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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 21.08.2016

“Liebe ganz. Die Macht der Liebe”
Predigt zu 1. Johannes 4:7-12, verfasst von Michael Plathow

1. “Geliebte”, so werden wir heute im Predigttext angeredet, immer schon von Gott Geliebte und so mit Würde beschenkt! Die Liebeserklärung des 1. Johannesbriefes. Was kann erregender und beglückender sein als eine Liebeserklärung, die mir zugesagt wird. Nicht “Ich denke, darum bin ich”, sondern Ich werde geliebt, darum bin ich. Vielen ist das in der persönlichen Lebens- und Liebesgeschichte widerfahren; viele haben das erfahren: in der Jugend das “Ich liebe Dich. Wunderbar, dass es Dich gibt” mit dem Gefühl der Schmetterlinge im Bauch oder eines ver-rückten Herzflimmerns und das Herz sich öffnet für einen Anderen, wodurch es zugleich verwundbar wird; als Erwachsene das Ich und Du im Wir verbindende “Auch schwere Wochen jetzt werden wir gemeinsam tragen und getragen werden”; im Alter das dankbar bewegte “Ich will bei und mit Dir sein. Ich brauche Dich”. Liebe ganz! Ihre erotische und freundschaftliche Seite in wechselseitiger Anerkennung, die jede Liebesbeziehung prägt. Liebe ganz, vieldimensional, in einer Vielstimmigkeit, deren Variationen von einem Thema gestimmt sind, das über Verstand hinausgeht: die Liebe Gottes zu uns und unsere Liebe in der Gemeinschaft mit Gott und zum Nächsten, bei noch so großer Selbstbezogenheit eine immer noch größere Selbstlosigkeit. Eine Herausforderung und Verpflichtung ist dies in unserer Gesellschaft, wo Liebe allzu oft, zu einer Sache gemacht, gesplittert wird in einzelne, dann allein geltende Teile: Trieb, Gefühl, Empfindsamkeit, Sexualität, Geschäft. Das führt zum Tod der Liebe. Nein, Liebe ganz: psychisch, physisch, geistig, geistlich. Liebe ganz im und durch die Beziehung vor Gott. Welch eine Sehnsucht nach Liebe wird da heute spürbar im personalen und sozialen Zusammenleben. Große Aufmerksamkeit in den Öffentlichkeiten ernten nicht nur die “Loveparades”, sondern auch die päpstliche Enzyklika. “Gott ist Liebe” (25.12.2005). Öffentliche Wahrnehmung fand auch die Einladung zum Dialog der 138 muslimischen Religionsführer und Gelehrten “Ein Wort, das uns und euch gemeinsam angeht” (13. 10. 2007); dieses Wort ist “Liebe“. Die “Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen” in Baden-Württemberg hat sie vor wenigen Tagen in einem gemeinsamen Wort mit muslimischen Religionsgemeinschaften “Von Gottes Liebe getragen” konkretisiert (März 2016). Gemeinsam, doch unterschiedlich, berufen sich diese Erklärungen auf den 1. Johannesbriefes. Liebe erweist sich als Tiefendimension, als Grund und Ziel, als Macht allen Lebens und Zusammenlebens in Freiheit und Gerechtigkeit, wo dem Recht Billigkeit eigen ist und wo Liebe Recht schafft, Recht Liebe einschließt und Liebe Recht übersteigt, so dass in unserer sozialen Marktwirtschaft das Soziale seine eigene Bedeutung behält; so dass in der Spannung von Gemeinwohl und Eigennutz die Perspektive des Gemeinwohls prägend ist, so dass bei noch so großer Selbstbezogenheit die Selbstlosigkeit stärker bleibt in Wohlfahrt und Diakonie. Der 1. Johannesbrief spricht nicht von einer allgemeinen Menschenliebe, sondern von der christlichen Liebe, von ihrem m Besonderen und Einzigartigen.. 