorstellen: 180 Grad, krass, extrem, rigoros. Viel ist nicht nötig, um unsere Phantasie in ein Schwarz-Weißdenken zu lenken. Vorher – nachher, alt – neu, Jüdinnen/Juden – Christinnen/Christen.

In der Apostelgeschichte wird uns ein Bild von der Bekehrung des Paulus gemalt, das die Ostergeschichten (Apg 9, 18 vgl. Lk 24, 31) noch überstrahlt, ‚wie ein Blitz aus heiterem Himmel’. Auch Paulus nimmt in seinen Briefen Bezug auf seinen Seitenwechsel, lässt uns aber über die Umstände seiner Berufung weitgehend im Unklaren. Deshalb sage ich: Paulus ist Saulus!

 

Liebe Gemeinde,

vor einem Jahr haben wir hier im Ratzeburger Dom einen Aussendungsgottesdienst gefeiert. 30 junge Erwachsene wurden vom ‚Zentrum für Mission und Ökumene der Nordkirche’ für einen Freiwilligendienst in unsere Partnerkirchen in Afrika, Asien und Lateinamerika geschickt. In diesen Tagen kehren die etwa 20jährigen Frauen und Männer nach Hause zurück.

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung fördert diese Arbeit als ‚Entwicklungshilfe’. Unter dem Namen „weltwärts“ gehen junge Menschen auch aus anderen Kirchen und mit anderen Organisationen ins Ausland. Wer die Rückkehrerinnen und Rückkehrer trifft, macht die erstaunliche Erfahrung, dass dieser Freiwilligendienst vor allem Entwicklungshilfe für unsere deutschen jungen Erwachsenen ist.

Eine Rückkehrerin sagt über ihre Erfahrungen: „In Argentinien habe ich mich ganz neu erlebt. Wenn ich ‚Lunfardo’ (der spanische Slang, der in Buenos Aires, gesprochen wird – G.-A. R.) spreche, bin ich ganz anders.“

 

Liebe Gemeinde,

diese ‚Entwicklungsgeschichte’ hat mir das Leben des Paulus neu erschlossen.

„Bin ich nicht frei?“ schreibt der Apostel im 1. Korintherbrief. „Den Juden bin ich ein Jude geworden …, den Griechen ein Grieche …“ (1. Kor 9, 20. 21: „ … denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden“).

Könnte die Bekehrungsgeschichte des Paulus für uns heute eine Bedeutung haben, wenn wir seinen Seitenwechsel nicht als einen einmaligen Vorgang begreifen, sondern in ihm den Grenzgänger sehen? Einem, der nicht in einer, sondern in zwei Welten zu Hause ist? Könnte seine Bekehrung nicht vielmehr eine Befreiung sein, ein Durchbruch aus einer kleinen in eine viel größere Welt? Also keine Verleugnung seines bisherigen Lebens, keine Abkehr von der Vergangenheit, sondern ein Zugewinn an neuen Möglichkeiten?

Wer bin ich? – Liebe Gemeinde, ich lese den heutigen Predigttext (Apg 9, 1 – 20) im Spiegel einer Identitätsfindung:

Paulus stammt vermutlich aus dem griechisch-sprachigen Tarsus – also nicht aus Israel. Sein Doppelname Saulus-Paulus war in der jüdischen Diaspora nicht ungewöhnlich; Menschen, die aus einem anderen kulturell-sprachlichen Kontext zu uns kommen, passen gelegentlich ihre Namen unseren Gegebenheiten an („Sag einfach ‚Sunny’ zu mir.“ sagte eine chinesische Mitschülerin in einem Englischkurs, an dem ich teilnahm. Ihren richtigen Namen habe ich vergessen. – Einige der Reformatoren latinisierten bzw. gräzisierten ihren Namen, vermutlich um anzudeuten, dass ihnen ihre alte Identität zu ‚klein’ geworden war. Der bekannteste von ihnen ist wohl Philipp Schwartzerdt, der sich Melanchthon nennt).

Saulus (Paulus?) Hinwendung zum Pharisäertum (Phil 3, 5) und in der Folge sein Eifer gegen die junge christliche Gemeinde könnte man als adoleszente Krise deuten, nicht unähnlich der zunehmenden Islamisierung jugendlicher Europäer, deren schreckliche Zuspitzungen wir in den letzten Monaten erlebt haben.

