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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Rogate, 06.05.2018

„Jetzt Dringliches“ und „Bleibend Wichtiges“
Predigt zu Kolosser 4:2-6, verfasst von Thomas Schlag

Liebe Gemeinde,

vermutlich sind sie Ihnen auch schon einmal aufgefallen: Die türkisfarbenen Anzeigen auf den roten Edinburgher Bussen mit der Aufschrift „Try praying“.[1] Dazu sind manchmal noch ein fröhliches Gesicht sowie der Text „It‘s easier than you think“ abgebildet. Und hingewiesen wird zudem auf die Websiteadresse: www.trypraying.uk.co“.

Dieser Sache bin ich nachgegangen und habe im Netz nähere Informationen aufgestöbert. Diese Gebetswerbung findet sich seit 2015 in Schottland jeweils vor Ostern 40 Tage lang auf 40 Bussen. Sie wendet sich – so die Auskunft – bewusst an „people like that: no church connection or interest, but open to find out about God.“[2]

Man kann dazu auch eine spezielle App downloaden oder – old style – ein kleines, ebenfalls türkisfarbenes Booklet bestellen, mit dem man sich in sieben Tagen dem Beten annähert. Für den ersten Tag wird der folgende Text vorgeschlagen: „God, if you are there – and I am not sure you are – but if you are, I want to know you. I don’t want to fool myself; I really want to know you. So as I pray this week please make yourself known to me.”  Dazu erfährt man in diesem Booklet die folgenden Zahlen: 20 Millionen Menschen in Großbritannien beten. Neun Millionen täglich. Jeder Dritte glaubt, dass Gott das eigene Gebet erhören wird.

Diese Initiative lässt erkennen, dass es um das Beten offenbar einstmals besser gestanden ist als in der Gegenwart – und dies nicht nur im weitgehend säkularisierten Schottland. Und es zeigt sich, dass sich einige Privatpersonen, unterstützt von vielen Kirchengemeinden, offenkundig mit dieser Situation nicht einfach klaglos abfinden wollen.

Das wäre vielleicht auch für Deutschland nicht die schlechteste Idee: Denn hier zeigen sich sehr ähnlich Tendenzen: Nur noch jeder fünfte Deutsche betet regelmäßig.Am meisten beten ältere Menschen. Frauen, dabei weit häufiger als Männer. Im Westen wird doppelt so oft gebetet wie im Osten der Republik. In den neuen Bundesländern geben zwei Drittel der Befragten an, noch nie gebetet zu haben.[3]

Liebe Gemeinde,

die blanken Zahlen zeigen natürlich noch nicht die ganze Wahrheit. Naturgemäß bleibt beim Beten vieles ganz im Dunklen – wo und wann, wie, wozu und zu wem gebetet wird, spielt sich häufig im Verborgenen ab. Und so weiß man tatsächlich nur wenig über die reale Gebetspraxis.

Und tatsächlich ist das Beten ja wirklich eine außerordentliche intime, private Angelegenheit, über die man häufig nicht einmal mit dem eigenen Partner spricht – geschweige denn mit Freunden, Arbeitskollegen oder Nachbarn.  

Bis in kirchliche Kreise hinein scheint man sich nicht mehr so ganz sicher zu sein, ob denn die Einladung zum Gebet überhaupt angemessen ist: Da trifft man sich in einem Kirchengemeinderat zu einer Sitzung – soll man diese mit einem Gebet beginnen? Da beendet man ein Treffen mit Pfarramtskollegen, soll man am Schluss gemeinsam beten? Da lädt man Freunde zum Lunch oder Dinner ein – soll man mit einem Tischgebet beginnen?

Vielleicht ist ja über Jahrhunderte hinweg zu viel Schindluder und Unheil angerichtet worden. Mit Gebeten, die eigentlich nur dazu dienten, eine bestimmte Machtposition zu untermauern, oder den anderen ohne Möglichkeit der Gegenrede von oben her indirekt und mit göttlichem Anflug zu belehren, oder aber als Mittel zur puren Indoktrination und der Ausgrenzung: Der Satz „Helm ab zum Gebet“ lässt mich immer noch schauern.

