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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 12.08.2018

Geliebt – ohne Bedingung
Predigt zu Galater 2:16-21, verfasst von Sibylle Rolf

Liebe Gemeinde,

 

Die Tür fällt mit einem lauten Knall ins Schloss. Bei Susanne dreht sich alles. Wie konnte das geschehen, fragt sie sich. Ich wollte doch alles richtig machen. Ich habe mir genau überlegt, was ich tun soll. Wir haben Regeln vereinbart, damit wir gut miteinander leben können. Meine Schwester und ich. Und jetzt haben die Regeln versagt. Wie das manchmal eben geht. Einer verletzt den anderen, und das Vertrauen ist aufgebraucht. Aus einem Impuls heraus hatte Susanne ihre Freundin Mathilde eingeladen und die Verabredung mit ihrer Schwester vergessen. Dabei hatten sie doch vereinbart, dass sie heute gemeinsam zum Grab der Mutter gehen.Immer denkst du nur an dich... warum kannst du dich nicht an Absprachen halten...? Susanne hört noch die bitteren Fragen ihrer Schwester. Dabei wollte sie einfach alles richtig machen. Mathilde hat sie doch gebraucht. Wie kann die Liebe wieder fließen?

 

Axel kann nicht schlafen. Seine Gedanken drehen sich um den Termin, der morgen auf ihn wartet. Präsentation vor der ganzen Abteilung. Er muss liefern, sonst ist seine Stelle in Gefahr. Er muss alle davon überzeugen, dass er das leisten kann, was alle von ihm erwarten. Es setzt ihn schrecklich unter Druck. Sein Kopf schmerzt, seine Schultern sind verspannt. Wie soll er das nur schaffen? Seine ganze Existenz hängt davon ab, dass das morgen gelingt. Wie kann er sich von diesem Druck freimachen, der ihm vorkommt, als ginge es um das ganze Leben?

 

Susanne und Axel – je auf ihre Weise versuchen sie ihr Leben zu meistern, indem sie sich an Vereinbarungen und Erwartungen halten. Beide sind mir vertraut. Vereinbarungen, Regeln und Gesetze schützen das Zusammenleben von Menschen. Wenn es keine Regeln gibt, machen alle, was sie wollen. Und Regeln herrschen immer, auch wenn sie uns manchmal nicht bewusst sind. Wie bei Susanne und ihrer Schwester. In der Berufswelt gilt das Gesetz von Leistung und Anerkennung. Für Leistung werden wir bezahlt. Es gibt die Regel, dass Menschen liefern müssen, damit sie Anerkennung bekommen. So wie Axel.

Susanne und Axel stecken in mir drin. Wahrscheinlich in uns allen. Ich spüre den Druck, unter dem die beiden stehen: durch Regeln versuche ich meine Beziehungen zu schützen. Mir Vertrauen und Liebe zu erwerben. Wenn ich alles richtig mache, wird der oder die andere mich lieben. Und indem ich tue, was andere von mir erwarten, indem ich Leistung bringe, sichere ich mir Anerkennung und meine Existenz. Ich gewinne meine Identität.

Was aber, wenn Susannes Schwester nach dem Streit die Tür ins Schloss fallen lässt und den Kontakt abbricht? Oder wenn Axel die Präsentation nicht zufriedenstellend hinkriegt? Was bleibt dann übrig von der Liebe, vom Vertrauen, von der Identität?

 

Nicht nur mich treiben diese Fragen um, immer wieder. Sie zielen in den Kern unseres Glaubens, in den Kern des Evangeliums. Die Sprache hat sich verändert, aber die Fragen sind dieselben: kann ich mir Liebe verdienen, indem ich das Gesetz befolge? Worauf gründet sich mein Leben, meine Identität? Muss ich alles richtig machen, damit ich geliebt werde? Werde ich anerkannt, wenn ich etwas leiste?

