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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Reminiszere, 04.03.2007

Predigt zu Johannes 8:23+25-30, verfasst von Christoph Dinkel

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht in Johannes 8 die Verse 26-30. Zur Situation: Jesus lehrt im Jerusalemer Tempel. Als Jesus sagt: „Ich bin das Licht der Welt", kommt es zu einem Streitgespräch mit einigen Pharisäern. Zur Rechtfertigung seines Anspruchs, Licht der Welt zu sein, verweist Jesus auf seine Herkunft von Gott als seinem himmlischen Vater. Den Pharisäern gegenüber erklärt Jesus: „Ihr seid von unten her, ich bin von oben her; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt." (Johannes 8,23) Kein Wunder, dass daraufhin die Pharisäer stutzen und zurückfragen: „Wer bist du denn?" Und wieder verweist Jesus sie auf seine Herkunft von Gott. Jesus sagt:

 

Der mich gesandt hat, ist wahrhaftig, und was ich von ihm gehört habe, das rede ich zu der Welt. Sie verstanden aber nicht, dass er zu ihnen vom Vater sprach.

Da sprach Jesus zu ihnen: Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin und nichts von mir selber tue, sondern, wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich. Und der mich gesandt hat, ist mit mir. Er lässt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt. Als er das sagte, glaubten viele an ihn.

 

Liebe Gemeinde!

Zeitreisen sind ein beliebtes Thema der Science-Fiction Literatur und von Science-Fiction-Filmen. Besonders die Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie durch Albert Einstein im Jahr 1916 hat dem Genre der Zeitreisen zu erheblichen Auftrieb verholfen. Manchen Vertretern dieser Theorie erscheint es denkbar, dass zwei verschiedene Bereiche der Raumzeit über so genannte Wurmlöcher miteinander verbunden sind. Theoretisch würden solche Wurmlöcher auch eine Passage von einem Bereich der Raumzeit in einen anderen zulassen. Eine Reise durch die Zeit wäre mithin prinzipiell möglich. Da Wurmlöcher jedoch nicht stabil sind und schnell wieder kollabieren, sind Zeitreisen faktisch dann leider doch nicht möglich. (Vgl. Art. Zeitreise bei Wikipedia). Und so bleiben wohl auch in Zukunft Zeitreisen den Science-Fiction-Romanen und -Filmen vorbehalten.

 

Zeitreisen sind als Thema in Romanen und Filmen deshalb so beliebt, weil bei einer Zeitreise das Normale und Alltägliche in ein neues Licht gerückt wird. Wer als moderner Mensch in die Zukunft oder in die Vergangenheit katapultiert wird, erfährt eine heilsame Irritation im Blick auf das bislang Vertraute und Selbstverständliche. Dem Zeitreisenden wird bewusst, dass alles auch ganz anders sein kann als es normalerweise ist. In bescheidenerem Umfang als bei einer Zeitreise - dafür aber wirklich und nicht fiktional - erleben wir diese Infragestellung unserer alltäglichen Normalität auch bei einer Urlaubsreise in ein fernes Land mit einer fremden Kultur. Das Andersartige dort entrückt uns aus unserer vertrauten Welt und das macht dann einen guten Teil des Erholungseffektes bei einem Urlaub aus. Und selbst ein guter Roman oder ein Theaterstück können uns ein wenig aus der alltäglichen Realität entrücken. Verfremdungseffekt nennt man das dann mit einem Begriff von Bertold Brecht.

 

Zeitreisen, wie wir sie aus Romanen oder Filmen kennen, kannte man zurzeit Jesu noch nicht. Aber wenn man genau hinschaut, erkennt man, dass auch im Neuen Testament Verfremdungseffekte verwendet werden, die auf der Verschiebung von Zeiten beruhen. Das ganze apokalyptische Weltbild der Zeit Jesu verdankt sich der Unterscheidung von verschiedenen Zeiten. Jesus selbst verkündet, dass die neue Zeit Gottes schon in die Jetztzeit hereinbricht und die gegenwärtige Welt verwandelt. Besonders augenfällig wird der Umgang mit verschiedenen Zeiten im Johannesevangelium praktiziert. Am Anfang des Evangeliums sagt zum Beispiel Johannes der Täufer über Jesus: „Nach mir wird kommen, der vor mir gewesen ist; denn er war eher als ich." (Johannes 1,15).