Möglicherweise gibt es für viele nur noch zwei Gelegenheiten zum Gebet, in der Gesamtstimme des Gottesdienstes, wo man sich dann auch durchaus vornehm zurückhalten kann oder eben im stillen Kämmerlein ganz für sich. Oder haben wir doch das Beten verlernt?

Heute feiern wir im Kirchenjahr den sogenannten Sonntag Rogate, den Gebetssonntag zwischen Ostern und Pfingsten, Und im Predigttext zu diesem Tag geht es auch um das Gebet:

Der Hintergrund ist schnell erzählt. Wir befinden uns in einer jungen christlichen Gemeinde im Ort Kolossäe, einem nicht unbedeutenden Ort an einer der grossen Handelsstrassen der antiken Welt, die in der heutigen Türkei liegt. Viel ist heute von der Stadt nicht mehr übrig. Sie wurde bereits im ersten Jahrhundert nach Christus durch ein Erdbeben weitgehend zerstört – man kann heute noch einige Ruinen besichtigen:

Die junge Gemeinde empfängt damals einen Brief von überschaubarer Länge – nach heutiger Zählung gerade einmal vier Kapitel. Er ist im Namen des Apostels Paulus verfasst – also nicht durch ihn selbst, sondern durch einen seiner Anhänger und Mitstreiter. Was wir jetzt hören, bildet vor den abschließenden Grüßen das Ende des Briefes:

2 Seid beharrlich im Gebet und wacht in ihm mit Danksagung!

3 Betet zugleich auch für uns, auf dass Gott uns eine Tür für das Wort auftue und wir vom Geheimnis Christi reden können, um dessentwillen ich auch in Fesseln bin,

4 auf dass ich es so offenbar mache, wie ich es soll.

5 Verhaltet euch weise gegenüber denen, die draußen sind, und kauft die Zeit aus.

6 Eure Rede sei allezeit wohlklingend und mit Salz gewürzt, dass ihr wisst, wie ihr einem jeden antworten sollt.

Nun könnte man meinen, dass das Beten damals in der jungen Gemeinde ganz selbstverständlich war. Es war doch wohl klar, wie man, wann man, zu wem man beten sollte. Aber so einfach hat es sich schon damals nicht verhalten. Man hat fast den Eindruck, dass in dieser Stadt Kolossäe die Dinge genauso umstritten waren wir heute:

Wir erfahren indirekt aus diesem Brief, dass sich in dieser Gemeinde ein ganzer Markt antiker Weisheitslehrer und religiöser Kulte befand. Und ein Kult hat wohl besonders große Faszination ausgelöst: ein Art antiker Engelskult. So jedenfalls wird es zwischen den Zeilen des Briefes deutlich, wenn die Gemeinde ermahnt wird: „Lasst Euch den Siegespreis von niemandem nehmen, der sich gefällt in falscher Demut und Verehrung der Engel und sich dessen rühmt, was er geschaut hat, und ist ohne Grund aufgeblasen in seinem fleischlichen Sinn“ (2, 18).

Der Hauptvorwurf, den man diesem Kult machte, war die Vergegenständlichung des Göttlichen. Die Sicht auf die handfest dramatisch agierenden Engel verdeckte mehr und mehr die Besonderheit des österlichen Christus-Ereignisses. Das sehnsuchtsvolle Gebet zu den Engeln drohte Gott aus den Augen zu verlieren.

Und so ermutigt also der Briefschreiber seine Gemeinde, sich neu zu besinnen: Wir erleben sozusagen ein antikes „Try praying“. Und dieses hat eine vierfache Gestalt:

Es geht darum, mit wachem Sinn zu beten – es geht darum, für andere zu beten – es geht zugleich darum, sich weisheitlich zu verhalten – und schließlich voller Überzeugung den eigenen Glauben zur Sprache zu bringen. Beten hat also mit Wachsamkeit, Fürbitte, Weisheit und Redekraft zu tun.