Als unsere Kirche noch ganz jung war und die Jünger Jesu noch am Leben, kamen die ersten Christen aus dem Judentum. In Jerusalem fing alles an. Dem jüdischen Glauben entsprach es, sich an die Thora, an Gottes Weisung für das Leben zu halten. Die jüdischen Gebote sind da, um das Leben und das Miteinander zu schützen – das Miteinander von Gott und den Menschen und das Miteinander der Menschen untereinander. Sie tun gut, die 10 Gebote und die vielen anderen Gebote, die sich daraus ableiten. Insgesamt 613 Gebote, die fromme Juden bis heute einzuhalten versuchen. Darunter sind zum Beispiel etliche Speisevorschriften.

Für die ersten Christen war das ein vertrauter Gedanke, den sie weiter trugen. Das Gebot, die Thora, Gottes Weisung, ist wichtig und gut zum Leben. Sie haben das gar nicht angezweifelt oder hinterfragt. Als dann mit dem Apostel Paulus das Evangelium die Grenze von Israel überschritt und sich in Kleinasien und Griechenland verbreitete, stellte sich die Frage, wie es mit dem jüdischen Gesetz steht. Müssen wir die Gebote halten, um die Gemeinschaft zu schützen? Müssen sich alle beschneiden lassen, um die Gemeinschaft mit Gott zu bekräftigen? Gelten die Speisevorschriften auch für Christen?

 

Die ersten Christen haben auf dem so genannten Apostelkonzil in Jerusalem eine weise Entscheidung getroffen: auch Menschen, die keine Juden sind, sollen zu Christus gehören können. Und sie müssen sich weder beschneiden lassen noch die Thora lückenlos befolgen. Denn Gottes Liebe, die sich in Christus zeigt, gilt ohne Bedingung und ohne Leistung. Wir müssen uns nicht erst würdig erweisen, damit er sich uns zuwendet. Er wendet sich uns zu, weil er uns liebt. Noch bevor wir etwas tun.

Diese Entscheidung war wegweisend für die Kirche. Ohne sie würden wir vermutlich heute nicht hier in unserer Christuskirche in Oftersheim sitzen. Denn das Christentum wäre eine Untergruppe des Judentums geworden. So war es möglich, dass es auch unter den Völkern Mission gab und der Glaube an Jesus Christus im römischen Weltreich Fuß fasste. Aber die Entscheidung war nicht unangefochten. Es kam immer wieder zu Konflikten. Paulus, der sich sehr entschieden für die christliche Freiheit eingesetzt hatte, musste erleben, wie Petrus, der starke Jünger Jesu, die Entscheidung verriet. Petrus hatte sich erst an einen Tisch mit allen gesetzt, auch mit denen, die zuvor keine Juden, sondern Heiden gewesen waren. Dann aber waren in die Gemeinde andere gekommen, die sehr vehement vertreten haben, dass alle sich an die jüdischen Speisegebote zu halten hätten. Und Petrus wurde unsicher und fiel um. Auf einmal erschienen auch ihm diese Gebote wieder wichtig und notwendig. Für Paulus war das ein Verrat am Evangelium und am Heil. In seinem Galater-Brief setzt er sich damit auseinander.

Ein Text aus dem Galater-Brief ist heute unser Predigt-Text. Erschrecken Sie nicht, er ist nicht so leicht zu verstehen.

 

Galater 2

16 Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch des Gesetzes Werke wird kein Mensch gerecht. 17 Sollten wir aber, die wir durch Christus gerecht zu werden suchen, sogar selbst als Sünder befunden werden – ist dann Christus ein Diener der Sünde? Das sei ferne!18 Denn wenn ich das, was ich niedergerissen habe, wieder aufbaue, dann mache ich mich selbst zu einem Übertreter. 19 Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. 20 Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben. 21 Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn durch das Gesetz die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus vergeblich gestorben.

 

Paulus spricht mit großer Leidenschaft. Für ihn steht alles in Frage, wenn das Gesetz den Glauben bestimmt. Er hat erfahren: ich schaffe es nicht, mich an alles zu halten, was von mir erwartet wird. Ich bleibe, auch wenn ich mich noch so sehr bemühe, immer wieder hinter den Erwartungen zurück. Wenn ich 100 mal alles richtig mache und dann einmal gegen ein Gebot verstoße, so wird aus einem treuen Menschen mit einem Mal ein Gesetzesübertreter. Ich kann ein Leben lang die Wahrheit sagen: mit der ersten Lüge steht alles in Frage, und ich werde zum Lügner. Kann ein Leben lang das Eigentum von anderen achten – mit dem ersten Vergehen werde ich zum Dieb.