2. Doch zunächst, liebe Gemeinde, treibt uns nicht bisweilen angesichts eines beklagten “Erfahrungsdefizits” eine Sehnsucht um nach Erfahrbarkeit dessen, was der Glaube bedeutet an die Wirklichkeit Gottes, der in seinem Wesen Liebe ist und Liebe wirkt? Und eine Sehnsucht nach Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis angesichts vermeintlicher Unsichtbarkeit und Verborgenheit, angesichts von Hass und Leid, von Finsternis und Terror um uns? Dass Gott unsichtbar, nicht fassbar ist, wird auch in den biblischen Schriften bezeugt: Mose durfte Jahwe nicht direkt schauen; nur Gottes Rückenansicht konnte er aus einer Felsspalte erkennen (Ex 33, 21f) und als auf dem Wüstenweg das Volk Israel, in Selbstsorge verkrampft, es ablehnte, Gottes tägliche Fürsorge wahr- und anzunehmen, konnte Mose es nur auf die eherne Schlange als Rettungszeichen verweisen (Lev 21, 4ff). Auch Elia durfte Gottes Nähe nur im linden Wehen erleben (1. Kön 19, 12) und Hiob, von Unglück und Leid heimgesucht, ihn dann staunend preisen als verborgenen Schöpfer und Atem des Lebens in der entgrenzenden Weite des Kosmos und in den Schönheiten der Natur (Hi 38). Erlebnisse mit Gott sind es, die erst die Anrede von Gottes Wort klar und deutlich macht als Gotteserfahrung. Der 1. Johannesbrief erzählt uns von Gottes Nähe, die, nicht-selbstverständlich erfahren, verborgen da als Liebe, die sichtbar wird. “Niemand hat Gott jemals gesehen”, heißt es zunächst. Zugleich singen wir gern den alten benediktinischen Hymnus: “Ubi caritas et amor, deus ibi est”, “Wo die Liebe wohnt, da ist Gott”. Da schwingt auch mit der Weisheitsspruch eines frühen Denkers (Nikolaus von Kues: “Ubi amor ibi oculus” in: De visione dei, 4):“wo die Liebe ist, wird das Auge geöffnet”, “wo die Liebe wohnt, da begegnet der Augen-Blick”. Der Liebende sieht und erkennt, weil er schon angeblickt und erkannt ist vom Liebenden. Auch von Gott. Da wird gesehen schon die Morgenröte des neuen Tages; da wird das Mehr des Liebenswerten beim Anderen wahrgenommen; da fällt. der Blick auf das Gute bei all den Dunkelheiten. Gott wird in seinem Wesen und Wirken als Liebender bekennt. Ins Dasein hat er die Welt geliebt mit seiner großen Liebesgeschichte mit der Menschheit. Das Alte und das Neue Testament erzählen: Mit dem Liebesakt der Schöpfung in die Lebenszeit hat Gott sich die Menschen als sein Volk zur Gemeinschaft mit ihm vertraut gemacht. Obwohl diese sich in Selbstbezogenheit und Selbstsorge verschließen gegen die Liebesgebote des Willens Gottes, hat Gottes Liebe und Fürsorge ihnen neu Zukunft gegeben. Nicht aus den Augen lässt Gott das Volk Israel; er erfüllt seine Verheißungen. Und der Prophet Hosea spricht im Namen Jahwes: “All mein Erbarmen und Lieben ist entbrannt. Ich will nicht tun nach meinem Zorn” (Hos 11, 4, 8f). Das sagt nicht ein “lieber Gott”, der in allumfassender Liebe gar nicht anders kann als lieb zu sein. Die heilige Liebe Gottes wird erzählt, der menschliches Nein oder Gleichgültigkeit begegnet und die um den Riss in der Gemeinschaft mit Gott , eben um die Realität der Sünde und ihrer Folgen im privaten und sozialen Leben, weiß. Die Liebesgeschichte unseres Predigttextes erzählt: “Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, dass wir durch ihn leben sollen. Darin steht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern, dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden” (1. Joh 4, 9f). Die Geschichte der leidenschaftlichen Liebe Gottes in Jesus zum Leben der Welt: So hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn, unsern erstgeborenen Bruder gab, so dass alle, die an ihn glauben, nicht in der Gemeinschaftslosigkeit mit Gott die Bestimmung ihres Lebens verwirken, sondern gelingendes Leben im Sog des ewigen Lebens erfahren (Joh 3, 16). Diese Liebesgeschichte erzählt vom menschgewordenen Sohn der Liebe Gottes, der sich gerade auch den Kranken, Trauernden, Notleidenden und Verlierern zuwendet, sie heilt und ihnen hilft, Gemeinschaft mit ihnen hat; der das Reich Gottes verkündigt, wo die Liebe Gottes erfahren wird (Joh 1, 18). Diese Liebesgeschichte erzählt von Jesus Christus, der sich stellvertretend zur Versöhnung hingibt uns zum Heil und Wohl - nicht billig, leidfrei - indem er sagt: “Ich lebe und ihr sollt auch leben” (Joh 14, 19). 