Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

16. Sonntag nach Trinitatis, 11.09.2016

Predigt zu Johannes 11:19-45 (dän. Perikopenordn.), verfasst von Leise Christensen


Als ich gestern mit meinem Hund einen langen Spaziergang machte, dachte ich, dass man eigentlich keinen Unterschied sehen kann zwischen einem Tag am See Genezareth und am Fjord von Ringkøbing. Der Sommer war in diesem Jahr lang und gut, ja er kann sich fast gar nicht losreißen und sich verabschieden. Aber ein Abschied kommt, das wissen wir, ein Abschied von den langen Tagen, der Wärme und dem blauen Himmel. Die Blumen, die Kornstoppeln, die Blätter, ja alles kehrt zurück auf die Erde und wird zu Erde, aber nicht ehe ein Samen in die Erde gelegt ist und alles so im Frühjahr wieder aufersteht. So ist der Kreislauf der Erde, so stehen Leben und Tod in einem spannungsvollen Verhältnis zu einander. Aber so ist es nicht bei den Menschen. Da ist es unwiderruflich vorbei, wenn ein Mensch seinen letzten Atemzug gemacht hat. Der Mensch wird zu Erde und erwacht nicht vom Schlaf des Todes zur Frühjahrszeit mit neuem Saft und neuer Kraft.
Dass es sich so verhält, wussten Maria und Martha, die Schwerstern des kürzlich verstorbenen Bruders Lazarus. Deshalb waren sie beide voller Trauer und Angst, als Jesus schließlich in die Stadt kam. Martha, die ihm draußen auf dem Weg begegnet, weiß sehr wohl, dass Jesus zu spät gekommen ist, denn der Tod ist und bleibt eine unüberwindliche Barriere für den Menschen. Da war mit anderen Worten nichts zu machen. Maria wirft zudem Jesus vor, dass er nicht etwas früher gekommen ist, dann hätte er ja eingreifen können so wie mit dem Blinden, der wieder sehen konnte, dem Gichtbrüchigen, der gesund wurde, und dem Lahmen, der wieder gehen konnte. Aber der Tod, nein, der ist endgültig. Lazarus war schon zu einer stinkenden Leiche geworden drinnen in der Felsenhöhle, so dass alle Hoffnung aus war für die beiden Schwestern. Aber so wollte Jesus es nicht. Lazarus wurde wieder zum Leben erweckt, er wurde von den Toten auferweckt.
Nun ist dies ja eine Geschichte, die wie keinen andere die Leute über tausend Jahre bewegt hat. Man denke, ein Toter wird wieder lebendig und kann zu seinen Freunden und Verwandten gehen, als wäre nichts geschehen. Das ist doch eine höchst merkwürdige und interessante Erzählung. Wir sind immer geneigt gewesen, das Phantastische in der Erzählung zu beachten, das, was unsere wildeste Phantasie und Vorstellungskraft übersteigt. Ein Toter wird wieder lebendig – wie das? Eigenartig und unerklärlich ist es denn auch. Einzigartig, phantastisch. Jedenfalls einzig durch alle Jahrhunderte bis vor einigen Jahren, als ich Pfarrer war, und die Zeitung von Ringkøbing wie gewohnt ins Haus kam. Nach dem Konfirmandenunterricht las ich wie gewöhnlich sporadisch in der Zeitung. Aber dann die Überraschung. Denn alles war nicht wie gewohnt Anzeigen, Hausverkauf und einige Kommentare zum Leben in der kleinen Stadt. Denn mitten in all den Anzeigen für alle möglichen Dinge konnte man ein Inserat sehen, indem bekannt gegeben wurde, dass ein Hr. so und so zu Besuch in der Stadt war. Das Besondere an diesem Gast der Stadt war infolge der Anzeige, dass er bislang bis zu 300 tote Menschen auferweckt hatte – d.h. 300 Mal Lazarus. Ich dachte nun doch, dass diese Nachricht sehr wohl in der Zeitung eine Titelgeschichte wert gewesen wäre. Denn wie oft passiert es, dass unser Herr Jesus selbst übertroffen wird, und dies mit einer Anzahl von 298 und zudem von jemandem, der sich zurzeit gerade in Ringkøbing befand? Vielleicht verwechselt dieser Gast die Lokalitäten und glaubt auch, dass es sich um den See Genezareth handelt und nicht den Fjord von Ringkøbing. Dass diese epochale Neuigkeit nicht auf den Titelseiten der Zeitungen des Landes auftauchte, liegt vielleicht daran, dass die gigantische Zahl der Totenauferweckungen die Sache etwas trivial macht, oder vielleicht liegt es in Wirklichkeit daran, dass das Interessante an der Totenauferweckung in Bezug auf Lazarus nicht die