Diese vier elementaren Punkte werden in diesem kleinen, feinen Brief an die Kolosser ganz eindeutig zusammengebunden. Es wird sehr deutlich, woran sich dieses Beten orientiert, worauf es sich verlassen kann: Das sind weder die Engelmächte, noch die eigenen menschlichen Kräfte. Ich muss im Gebet die Beziehung zu Gott nicht selbst herstellen – weil Gott bereits mitten unter uns da ist und alles Wesentliche schenkt:

Wie war das doch im Text des Booklets zum ersten Tag: „God, if you are there – and I am not sure you are – but if you are, I want to know you. I don’t want to fool myself; I really want to know you. So as I pray this week please make yourself known to me.” 

Gott, bist Du da? Diese Frage ist schon der Anfang des Betens. Ich weiß es nicht, aber ich hoffe und vertraue darauf. Ich habe Zweifel, aber gerade so richte ich meine Worte an Dich. Indem ich meine Hände zum Gebet erhebe, oder falte, kann ich schon jetzt Deine geöffneten Hände spüren. Indem ich flehe und klage und weine, ist Gott immer schon bei mir.

Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard hat es so gesagt:„Das Gebet ändert nicht Gott, sondern den Betenden.“

Im Gebet kommen wir mit allen unseren Facetten zum Vorschein. Indem wir beten, lassen wir los, um wieder neu empfangen zu können – nicht aus eigener Macht und Kraft, sondern indem wir uns von dem überraschen lassen, was wir uns selbst nicht geben können. Ich muss nichts weiter tun, als darauf zu vertrauen, dass es Gott gut mit mir meint. Insofern ist das Beten nicht das, was wir Gott geben, sondern was er uns längst schon geschenkt hat.

Von der spanischen Nonne Teresa Forcades gibt es die wunderbare und durchaus augenzwinkernde Kurzbeschreibung des Betens: „Es ist wie in einer Liebesbeziehung: der Moment, in dem man sich küsst. Wenn du von der Liebe geführt wirst, denkst du nicht. Wir wachsen über unsere Grenzen hinaus, verbinden uns mit dem anderen. Aus einer Umarmung kommt man verändert heraus. Aber es gibt einen Unterschied: Gott zeigt sich nicht jedes Mal. Manchmal ist Beten auch langweilig.“[4]

Wir können Wachsamkeit, Fürbitte, weisheitliches Handeln und Redekraft üben, weil Gott schon längst wachsam und weisheitlich und liebevoll für uns da ist.

Es braucht also nicht mehr als die eigene Offenheit, dass sich Gutes für mich ereignen wird. Das ist weder Selbsthypnose noch Selbstbeweihräucherung, das ist kein Anschauen von goldglänzenden Engelsfiguren, sondern der Blick in die Weite und in die Höhe, in die Tiefe und auch in die Nähe. Das kann die Klage und die Freude, das Verzweifelt sein und die unbändige Wut, aber auch das innere Jubeln und Dankbarkeit sein. Im Gebet darf alles anklingen und zur Sprache gebracht werden. Das eigene Zweifeln und die eigene Gewissheit, das tiefe Misstrauen und die unendliche Hoffnung.

Und so ist es natürlich gar kein Zufall, dass dieser Textausschnitt aus dem Kolosserbrief zwischen Ostern und Pfingsten zur Sprache kommt. Denn das Gebet lebt von der Erfahrung, dass das ganze Leben durch die Liebe Jesu Christi, die in der Auferstehung hell aufscheint, zusammengehalten ist: So heißt es im Brief an die junge Gemeinde: „Lasst das Wort Christi reichlich unter Euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.“ (3, 16)

Die ja so oft erwünschte Veränderung durch das Gebet besteht darin, dass schon jetzt die Veränderung erkennbar wird. Es kommt etwas hinzu, was wir uns nicht selbst und auch nicht allein sagen können. Das Gebet ist „Lebensbetrachtung vom höchsten Standpunkt aus“ (Ralph Waldo Emerson) Im Beten wird Gottes Beziehung deutlich – eben nicht nur für uns, sondern für die ganze Gemeinde.