 

Statt verschiedene Zeiten zu unterscheiden können im Johannesevangelium auch verschiedene Welten unterschieden werden. Der anderen Zeit Gottes - Ewigkeit genannt - entspricht die neue, andersartige Welt Gottes. Das eine geht mit dem anderen einher und so sagt Jesus in unserem Abschnitt zu den Pharisäern: „Ihr seid von unten her, ich bin von oben her; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt." Jesus selbst beschreibt sich mit diesen Worten als einen Zeit- und Weltenreisenden, der aus Gottes eigener Zeit und Welt in die Menschenzeit und -Welt gekommen ist. Die Missverständnisse, denen die Worte und Taten Jesu ausgesetzt sind, rühren daher, dass die Menschen nicht erkennen, aus welcher Zeit und aus welcher Welt Jesus kommt. Selbst der Tod Jesu hat seinen letzten Grund darin, dass die wahre Identität Jesu nicht erkannt wird.

 

Versteht man Jesus als einen Reisenden aus einer anderen Zeit und Welt, so taucht allerdings sofort die Frage auf, ob Jesus denn dann überhaupt ein wirklicher Mensch war. In der Darstellung des Johannesevangeliums wirkt Jesus stellenweise eher wie ein auf der Erde wandelnder Gott. Auf das Johannesevangelium haben sich deshalb auch immer wieder Sekten berufen, die an der wahren Menschheit Christi gezweifelt haben. Gegen solche sektiererische Tendenzen hat dann das nicänische Glaubensbekenntnis im 4. Jahrhundert festgehalten, dass Jesus wahrer Gott und wahrer Mensch ist. Denn auch wenn Jesus im Johannesevangelium oft genug wie ein Reisender aus einer anderen Welt erscheint, so besteht doch gar kein Zweifel daran, dass Jesus auch im Johannesevangelium ein wirklicher Mensch ist, der mit den anderen isst und trinkt, der fröhlich und auch traurig sein kann. Und dass es auch dem Johannesevangelium am Ende immer und diese und nicht um eine jenseitige Welt geht, erkennt man deutlich an Johannes 3,16, einem der zentralen Sätze des Evangeliums: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben."

 

Mehr jedoch als in den anderen Evangelien ist das Bild, das im Johannesevangelium von Jesus entworfen wird, von den Ostererfahrungen her geprägt. Dem Johannesevangelium geht es weniger um eine historisch korrekte Darstellung des Lebens Jesu wie den übrigen drei Evangelien, vielmehr versucht das Johannesevangelium das Leben Jesu so darzustellen, dass zu jedem Zeitpunkt im irdischen Jesus der Gottessohn erkennbar wird. Deshalb spricht und handelt der Jesus des Johannesevangeliums an vielen Stellen, wie eigentlich nur der nachösterliche Jesus, der Auferstandene, sprechen und handeln kann. Auch hier ist im Johannesevangelium eine Verschränkung zweier Zeiten zu erkennen: In den Reden und Taten des vorösterlichen Jesus von Nazareth wird der nachösterliche Jesus sichtbar und erlebbar. Das ist für uneingeweihte Leser des Evangeliums erst einmal irritierend. Man rechnet nicht damit, dass sich biblische Autoren solch einer ausgefeilten Erzählkomposition bedienen. Aber nur weil das Johannesevangelium 1900 Jahre alt ist, sollte man seinen Autoren nicht weniger Raffinement zutrauen als heutigen Autorinnen und Autoren.

 

Die Missverständnisse und Irritationen, die Jesus im Johannesevangelium auf Schritt und Tritt auslöst, sind samt und sonders erzählerisch gewollt. Sie sind das Ergebnis einer doppelten Verschränkung der Zeiten: auf der erzählerischen Ebene zwischen dem vor- und dem nachösterlichen Jesus und auf der sachlichen Ebene zwischen dem Christus, der zur menschlichen Zeit und Welt gehört, und dem Christus, der aus Gottes Zeit und Welt kommt.

 

Aber wozu das alles? Wozu dieser erzählerische Aufwand und diese anspruchsvolle und komplexe Zeitkonstruktion?

 

Es geht, so denke ich, um Vergewisserung. Es geht um Vergewisserung angesichts massivster Infragestellung. Es geht darum, ob ein Mensch, der so elend zu Grunde geht wie Jesus, ob ein Mensch, der durch Folter und Kreuzestod bis aufs äußerste geschändet wird, ob solch ein Mensch wirklich der Sohn Gottes ist. Kann das sein, dass Gott wirklich auf der Seite Jesu steht, obwohl Jesus so entsetzlich leiden muss? Kann das sein, dass Gott auch auf Golgatha bei Jesus ist und dass er ihn in all seinem Leiden begleitet und bewahrt?