Totenauferweckung selbst ist, sondern etwas ganz anderes. Die Erweckung von Lazarus wird gerade Auferweckung genannt und nicht Auferstehung. Lazarus wurde zum Leben unter den Menschen auferweckt, aber nicht zum ewigen Leben. Es ist ein Unterschied zwischen Auferweckung und Auferstehung. Eines ist jedenfalls sicher – Lazarus muss wie alle anderen Menschen den Tod wieder erleiden. Wir wissen nicht, wie sein Leben nach der Auferweckung weiterging – vielleicht starb er an Lungenentzündung zwei Tage danach, vielleicht starb er als alter Mann, als er 100 Jahre alt war. Wir wissen es nicht. Nur eines wissen wir, sein Tod wurde zwischenzeitlich hinausgeschoben. Was können wir dann eigentlich mit dieser Erzählung heute anfangen, wenn Lazarus nur auferweckt wurde, um wieder zu sterben? Klar, unsere Aufmerksamkeit wird gefangen durch das Spektakuläre in der Erzählung, aber vielleicht sollen wir die Auferweckung des Lazarus als etwas anderes und mehr sehen als bloß eine phantastische Totenauferweckung. Wir müssen die Auferweckung des Lazarus als ein Zeichen sehen – ein Zeichen, das aus die Herrlichkeit Gottes verweist. Wenn Jesus zu der stinkenden Leiche in der Felshöhle sagt: „Komm heraus“, sehen wir einen Schimmer der Herrlichkeit Gottes. Aber die Herrlichkeit Gottes sehen ist nicht nur zu sehen, dass ein Toter wieder lebendig wird, denn die Herrlichkeit Gottes findet sich an vielen Stellen, wenn auch nicht so spektakulär. Die Herrlichkeit Gottes ist da, wo etwas wächst und heranreift, dort wo die Freude größer wird als die Sorge, dort wo sich Menschen begegnen, lieben und vergeben, dort wo Mitleid empfunden wird und Fürsorge für den anderen Menschen. Die Herrlichkeit Gottes ist dort, wo wir den Augenblick ergreifen und für Gott und unseren Mitmenschen leben. Storm P. der dänische einzigartige alte Humorist, hat einmal eine Zeichnung gemacht, wo man einen alten Friedhofsgärtner sieht, wie er still an einem neuen Grab sitzt mit seinem Hut im Nacken. Ein Mann kommt vorbei auf seinem Weg durch den Friedhof, und er sagt zu dem sitzenden Friedhofsgärtner: „Na, haben wir heute etwas Ausgang bekommen?“ Das ist ja eine verrückte Bemerkung, aber sie ist wie die meisten Zeichnungen von Storm P. sehr treffend. Denn schon dies, dass wir alle etwas Ausgang bekommen haben heute – dass der Tod uns nicht hat, sondern dass wir Ausgang haben, dass wir leben, das ist ein Wunder, ein Schimmer der Herrlichkeit Gottes. Das wirkt natürlich wie ein etwas selbstverständliches Wunder, aber jeder, der einen geliebten Menschen verloren hat, der sich von einer ernsten Krankheit erholt hat oder in anderer Weise den Überblick über sein Dasein verloren hat, weiß, dass der heutige Tag, wo wir etwas Ausgang bekommen haben, ein Wunder ist mitten im Alltag. Hier sind wir eben gegenwärtig. So wie Lazarus gegenwärtig war, als Jesus sagte: „Komm heraus“. Jeden Tag sagt Jesus auch zu uns: „Komm heraus zum Leben, komm heraus aus deinem Leben in Hoffnungslosigkeit, komm heraus aus deinem Kreisen um dich selbst, komm heraus aus deiner Lebensangst und deiner Todesangst. Komm heraus und sei da in deinem Alltag. Komm heraus und verwalte das Pfund, das die gegeben ist. Komm heraus, wo das Leben wirklich gelebt werden kann, weil die Macht des Todes gebrochen ist durch ein Wunder Gottes.“ Das ist das Interessante an der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus von den Toten. Wir haben Ausgang. Das ist das Wunder, für das wir Gott zu danken haben. Wir können auch dafür danken, dass wir so reich sind, dass wir etwas zu geben haben – Geld oder Zeit oder Liebe. Etwas haben wir, was wir den anderen geben können, die auch etwas A Ausgang bekommen haben. Und dann wissen wir sehr wohl, dass wir eines Tages keinen Ausgang bekommen. Aber dann gilt es noch immer – auch an diesem Tages – dass wir die Herrlichkeit Gottes sehen werden. Dafür nämlich ist die Auferweckung des Lazarus ein Zeichen. Amen.



Pastorin Leise Christensen
DK 8200 Aarhus N
E-Mail: lec(at)km.dk

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