Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

15. Sonntag nach Trinitatis, 04.09.2016

Predigt zu 1. Petrus 5:5b-11, verfasst von Gerlinde Feine

5 Euer Umgang miteinander

soll von Demut gekennzeichnet sein.

6 Beugt euch also demütig unter Gottes starke Hand.

Dann wird er euch gross machen,

wenn die Zeit dafür gekommen ist.

7 Alle eure Sorge werft auf ihn,

denn er sorgt für euch.

8 Bewahrt einen klaren Kopf,

seid wachsam!

Euer Feind, der Teufel,

streift wie ein brüllender Löwe umher

und sucht jemanden,

den er verschlingen kann.

9 Leistet ihm Widerstand

und haltet unbeirrt am Glauben fest!

Ihr wisst doch:

Eure Brüder und Schwestern in der ganzen Welt

müssen die gleichen Leiden ertragen.

»Den Überheblichen stellt sich Gott entgegen,

aber den Demütigen schenkt er seine Gnade.«

10 Gott hat euch in seiner großen Gnade

zu seiner ewigen Herrlichkeit berufen.

In der Gemeinschaft mit Christus

habt ihr Anteil an ihr.

Nur für eine kurze Zeit müsst ihr leiden.

Dann wird er euch wiederherstellen und stärken,

euch Kraft und Halt geben.

11 Er regiert in Macht für immer.

Amen.

(Basisbibel)

 

 

Der Weg führt links hinter der Bergstation nach unten. Mitten ins Geröll. Selbst im Hochsommer ist hier alles Grau in Grau. Verlassen pendeln die alten Sessel an den Stahltrossen; erst in ein paar Monaten werden sich hier wieder Tausende nach oben schaufeln lassen, wenn der Schnee die karge Landschaft mit einer weißen Decke verhüllt. Ein paar Reste vom letzten Winter lagern dick verpackt unter hässlicher Folie. Bagger und schweres Gerät präparieren neue Pisten.

Es ist staubig. Und heiß. Die Augustsonne brennt. Bald sind die schweren Schuhe von einer leichten grauen Patina überzogen. „Dürrenast“ heißt das Gelände seit alters her bei den Einheimischen. Nichts, wohin man das Vieh zum Weiden brächte. Kein Schatten, kein Grashalm auf dem Weg, der durch das Geröll nun leicht, aber stetig ansteigt. Nur wenige sind hier unterwegs.

Ich sehe, was mich erwartet. Ich kenne diese Strecke gut. Und lasse auch meine Gedanken laufen.

 

Grau wäre die Sorge, wenn sie eine Farbe wäre.

Grau wie die Tage, durch die du dich schleppst, wenn du nachts nicht schlafen konntest.

Grau wie der Beton der Hochhausfassaden in der Vorstadt und wie die Zigarettenasche neben der Bank vor dem Jobcenter.

Grau wie der Staub, der sich an der Wand festgesetzt hat, oben, wo die Ecken mit der Decke zusammenstoßen. Du ahnst ihn hinter den Möbeln, die sie gleich hinaustragen werden, er zeigt dir, wo die Bilder hingen, die Fotos aus besseren Tagen und der Schlüssel für den Wagen, den es schon lange nicht mehr gibt.

 

Grau wäre die Sorge, wenn sie eine Farbe wäre.

Oder blassgrün wie die Kittel, die sie dir reichen, wenn du durch die Milchglastüre eintreten darfst, leise, als würde das Geräusch der Schritte die Dämonen der Krankheit wecken.

Sie röche nach Desinfektionsmittel und Urin und fauligen Verbänden. Sie klänge wie eine Durchsage in einer fremden Sprache an einem Ort, von dem du wegwillst und weißt nicht wie. Sie summte leise wie die Hochspannungsleitungen des Atomkraftwerks auf der anderen Seite des Flusses und rasselte wie der Atem des Kranken im Bett nebenan.

 

So wäre die Sorge, wenn du sie anfassen könntest.

Sie wöge so schwer wie die Notfallrucksäcke neben den Betten der Afrikaner in der Flüchtlingsunterkunft irgendwo zwischen Neckar und Albtrauf, die sie nicht vergessen dürfen in der Hektik der Nacht, wenn man sie holt und zurückschickt nach Italien oder Griechenland, weil der Grund ihrer Flucht nicht so schwer wiegt wie der Weg, den sie gingen.