Ich schaffe es nicht, alle Gebote und Vorschriften lückenlos einzuhalten. Niemand schafft das. Denn ich stehe mir immer wieder selbst im Weg. Heute würden wir es vermutlich anders formulieren als Paulus. Ich spüre: immer wieder falle ich auf mich selbst herein. Immer wieder brechen die ungelösten Konflikte meiner Kindheit auf und treiben mich zu Handlungen oder Worten, die ich besser unterlassen hätte. Denn ich beschädige einen anderen und mich selbst. Immer wieder bin ich in mir selbst gefangen und von meiner Angst um mich selbst bestimmt und gesteuert. Immer wieder treibt mich die Suche nach Anerkennung dazu andere zu missbrauchen. Ich schaffe es nicht, obwohl ich alles richtig machen will. So wie Susanne. Und ich spüre, dass mir Leistung keine nachhaltige Anerkennung bringt. So wie Axel. So wie auch Martin Luther, der sich ein Klosterjugendleben lang abmühte und quälte, damit er sich Gottes Liebe und Gnade verdiente. Und der ebenso wie Paulus die Erfahrung machte: ich schaffe es nicht, durch Gebotsbefolgung und Leistung die Gnade und Liebe Gottes zu verdienen, geschweige denn zu erfahren. In tiefer Not hat er sich gefühlt – so wie wir es eben mit dem Wochenlied gesungen haben.

 

Gott spricht in diese grauenvolle und schmerzhafte Erfahrung hinein: du schaffst es nicht. Aber du musst es auch nicht schaffen. Denn ich, dein Gott, komme dir ganz nahe. Näher als du dir selbst zu kommen vermagst. So nahe, dass ich in dir lebe. Aus lauter Liebe. Nicht ich lebe, sondern Christus lebt in mir– so schreibt es Paulus. Meine Identität beruht nicht auf dem, was ich tue oder nicht tue. Sie beruht darauf, dass Gott mich liebt, ohne Bedingung. Und darauf, dass Gott in mir ist, weil er bei mir zu Hause sein will. Als Martin Luther das entdeckte, war sein Herz voller Freude, die er uns ins Herz schreiben will, wenn wir gleich miteinander singen: nun freut euch, lieben Christen gmein.

Und Susanne und Axel? Die Beziehung zwischen Susanne und ihrer Schwester hängt nicht von Vereinbarungen und Regeln ab. Regeln können gebrochen werden, und es geschieht immer wieder. Das tut weh. Was den beiden helfen wird, ist die Vergebung. Wenn die Liebe wieder fließt und sich das Vertrauen wieder einstellt. Wenn Susanne erkennt und bereut, dass sie ihre Schwester verletzt hat. Und wenn ihre Schwester erkennt, dass Susanne sich ihrer Freundin Mathilde verpflichtet fühlte. Manchmal ist es komplizierter. Dann ist der Weg zur Vergebung länger und braucht viel Zeit. Aber irgendwann beginnen Liebe und Vertrauen wieder zu fließen. Und Axel spürt vielleicht, dass sein Leben nicht von dem abhängt, was er tut, wenn er seine Erfüllung an anderer Stelle sucht und findet. Wenn er nicht mehr ständig um sich selbst und um das kreist, was er kann und schafft.

Vielleicht ist das ja die wahre Demut. Wenn Gott den Demütigen Gnade gibt, so neigt er sich gnädig und freundlich denen zu, die alles von ihm erwarten und sich das wesentliche im Leben nicht selbst schaffen wollen. Amen.



Pfrin. Prof. Dr. Sibylle Rolf
Oftersheim, Baden-Württemberg, Deutschland
E-Mail: sibylle.rolf@kbz.ekiba.de

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