Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

9.Sonntag nach Trinitatis, 29.07.2018

Von Gott gesehen
Predigt zu Jeremia 1:4-10, verfasst von Ulrich Pohl

Du sollst gehen, wohin ich dich sende und predigen, was ich dir gebiete … Sind diese Sätze nicht vor allem für einen Pfarrer gedacht? Oder für eine Pfarrerin? Die sind es ja in erster Linie, die das Wort Gottes weitersagen. Und so gesehen sind sie es, die besonders darauf angewiesen sind, dass Gott bei ihnen ist, wenn sie um der Wahrheit willen einmal gegen den Strom schwimmen …

 

Man kann sich als Pfarrer von unseren Versen tatsächlich besonders angesprochen fühlen. Aber gedacht sind diese Verse aus dem Jeremiabuch natürlich für alle. Die Art und Weise, in der Gott und Jeremia hier mit einander umgehen, hat ja auch so gar nichts Formelles, nichts (Pfarr-)Amtliches. Im Gegenteil, fast könnte man sagen: Die beiden reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Sie fragen einander, widersprechen, lenken ein und antworten einander. Wie nahe sie sich dabei kommen! Sie reden wie von Mensch zu Mensch. Beinahe wie Vater und Sohn. Nein, Gottes Sohn ist Jeremia nicht. Aber Gott geht sehr väterlich mit ihm um. Und beide scheinen einander so vertraut zu sein, dass man sich beim Lesen unwillkürlich an Jesus erinnert fühlt. Jesus hat das Buch des Propheten Jeremia gekannt. Und die Nähe zu Gott, die bei Jeremia zu spüren ist, mag Jesus ermutigt haben, seinerseits ein besonders inniges Verhältnis zu Gott zu suchen. So innig, dass er es schließlich gewagt hat, Gott seinen Vater zu nennen.

 

So nah sollen wir Gott auch sein. Auch wir dürfen Gott unseren Vater nennen. Wir sollen uns Gott ebenso aufrichtig zuwenden, ohne alle Scheu. Wir dürfen das Zwiegespräch mit ihm suchen. Wir dürfen herzlich, unbefangen und offen zu ihm sprechen.

 

Aber! Wenn ich mein Leben in so großer Gottesnähe führe, ist das auch anstrengend. Es kann das Leben kosten. Jeremia hat das erfahren. Mehr als einmal hat er im Laufe seines Prophetendaseins gebetet, dass Gott ihn doch endlich in Ruhe lässt. Dass Gott ihn ein ruhiges Leben führen lässt, wie es alle anderen auch haben. Mehr als einmal hat er versucht, sich von Gott zurück zu ziehen. Sich die Ohren zu verstopfen für die Stimme, die da so unerbittlich in ihm spricht. Gelungen ist es ihm nicht. Nahe bei Gott zu sein – für Jeremia war das auch eine große Last. Das wäre für uns vermutlich genauso. Wir müssten auf vieles verzichten, was uns lieb ist.

 

Ob das der Grund ist, weshalb das Lebensgefühl, von Gott gesehen und angesprochen zu werden, immer weniger wird? „Zwiesprache mit Gott“, das hört sich an wie eine Redewendung aus einer längst vergangenen Zeit.

 

Da sind wir dann doch lieber im Gespräch mit unseren Mitmenschen. Und das möglichst ununterbrochen, denn dann sind die Lücken, in denen sich Gott bemerkbar machen könnte, umso kleiner. Unser handliches Kommunikationsgerät ist überall dabei. Ein Druck auf die Schaltfläche, und schon sind wir verbunden. Selbst in der Nacht noch tippen unsere Finger hastig die aktuelle Statusmeldung. Ein paar Tage ohne? Schwierig! Drei Wochen Urlaub ohne? Hilfe, meine ganzen Kontakte! Was kann alles passieren, und ich kriege es nicht mit! Und umgekehrt ich: Am Ende erlebe ich etwas völlig verrücktes, und kann es mit niemandem teilen!