Sie schmeckte nach kalten Pizzaresten und billigem Wein und morgens vor der Schule nach abgestandener Cola und Chips und was sonst herumliegt in der vermüllten Wohnung, in der Tag und Nacht der Fernseher läuft, und wo es keinen Platz gibt zum Lernen und zum Spielen.

 

So wäre die Sorge, wenn man sie fangen könnte.

Wenn sie sich fassen ließe und greifen. Binden und aussperren. Und verjagen und vergessen. Wenn man die Sorge ent-sorgen könnte. So wie man den Müll entsorgt und die Klinikwäsche. Wenn man sie bannen könnte mit kleinen Püppchen und fangen mit Netzen und Perlen und Federn, die über dem Bett hängen und die Träume schützen sollen.

Doch wer die Sorge fangen will, muss sie jagen.

 

Unter meinen Schuhen verändert sich die Farbe der Steine.

Ich sehe genauer hin.

Unter dem Grau-in-Grau des Gerölls entdecke ich Farben. Ein Stück Marmor. Bunte Einschlüsse von Glimmer, Asbest und Eisen. Tiefes Schwarz von Schiefer und Feuchtigkeit.

 

Gleich kommt der Bach. Er trägt das Gletscherwasser von ganz oben hinunter ins Tal. Auf seinem Weg wird er die Baumgrenze passieren und Steilstufen überwinden. Einen imposanten Wasserfall formen. Neben dem Monolithen, den er selbst vor ein paar hundert Jahren mit Wucht nach unten geworfen hat, in den See münden, dort, wo Kinder ihm zu Ehren inzwischen ein ganzes Spalier aus Steinmännchen aufgeschichtet haben.

 

Hier oben sammelt er sich. Muss sich seinen Weg erst suchen. Markiert ihn durch mitgebrachte Steine und hervorgelocktes Grün. „Männertreu“ heißen die struppigen Disteln. Dazwischen Enzian und Hauswurz, Glockenblume, Leimkraut und Alpenrose.

 

Und Schmetterlinge.

Enorme Höhen überwinden sie auf ihrem Zug über die Alpen. So klein sie sind, so beeindruckend sind die Strecken, die sie zurücklegen. Sie sind auf ihre Weise Botschafter und sorgen für die Verbreitung der Arten – mit wenigen Mitteln, kostbaren Ressourcen und unter großer Anstrengung. „So wie damals“ denke ich, „zu Anfang der Kirche“ – als alles schwer war für die Christen. Als sie verfolgt wurden. Immer wieder aufbrechen mussten. Klein anfangen. Und doch die Botschaft weitertrugen. „So wie heute“, erinnere ich mich an die Nachrichten aus Syrien und Nordafrika, denke an die Geschwister, die verfolgt werden und nun mit dem Zeugnis ihres Glaubens in unsere Gemeinden kommen. Wie damals.

 

Bewahrt einen klaren Kopf und seid wachsam!

Die Sorge tarnt sich mit List. Wenn sie ein Tier wäre, wäre sie ein Löwe, der sich an friedlich weidende Gazellen anpirscht. Sie wäre wie die jungen Füchse, die sich nachts in die Weinberge schleichen. Oder wie Krähen, die in Sichtweite lauern auf einen unaufmerksamen Moment.

Die Sorge ist eine Bestie. Sie verteidigt ihr Revier und hält immer Ausschau nach neuen Opfern und leichter Beute. Sie fragt nicht danach, ob jemand besonders fromm ist oder anständig. Sie kümmert sich nicht um Alter und Herkunft und Rasse und Religion. „Alles was ihr durchmacht, das leiden andere auch“ Euch ist kein schwereres Schicksal zugedacht und ihr habt es auch nicht leichter als andere. Euer Leben ist bedroht und gefährdet wie das aller Menschen. Krankheiten kommen aus dem Nichts wie der Krebs, dessen Scheren nach dir schnappen. Der Krieg ist eine wilde Bestie, vor der du fliehen musst. Die Depression fällt dich an wie ein Skorpion aus dem Hinterhalt und umklammert dich wie eine kräftige Boa.