Sein Damaskus-Erlebnis versteht er aber nicht als Abkehr von seinen jüdischen Wurzeln (Saulus), sondern er entdeckt eine ‚neue Sprache’, die es ihm ermöglicht, seine griechisch-hellinistische Herkunft (Paulus) in seine Religion, in seinen Glauben zu integrieren (vgl. Röm 9 – 11). Ein Prozess, der mit seiner Bekehrung keineswegs abgeschlossen ist, sondern beginnt.

Saulus/Paulus spricht also zwei Sprachen und begreift, dass er sich nicht für die eine und gegen die andere entscheiden muss, um er selbst zu sein. Er meinte, Saulus werden zu müssen, und erkennt, dass Paulus doch längst Saulus ist – und Saulus nicht ohne sein Paulus-Sein. Die Entdeckung Jesu wird für ihn zu einem ganz ‚neuen Weg’ (so auch die Selbstbezeichnung der jungen christlichen Kirche, vgl. Apg 9, 2). Der christliche Jude wird zum Apostel der Heiden, denen er nicht auferlegen will und kann, sie müssten erst jüdisch werden, um zu Christus zu kommen.

 

Liebe Gemeinde,

unser Glaube macht frei! Das ist die Kernbotschaft des Saulus/Paulus. Der Glaube an Christus eröffnet uns neue Welten. Er überwindet auch alle konfessionelle Enge – auch wenn sich manche mit Recht um die Zukunft des Protestantismus in Deutschland sorgen. Aber Rückzug ist keine Lösung! Das spiegelt uns Paulus sehr deutlich. Im Gegenteil: Er macht uns Mut, auf Gottes Wirken zu vertrauen. Ohne dass wir Jüdinnen und Juden werden mussten.

Es müssen die, die aus verschiedenen Krisengebieten dieser Welt zu uns gekommen sind, auch nicht Lutheraner (oder Protestanten) werden. Auch dann nicht, wenn sie bleiben wollen und dürfen.

‚Habt Vertrauen!’ so ruft uns Paulus über den Abstand der Zeiten und Kulturen zu. ‚Habt Vertrauen in Gottes Geist, der befreit.’ Der uns befreit! Zu neuem Glauben, zu neuer Lebendigkeit, zu neuen Aufgaben. Und die anderen auch!

Vertraut auf Gottes Weg. Sein Geist schenkt uns Zukunft. Und anderen, die anders sind als wir selbst, auch!

Die terroristischen Anschläge fanatisierter Islamisten erschüttern unser Gefühl von Sicherheit und treffen uns alle. Wir mussten erfahren: Jede, jeder könnte Betroffene/r sein. Die Rufe nach Ausgrenzung und Abschottung werden verständlicherweise lauter. Aber sie sind falsch! Nicht nur, weil es völlige Sicherheit nicht gibt; weil auch deutsche Staatsbürger sich gewaltbereiten islamistischen Gruppen angeschlossen haben. Sondern auch, weil sie uns in unserer Identität, in unserem Glauben treffen.

Ein Glaube, der sich Gott ausliefert, ist nicht immer leicht auszuhalten. Ich erlebe mich selbst, wie ich immer wieder nach vermeintlichen Geländern greife, an denen ich mich festhalten will. Aber die Gefahr dieses naheliegenden Verhaltens ist, dass wir darin erstarren. Wir sichern unsere Identität dadurch nicht, wir verlieren sie. Und mit ihr alle Weite, alle Freiheit, das ganze Leben.

Der Rückblick – ob auf eigene Erfahrungen und Bekehrungserlebnisse oder auf die Geschichte des Saulus/Paulus und anderer Zeuginnen des Glaubens, Frauen und Männer – hilft uns, auf Gott zu vertrauen. Er öffnet uns die Augen für sein Wirken in der Welt – manchmal gerade dort, wo wir es am wenigsten erwartet hätten. Er öffnet unsere Herzen, um zu tun, was heute geboten ist.

Habt keine Angst! Gott ist mit uns!

Amen.



Domprobst Gert-Axel Reuss
Ratzeburg
E-Mail: gertaxel.reuss@ratzeburgerdom.de

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