Einen wunderbar glänzenden Stolperstein des heutigen Predigttextes will ich noch erwähnen: Der Schreiber des Briefes sagt: „Kauft die Zeit aus“ (τὸν καιρὸν ἐξαγοραζόμενοι). Was ist damit gemeint? Wie kann man Zeit auskaufen. Gemeint ist damit so viel wie: Nehmt Euch die Zeit, sorgt für heilsame Unterbrechungen, füllt die Zeit neu, mit dem was wirklich wichtig ist.

Ich erinnere heute Morgen gerne an Dietrich Ritschl, den in diesem Jahr verstorbenen Heidelberger Theologen, der in dieser deutschsprachigen Gemeinde zwischen 1952 und 1958 tätig war und nach dem 2. Weltkrieg vieles wieder ganz neu und versöhnlich aufgebaut hat.[5] Er nimmt diese Frage nach der Zeit auf und unterscheidet weisheitlich zwischen dem jetzt Dringlichen und dem bleibend Wichtigen: Das „jetzt Dringliche“ ist der menschliche Augenblick, das menschliche Denken, Beten und Handeln, Freude, Not und Menschenwürde. Das „bleibend Wichtige“ aber richtet sich auf die Zeit, in der der Augenblick seinen tieferen Sinn erfährt. Hier kommen Zukunft und Hoffnung in den Blick, hier eröffnet sich der Horizont des Willens Gottes.[6] Hier ist der höchste Standpunkt allen Betens im Blick.

Und beide Zeit-Perspektiven gehören zur notwendigen, heilsamen Zeit-Unterbrechung. Ritschl fährt fort: „Wenn in Kirche und Theologie nur nach dem ‚bleibend Wichtigem‘ gefragt wird, geht der Augenblick verloren; wird nur nach dem ‚jetzt Dringlichen‘ gefragt, so gehen die Zeit und die Perspektiven verloren.“[7]. Im Gebet kann also etwas gesagt werden, „was in berichtender, diskursiver Sprache nicht ausdrückbar ist.“[8]

Und so gilt eben auch für die Gemeinde als Tugend eines neuzeitlichen „Try praying“, so weisheitlich zu handeln und zu reden, dass etwas vom österlichen Licht, vom größeren Lebenszusammenhang, vom Willen Gottes erkennbar und spürbar wird. Dazu müssen es nicht immer aufwändige Plakataktionen und Gebets-Apps sein: Sondern schon das ganz Schlichte hat österliche Kraft: Verhaltet euch weise gegenüber denen, die draußen sind. … Eure Rede sei allezeit wohlklingend und mit Salz gewürzt, dass ihr wisst, wie ihr einem jeden antworten sollt.

Sowohl beim Einzelnen wie bei der ganzen Gemeinde sind Wachsamkeit, Fürbitte, Weisheit und Redekraft gefragter und notwendiger denn je. Denn Dringliches und Wichtiges gibt es in diesen Zeiten wahrlich genug. Amen.

 

[1]http://www.qpcweb.org/notices/try-praying1

[2]https://www.trypraying.co.uk/about/

[3]https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/gesellschaft/2015/03/26/wie-oft-beten-die-deutschen/

[4]http://www.theologie-und-kirche.de/

[5]Vgl. http://www.uni-heidelberg.de/md/theo/aktuelles/nachruf_ritschl.pdf

[6]Vgl. Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken. München 1984, 123.

[7]Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken. München 1984, 122.

[8]Dietrich Ritschl/Martin Hailer, Grundkurs christliche Theologie. Neukirchen-Vluyn, 32010, 387.

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Thomas Schlag ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich und verbringt gegenwärtig als Visiting scholar ein Auslandsjahr am New College der University of Edinburgh. Diese Predigt wird am Sonntag Rogate, 6.5.2018 in der deutschsprachigen Gemeinde Edinburgh gehalten.



Prof. Dr. Thomas Schlag
Edinburgh, Schottland
E-Mail: thomas.schlag@theol.uzh.ch

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