 

Dann brauchst du jemanden, der dir zur Hilfe eilt. Der für dich da ist, wenn du dich nicht wehren kannst. Der die Bestie ablenkt und dir den Weg frei macht. Der deine Weinberge schützt und deinen Schlaf behütet.

 

 

Es ist mir nicht fremd, dieses graue Gelände mit seinem Weg durch Geröll und Staub. Ich weiß, am Ende wird es noch einmal richtig steil und anstrengend.

Hinter der Markierung biege ich ab – und staune: Statt des Kletterpfads liegt jetzt eine gut präparierte Piste vor mir. Immer noch ziemlich steil. Aber ohne die rutschigen Felsflächen, die einen regelrecht abwerfen konnten. Nicht eingeebnet. Aber passierbar. Sogar einen Kinderwagen könnte man hochschieben.

Links am Fels eine merkwürdige Konstruktion aus Schrauben, Stahl und einem mächtigen roten Haken. Hier kann sich im Winter die Pistenraupe einhängen. Sicherung für Fahrer und Gerät. Hilfe und Erleichterung.

Schließlich die letzte Kehre. Hinter dem Berghaus öffnet sich das Panorama: „Festsaal der Alpen“, leuchtende Bernina, immer noch, auch wenn das ewige Eis weniger geworden ist. Grüne Hänge, blauer Himmel, türkisfarbenes Wasser im See.

Auf den roten Stühlen rasten bunt gekleidete Menschen. Die Hüttenwirtin bringt Teller mit Pasta und Gerstensuppe. Sie lebt das ganze Jahr hier oben, wo man nur hinkommt, wenn man den Weg durchs Grau des Gerölls nicht scheut oder die rasante Fahrt durch den Schnee.

Bald wird es Herbst…

 

Ich mache mich auf den Rückweg. Es ist dieselbe Strecke. Aber der Blick ist anders. Rechts neben den grauen Felsen sehe ich jetzt auf der anderen Talseite Almwiesen und die Dörfer, die dort ihr Maiensäss haben. Und noch weiter oben die Hänge, an denen Gemsen und Steinböcke weiden, solange die Jagd noch nicht eröffnet ist. Sehe die Seen, tiefblau und milchigweiss. Und die Berggipfel dort hinten, die schon zu Italien gehören.

 

Alle eure Sorge werft auf ihn, er sorgt für euch.“ So einfach. Lasst euch nicht lähmen von eurer Angst. Lasst euch nicht den Blick trüben von all dem Grau. Lasst euch nicht betäuben von den Gerüchen und dem Geschmack des Elends. Erinnert euch an die Lilien und seht, wie sie wachsen. Sie säen nicht und arbeiten nicht und spinnen nicht und sind doch prächtiger gekleidet als Salomo in all seiner Pracht. Wenn Gott so für sie sorgt, wie sollte er das nicht viel mehr auch für euch tun?

Seht die Dinge, die euch passieren, unverhofft wie ein Regenbogen am Ende des Horizonts. Seht die Kinder an, die nicht geplant wurden und die doch da sind und spielen und lachen und feiern.

 

Ihr steht in Gottes Hand. Nichts kann euch trennen von der Liebe Gottes, auch nicht die fremden Wesen, die euch nachts den Schlaf rauben und am Tag den Mut.

Nicht der Löwe, der so beeindruckend brüllen kann hinter den Gitterstäben seines Käfigs. Nicht die Füchse, die kleinen Füchse, die die Weinberge verwüsten wollen zur Zeit der Blüte (Hld 2,15). Nicht die Vögel des Kummers, die um den Kopf herumfliegen und versuchen, Nester in unseren Haaren zu bauen.

 

Seht den Schmetterling. Den Himmelsstürmer, Alpenüberwinder. Neben dem Bach, mitten im Grau legt er seine Last ab. Mitbringsel aus fremden Gärten. Leben und Farbe und Hoffnung.

Wie das duftet!

 

Gott hat euch in seiner großen Gnade

zu seiner ewigen Herrlichkeit berufen.

In der Gemeinschaft mit Christus

habt ihr Anteil an ihr.

Nur für eine kurze Zeit müsst ihr leiden.

Dann wird er euch wiederherstellen und stärken,

euch Kraft und Halt geben.

Er regiert in Macht für immer.

Amen.

 



Pfarrerin Gerlinde Feine
Böblingen
E-Mail: gerlinde.feine@elkw.de

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