3. Liebe Gemeinde, diese nicht-selbstverständliche Liebe gilt uns, ja, sie gehört uns im Glauben durch den heiligen Geist, dem Feuer der Liebe. Sie ist uns persönlich in der kleinen Liebesgeschichte Gottes mit uns durch unsere Taufe näher als wir uns selbst sind; in der je neuen Verkündigung von Gottes Liebeserklärung wird sie erneuert. Und indem wir diese Liebe leben, die widerfahrene Liebe weitergeben, bleiben wir im Kraftfeld der Liebe Gottes. Hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. ... Lasst uns Liebe leben“ (1. Joh 4, 11 7)”. Ein Wunsch, ein Ruf. Widerfahrene und erfahrene Liebe befreit davon, “verzweifelt man selbst sein zu wollen oder nicht man selbst sein zu wollen” (S. Kierkegaard); sie befreit zur Liebe, die dann einfach christliche “Pflicht”, selbstverständlich, gelebt wird, wie S. Kierkegaard einmal sagt (S. Kierkegaard, Der Liebe Tun). Ja, Liebe wird gelebt - konkret. Liebe erhält dann ein Gesicht: Wem bin ich Nächster, der durch mich die Macht der Liebe Gottes erkennt, weil er durch mich Nächstenliebe erfährt? . Von Gottes Liebe berührt, wird Liebe weitergeschenkt in mutiger Demut, glaubwürdig, ehrlich, echt. Oh, nach Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit, Echtheit sehnen wir uns, auf dass Reden und Leben sich nicht widersprechen. Der 1. Johannesbrief hat zunächst das Miteinander und Füreinander der Gemeindeglieder vor Augen: das achtsame Fürsein für den andern, das stärkende Trostwort und die Fürbitte füreinander, die gegenseitige Vergebung zu einem neuen Miteinander. Da ist kein Verdrängen der Konflikte um äußerlicher Harmonie willen. Gerade in Spannungen und im berechtigten Streit erweist sich erfahrene und gelebte Liebe. Liebe tut Not. Liebe tut Not in unserer Gesellschaft als Wärmestrom und als Lebenselexier sozialen Verhaltens, wenn das unumkehrbare Bekenntnis “Gott ist Liebe”, dessen vorausgehende Liebe in der Liebe zum Nächsten sichtbar wird in Strukturen von Friede und Gerechtigkeit, Leid mindert, Leben fördert und Zukunft eröffnet. Dazu ruft der 1. Johannesbrief.. Mir gab als Schlüsselerlebnis bei einer Studienreise mit ausländischen Studierenden 1976 nach Neuendettelsau eine Diakonissin der Liebe ein Gesicht bei unserm Besuch im Diakoniewerk mit schwerstbehinderten Kindern, als sie sich, einen Jungen mit gewaltigem Wasserkopf im Arm, lächelnd kosend zuwandte: “Ich hab Dich lieb“. Wenige Wochen danach starb der Knabe. Die Nächstenliebe erhält Gesichter beim Besuch von Sich-einsam-Erlebenden in unserer Gemeinde und jetzt bei der Integration der unter uns wohnenden Fremden und Flüchtlingen. Und wenn gegen Gleichgültigkeit und unterlassener Hilfeleistung Zivilcourage geübt wird, zeigt sich in den Öffentlichkeiten die Energie, die Macht der Liebe: eine nicht-selbstverständliche, auch widerständische Liebe. Und selbst im politischen Zusammenleben von Völkern ist es die Liebe als Vergeben und Versöhnen, die lebensdienliche Zukunft eröffnet. 4. “Geliebte” - so die Liebeserklärung an uns - , lasst uns Liebe leben; denn die Liebe ist von Gott, und wer die Liebe lebt, der ist von Gott geboren”. Und, ein erfahrungsgedeckter Rat: “Es gibt keine bessere Einladung zur Liebe als die, in der Liebe den ersten Schritt zu machen” (Augustin, De catechizandis rudibus). Was letztlich angesichts der Bruchstückhaftigkeit unseres Denkens und Tun bleibt - das ist meine Erfahrung als Pfarrer, der fast 1000 Gemeindeglieder auf dem letzten Gang begleitet hat mit dem Wort der Auferstehung - was letztlich zählt, ist die Liebe; sie ist eine Himmelsmacht, stärker als Leben zerstörende und Zukunft verschließende Kräfte, als der nichtende Tod. Die Liebe ist stärker als der Tod. Und die Liebe des dreieinen Gottes, die höher ist als unsere Vernunft, bewahre eure Herzen, eure Vernunft und euer Tun im Glauben an Jesus Christus. Amen.



Prof.Dr. Michael Plathow

E-Mail: michael@plathow.de

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