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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

15. Sonntag nach Trinitatis, 09.09.2018

Das Gesetz Christi
Predigt zu Galater 6:2, verfasst von Eberhard Busch

Wie soll man nun das verstehen? Der Apostel Paulus hat soeben im Galaterbrief scharf gegen Gesetzlichkeit gewettert. So schroff, dass manche sagen, er habe das später, in seinem Brief an die Römer, wieder entschärfen wollen. Er nannte das Gesetz einen „Zuchtmeister“ (Gal 3,24), so etwa wie jemand, der mit einer knallenden Peitsche uns vor sich her treibt. Er sprach sogar von einem „Fluch des Gesetzes“ (Gal 2,13), von dem wir erlöst werden müssen. Bei Gesetzen dieser Art macht es manchen zuweilen Spaß, sie zu übertreten, so wie man bei einem vorgeschriebenen Tempo 30 gern Tempo 60 fährt. Weil man bei solchen Gesetzen gezwungen ist, ihnen Folge zu leisten, ist es ansonsten so, dass man ihnen lustlos und widerwillig oder nur teilweise gehorcht.

Aber auf einmal spricht Paulus von einem Gesetz ganz anderer Art: von dem Gesetz Christi. Löst sich so der scheinbare Widerspruch? Denn man darf doch annehmen, dass dieses Gesetz Christi das Gesetz ist, so wie es erst recht von Gott gewollt ist. Und das Besondere an ihm ist: Man kann es nur gerne erfüllen, oder man erfüllt es gar nicht. So wie es schon im Psalm 119 heißt: „Das Gesetz deines Mundes ist mir lieber als viele tausend Stück Gold und Silber“! Man kann es nicht gezwungenermaßen erfüllen, weil es halt vorgeschrieben ist, man folgt ihm in freiwilliger Selbstverständlichkeit. Und man kann es nie nur halb erfüllen. Man erfüllt es nur ganz– eben so, wie rechte Freude nicht halbe Freude, sondern nur ganze Freude ist. Und was man sonst so sagt, hier ist es Ereignis: dass geteilte Freude doppelte Freude ist. Und so lautet das Gesetz Christi: „Einer trage des Anderen Last.“

Spannend wird’s, wenn man nun fragt: wie hat denn Christus sein Gesetz gegeben? Antwort: Er hat hier nichts verlangt, was er nicht zuerst von sich selbst verlangt hat. Genauer noch: Er hat das Gesetz damit gegeben, dass er genau das getan hat, was es sagt. Und zwar hat er sein Gesetz gegeben, indem er sich hin-gegeben hat – für Andere, für uns und für wen denn nicht? „Einer trage des Anderen Last“. Jedenfalls Er ist der Eine, der die Last Anderer getragen hat. Bis in die Stunde am Kreuz. „All Sünd’ hast du getragen.“ Er hat sie getragen, um sie wegzutragen. Er tat, was wir nicht tun. Er tat es, damit wir die Luft der Freiheit atmen können.

Eben der spricht nach dem Evangelium des Matthäus (11,28.30) zu uns: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ Der unsere Lasten "leicht“ macht, der zieht uns in seine Nähe. So erquickt er uns auf alle Fälle. Sogar dann, wenn er uns auch etwas zu tragen gibt. Dabei geht es nach dem Spruch in der Bibel: „Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch“ (Ps 68,20). Er macht uns dann das Leben in der Weise erträglich, dass er uns willig macht, einiges zu er-tragen. Dazu gibt er uns guten Mut. Und er gibt uns die Kraft, Ja zu sagen zu dem uns Auferlegten. Dass uns etwas auferlegt wird, davon bleibt wohl keiner verschont. Ein Menschenkenner sagte: „Menschen, die nichts zu tragen haben, werden leicht unerträglich.“ Aber bitte, haben wir nicht auch die Unerträglichen zu tragen? Und diese Unerträglichen, haben nicht auch sie doch etwas zu tragen? Vielleicht sogar besonders viel.

Der Dichter Goethe seufzt einmal: „Das Erdentreiben, wie’s auch sei, / ist immer doch nur Plackerei.“ Und in einem alten Volkslied heißt es: „Unser Leben gleicht der Reise / eines Wandrers in der Nacht. / Jeder hat in seinem Gleise / etwas, das ihm Kummer macht.“ Und mag die Last noch so klein sein, sie kann einen gleichwohl richtig plagen, und wenn man morgens aufwacht, ist sie vielleicht immer noch da. Eine solche Last kann man nicht wegreden und nicht abwerfen. Sie muss wohl oder übel getragen werden. Sie muss ausgehalten sein.

Probieren wir es aber einmal so, dass wir uns an den Vers halten: „Einer trage des AnderenLast“! Das ist ein wahrer Fort-schritt, einer über unsern bisherigen Horizont hinaus. In einer Kantate von Johann Sebastian Bach hören wir: „Samaritergleiche Herzen / lassen fremden Schmerz sich schmerzen." Nicht nur ich bin so beladen. Der Mensch neben mir, ein bekannter oder ein mir unbekannter, er ist jemand, der auch ein Päcklein zu tragen hat oder ein richtig schweres Paket. Versuchen wir, unsere Nebenmenschen einmal anders zu sehen als üblich, nicht so, dass wir über sie den Kopf schütteln oder schimpfen oder so, dass wir sie wie Luft behandeln, sondern so, dass wir sie zu verstehen versuchen, so, dass wir mit ihnen fühlen. Da werden wir sie auf einmal anders sehen und werden anders mit ihnen umgehen. Der Reformator Calvin schrieb: „Wir erwarten wohl von anderen, dass sie uns auf den Schultern tragen, sind aber weit entfernt, ihnen den gleichen Dienst zu leisten. Von dieser bösen Krankheit heilt uns die Liebe.“