 

Wie sehr doch auch mir der Gedanke abhandengekommen ist, dass da jemand ist, der mich sieht, auch wenn niemand da ist. Man will uns das als Befreiung verkaufen. Als Befreiung von einer Gottesvorstellung, die viele als unerbittlich empfunden haben: „Gott sieht alles!“ Dagegen setzt unsere Zeit ein „Nein, keine Sorge, Gott guckt schon nicht hin.“

Die Kehrseite dieser Befreiung ist, dass sich viele Menschen überhaupt nicht mehr gesehen, sich alleingelassen fühlen. Andere meinen, sie könnten tun und lassen, was sie wollen, auch wenn es anderen schadet, „es sieht ja keiner“. Ganz furchtbare Auswüchse zeigt die „Befreiung“ in einem Land wie China. Dort sind mittlerweile Millionen von Kamera-Augen auf die Straßen und Plätze gerichtet. Sie überwachen und bewerten alles, was man tut, danach, ob es der Allgemeinheit dienlich ist. Eine Gesellschaft, die sich von Gott nicht mehr gesehen fühlen will, beginnt sich selbst unablässig in den Blick zu nehmen. Und in einer Gesellschaft, die sich von Gott nicht mehr angesprochen wissen will, erteilt die Menschen einander unerbittlich ihre eigenen Noten.


Wie schön sich dagegen diese Sätze anhören, wenn Gott sie spricht: Ich sehe dich. Ich sehe, was du machst. Ich bekomme mit, was du erlebst. Ich kenne dich. Ich kannte dich schon, da warst du noch ganz klein. Das erste, was es von dir gibt ist der erbsengroße Fleck auf dem Ultraschallfoto? Ich kannte dich schon vorher. Schon lange vorher.

Gott sieht uns. Gott sieht mich. Gott hört uns. Gott hört mich. Er spricht. Zu uns. Zu mir, zu Ihnen. Wahrscheinlich tut es uns gut, diese alten Gewissheiten in unserem Glaubensleben wieder etwas stärker zu kultivieren: Gott ist ein Gegenüber, das es wirklich gibt. Ein gegenüber aus Fleisch und Blut sozusagen. Wir sollen sprechen. Wir sollen hören. Und wir sollen unsere Kinder wieder stärker in dem Gefühl großwerden lassen, dass da jemand ist. Ein Gott, der sie sieht wie sie sind. Aber auch: Von dem es möglich ist, dass er ihnen einmal begegnet, und etwas von ihnen verlangt. Etwas, das sie ohne weiteres nicht zu geben bereit sind. Wie das bei Jeremia war. Dann sollen sie wissen, wie man mit Gott spricht. Sie sollen wissen, wie man bei Gott einen Einwand vorbringt. Wie man protestiert. Und wie man sich am Ende dennoch fügt. Wie Jeremia es tut.

 

Ein kleiner, beinahe auch in Vergessenheit geratener Schatz unseres Glaubens ist das Abendgebet „Müde bin ich geh zur Ruh“. Es handelt vom Gesehen werden, vom Mitunter-Nicht-Gesehen-Werden-Wollen. Und von der Gnade Gottes, wenn er über unsere Verfehlungen hinwegsieht. Wie gerne habe ich es als Kind erst gehört. Sogar den Vers von „Jesu Blut“ - ohne dass mich diese Redewendung beunruhigt hätte. Die Feststellung „machen allen Schaden gut“ waren die Entschädigung für das, was ich an Schlimmem noch nicht verstehen konnte. Sie war fast so etwas wie eine allabendliche Lossprechung. Und ich glaube, für meine Großmutter, die mir dieses Gebet beigebracht hat, war sie es auch.

 

Gott sieht. Er spricht. Er hört, wenn wir sprechen. Es täte uns wohl gut, wenn diese Gewissheiten wieder wachsen. Wenn wir Gott wieder so nahe spüren können wie unsere zweite Haut. Ihn in uns aufnehmen, wie die Luft die wir atmen. Er kennt uns von Anbeginn. Er liebt uns. Er will Gutes für uns. „Fürchte dich nicht, ich bin bei dir und will dich erretten … Und ich wache über mein Wort, dass ich‘s auch tue.“

 

Amen.

 

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Ulrich Pohl, geb. 1961, Pfarrer in der EKiR, verheiratet, drei Kinder.



Pfarrer Ulrich Pohl
Neuss, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
E-Mail: ulrich.pohl@ekir.de

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