 

Und mehr auf uns persönlich gewandt lässt sich fragen: Kann es denn sein, dass ich auch dann, wenn ich mich ganz und gar in Frage gestellt sehe, immer noch ein Kind Gottes bin? Kann es sein, dass Gott auch dann bei mir ist, wenn ich schwer krank bin, wenn ich große Schmerzen leide, wenn alles schief läuft in meinem Leben und ich mich ohne Freunde und ohne Schutz fühle? Kann es sein, dass Gott auch dann noch bei mir ist, wenn ich sterbe und dass er mein Leben so wie das Leben Jesu in seiner Ewigkeit bewahrt?

 

Es geht um Vergewisserung angesichts massivster Infragestellung. Es geht um Vergewisserung im Blick auf Jesus und sein Leiden und es geht um Vergewisserung im Blick auf mich selbst, auf mein Schicksal und mein Leben. Die Vergewisserung im Blick auf Jesus, die Vergewisserung im Blick auf mein Leben - sie erfolgt im christlichen Glauben durch die Einführung einer zweiten Perspektive, durch die Einführung der Perspektive Gottes auf mein Leben und auf das Leben Jesu.

 

Gott sieht das Leben Jesu anders als es dessen Mörder tun: Gott sieht in Jesus nicht den Gescheiterten, sondern den Menschen, der bis zu seinem Ende den Willen Gottes tut. „Ich tue allezeit, was ihm gefällt", sagt Jesus den Pharisäern, die nicht wissen, wer er ist. Gott sieht in Jesus nicht einen falschen Propheten, der die Menschen in die Irre führt, wenn er sie für Liebe, Gerechtigkeit und Frieden zu gewinnen sucht.

 

Gott sieht in Jesus vielmehr den Menschen, der die Welt aus der Sicht Gottes zu betrachten versteht. Ihr werdet erkennen, dass ich „nichts von mir selber tue, sondern, wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich", sagt Jesus den Pharisäern und will sie damit auf die Seite von Gottes neuer Welt ziehen.

 

Die Kreuzigung Jesu, seine Erhöhung am Schandpfahl, die seine Mörder als Akt ultimativer Vernichtung vollziehen, ist aus der Sicht Gottes die ultimative Bestätigung dafür, dass Jesus zu Gott erhöht ist und nicht dieser zerstörerischen Welt, sondern der Welt Gottes angehört. Aus dieser österlichen Perspektive sagt Jesus den Pharisäern, die ihn fragen, wer er ist: „Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin."

 

Gott sieht in Jesus nicht den Gescheiterten und den von aller Welt und von Gott Verlassenen. Gott ist bei Jesus auch noch in seiner letzten Not, wenn Jesus nach dem Bericht des Markusevangeliums selbst an der Nähe Gottes zweifelt. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen", schreit der irdische, vorösterliche Jesus voller Verzweiflung am Kreuz auf Golgatha. Der Jesus des Johannesevangeliums hingegen macht sich durch die kühne erzählerische Zeitverschränkung die nachösterliche Perspektive Gottes zu Eigen und sagt zu den Pharisäern, mit denen er redet, voller Gewissheit: „Der mich gesandt hat, ist mit mir. Er lässt mich nicht allein."

 

Der christliche Glaube lebt von der Verfremdung unserer alltäglichen Sichtweisen, er lebt von der Differenz der Perspektiven, er lebt davon, dass er die Sicht Gottes auf die Welt, auf Jesus, auf unser Leben zur Sprache bringt und uns für diese Sicht Gottes zu gewinnen sucht. Die Sicht Gottes ernster zu nehmen als alles, was uns zu zerstören und klein zu machen sucht - das ist die Kraft und das Geheimnis des christlichen Glaubens. Wenn man sich die Perspektive Gottes aneignet, kann man singen: „In dir ist Freude in allem Leide", wie wir es zu Anfang des Gottesdienstes getan haben. Wenn man weiß, dass Gott auch gegen allen Augenschein bei einem ist, kann man so singen, wie wir es nachher tun werden: „Ist Gott für mich so trete gleich alles wider mich".

 

Unser christlicher Glaube mutet uns keine Zeitreise zu, aber er mutet uns die irritierende und befreiende Sicht Gottes auf die Welt und auf unser Leben zu. Der Glaube rückt unser alltägliches Leben mit seinem Leiden und mit der Normalität der Verzweiflung in das Licht der Liebe Gottes. Was immer geschieht - so sehen wir an Jesus und seinem Leben - Gott ist bei uns. Unser Leben ist ein Teil von Gottes Welt, unsere Lebenszeit ist ein Teil von Gottes Ewigkeit. Wie Jesus gehören auch wir mitten in dieser Welt ganz zu Gott. Gott lässt uns nicht allein. - Amen.

Prof. Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart

E-Mail: dinkel@email.uni-kiel.de

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