Auch wenn sie sich nichts anmerken lassen, der Andere oder die Andere werden Liebe brauchen: Beistand, ein Wort, das ihnen wohltut, eine Hand, die sich ihnen entgegenstreckt, ein Gesicht, das sie freundlich anlacht, einen Geldschein, der sie unterstützt. Ja, jemand hat geradezu gesagt: „Nur wenn wir die Last Anderer auf die eigene Schulter nehmen, lernen wir, wie schwer sie ist.“ Und wenn sie sonst niemand hätten, an euchhaben sie jetzt einen Kompagnon, einen Vertrauten, einen Gefährten. Wie gut, wenn die so oft Übersehenen von uns gesehen werden und wenn es uns dann so geht, wie es im Liede heißt: „Im Schatten sah ich ein Blümlein stehn“!

Und da wird auf einmal unsere eigene Last leichter. In der Gesellschaft solcher Anderer habe ich ja meinerseits das Glück, nicht einsam zu sein. Ich muss nicht allein meine Last tragen. Welche Wohltat, zu erfahren, Jemand trägt mit! Da und dort höre ich ein Wort, das mir den Weg weist. Da und dort ist ein Ohr, das sich mir öffnet. Da und dort zeigt sich jemand, der mir den Arm reicht. Ich muss gottlob! nicht alles können. Zuweilen gehe ich mir selbst auf die Nerven. Es ist heilsam, wenn dann Andere mich kurieren! Ich brauche auch Mitmenschen, einen Bruder, eine Schwester. Und ich darf mich freuen und darf es annehmen, wenn mir das geschenkt wird.

Gott hat uns halt nicht als Einzelgänger geschaffen. Wir dürfen uns einander anvertrauen. Wir dürfen etwas von Anderen erwarten. Und Andere dürfen etwas von mir erwarten. So geschieht, was im Römerbrief Kapitel 15 geschrieben steht: „Nehmt euch einander an, so wie euch Christus angenommen hat.“ So vollzieht sich, was der Predigttext uns sagt: „Einer trage des Anderen Last.“

Als im Jahr 1942 die systematische Ausrottung der Juden in Deutschland begann, suchten viele Juden in ihrer Todesangst dem zu entfliehen und suchten Asyl in der Schweiz. Da erklärte der Berner Bundesrat Eduard von Steiger in einer Rede vor vielen Zuhörern, warum die Schweiz keinesfalls die Flüchtlinge aufnehmen dürfe. „Unter Umständen muss man sogar hart und unnachgiebig scheinen“, sagte er. Ein Rettungsschiff könne halt nicht alle aufnehmen. Wenn es zuviele Bedürftige an Bord nehme, dann gehe es unter und dann sei gar keinem geholfen. Dem hat damals der Pfarrer Walter Lüthi in einer Gegenrede gründlich widersprochen. Diese Gedanken seien lieblos, sie seien heuchlerisch und undankbar. Ein Land, das hundertausend Hunde zu ernähren wisse, könne auch noch eine Vielzahl von Menschen aufnehmen. Man könne sich nicht seiner Menschlichkeit rühmen und unmenschlich handeln. Und man könne nicht Gott dafür danken, dass es einem gut geht, ohne den Leidenden Anteil an seinem Glück zu geben. Kurz, man dürfe den Opfern einer „Weltkatastrophe“ nicht den Zutritt verwehren.

Ist die Erinnerung an diese Geschichte nicht brandaktuell? Bedrängte fliehen aus dem Kontinent, in dem unsere Vorfahren ungebeten einmarschiert sind, um sich reichlich zu bedienen. Und nun stehen eine Reihe von deren Nachfahren ungebeten vor unsrer Türe. Ach, viele kommen gar nicht zu uns. Rührt es uns denn nicht, dass so viele bei ihrer Flucht ertrinken? Und die Umgekommenen und die Abgewiesenen pochen an unser Gewissen, an ihrer uns lästigen Last teilzunehmen. Aber nein, wir sind im Begriff, unsere Tür vor ihnen zu verschließen. Haben wir unsere Ohren verstopft vor ihrem Schreien? Sind wir uns darüber im Klaren, dass damit aufs Neue geschieht, was dem Heiland aller Menschen schon bei seiner Geburt angetan wurde: „Es war kein Raum in der Herberge“ (Luk 2,7)?

Der da Abgewiesene, dieser eine Lastenträger, dessen Kreuz man nun in den bayrischen Ämtern sehen kann, der hat jedenfalls keinen von solchen Fremden abgewiesen. Mir ist's, als steige er heute herab von diesen Kruzifixen und gehe hin zu den Weggeschickten. Er schickt keinen Bedürftigen weg. Und wenn keiner für sie eintritt, er tritt für sie ein. Aber er ist gottlob nicht allein, er hat solche, die ihm folgen. Er vertreibt uns die Ausrede: Wir könnten nicht alle aufnehmen. Aber das darf doch nicht heißen, dass wir keinen aufnehmen, keinen von denen, die unsre Hilfe brauchen. Fragen wir nicht zuerst, was sie uns nützen, sondern: was wir denen nützen! Eines der Hilfschiffe auf dem Mittelmeer heißt "Lifeline“, zu deutsch: Rettungsleine. Solche Rettungsleine sei weiterhin im Dienst! Hören wir es bitte noch einmal: „Einer trage des Anderen Last“! Und der Friede Gottes, der weitgespannter ist, als wir meinen, sei mit uns und sei mit dem Anderen. Er mache uns den Andern wichtig und verbinde uns miteinander.



Prof. Dr. Eberhard Busch
Friedland, Niedersachsen, Deutschland
E-Mail: ebusch@gwdg.de

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