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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

21. Sonntag nach Trinitatis, 21.10.2018

Predigt zu Jeremia 29:1.4-7.10-14, verfasst von Johannes Lähnemann

Aus Anlass seines 50-jährigen Promotionsjubiläums predigt Johannes Lähnemann

am 21. Sonntag nach Trinitatis, 21. Oktober 2018, bei der Absolventenfeier der Evangelisch-Theologischen Fakultät der westfälischem Wilhelmsuniversität

in der Universitätskirche Münster/Westf.

Jeremia 29,1.4-7.10-14

 

Jeremias Brief an die Weggeführten in Babel-

 

1 Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte ...

4 So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen:

5 Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte;

6 nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet.

7 Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn‘s ihr wohl geht, so geht‘s euch auch wohl.

10 Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe.

11 Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.

12 Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören.

13 Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet,

14 so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

 

Liebe Gemeinde - und besonders: liebe Absolventinnen und Absolventen der Evangelisch-Theologischen Fakultät!

Wir haben eben einen der herausforderndsten Texte der alttestamentlichen Prophetie gehört. Auch für den Propheten Jeremia ist er außergewöhnlich. Jeremia, der immer wieder Unheil zu verkünden hatte – und darunter litt. Es ist ein Gotteswort, das die Israeliten im Exil in einer eigentlich trostlosen Lage antrifft und eine unerwartete Zukunftsperspektive aufreißt.

Uns hier trifft der Text in einer Situation, in der die Frage nach den Zukunftsperspektiven auch virulent ist, besonders für die, die ein Examen hinter sich haben, froh, dass es geschafft ist, und jetzt in die Zukunft blicken.

Ich freue mich, diesen Tag festlich mit Ihnen begehen zu können – 50 Jahre, nachdem Walter Becker, Reinhard Frieling und ich an dieser Fakultät promoviert wurden. Für mich sind es gleichzeitig 51 Jahre, seit ich in dieser Kirche mit meiner ersten leider verstorbenen Frau Susanne von meinem Vater getraut wurde.

Ich habe überlegt, ob ich an mich eine Prüfungssituation erinnern kann, die sich mit dem Jeremia-Text in Verbindung bringen lässt. Spontan ist mir dabei meine Bibelkundeprüfung eingefallen. Sie liegt schon 55 Jahre zurück. Bibelkunde und Philosophie waren zwei Fächer des ersten theologischen Examens, die man ins Studium vorziehen und damit das Examen entlasten konnte, lange, bevor an Zwischenprüfungen oder gar Module gedacht wurde. Ich hatte die Prüfung vor allem während der Wochen zuvor vorbereitet, als ich in den Semesterferien im Fichtenhof, einem Heim für langzeitig psychisch belastete Männer in der Betheler Zweiganstalt Eckardtsheim, Nachtwache hielt. Es blieb meist mehrere Stunden ruhig in den Nächten. Ich exzerpierte Claus Westermanns Bibelkunde und legte mir für jedes der 250 Kapitel des Neuen Testaments ein Kärtchen an und memorierte sie. In der Prüfung saß ich Wilhelm Rudolf gegenüber, dem bekannten, damals schon emeritierten Alttestamentler. Er stieg ein mit dem Wort Jesu „Und führen, wohin du nicht willst“, das Jesus in Johannes 21 an Petrus richtet. Ich wusste, wo es steht, hatte dabei aber auch gleich den Titel des bekannten Buches von Helmut Gollwitzer im Kopf. Wir sprachen bei der Prüfung darüber.

„Und führen, wohin du nicht willst ...“: Unter diesem Titel erschien im Jahr 1951 Gollwitzers Bericht über seine vier Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft. Das Elend der Gefangenschaft an fernem Ort wird sichtbar – Hunger, Knochenarbeit, Krankheiten ... –, und doch ist das Buch wie ein Gleichnis für christliche Hoffnung.[1]Und es bricht mit Tabus: Die Russen sind nicht die „Untermenschen“, die „Bestien“, wie sie in den letzten Kriegsjahren dargestellt worden waren – und wie sie gelegentlich von Flüchtlingen erlebt wurden. Die ‚Kommunisten‘ tragen menschliche Gesichter, sind an Gesprächen und Diskussionen interessiert. Das andere Tabu, das Gollwitzer durchbricht: Schonungslos berichtet er über die Verbrechen der Wehrmacht, deren Teilnahme an Judenerschießungen in Russland, die einige der Gefangenen mit eigenen Augen gesehen hatten. Offen tritt er dem Verschweigen der Judenvernichtung entgegen, spricht unverdeckt von einer deutschen Schuld – ein Wort, das damals noch viele scheuten, trotz und entgegen der Stuttgarter Schulderklärung der EKD mit den Unterschriften von Martin Niemöller und Hanns Lilje von 1945.

Für mich und für viele meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen war diese Sichtweise ein wesentlicher Impuls für unser Theologiestudium - ähnlich wie Dietrich Bonhoeffers Briefe aus der Haft, das Buch „Widerstand und Ergebung“. Es war ein Schritt auf dem mühsamen Weg, sich der schuldhaften Vergangenheit zu stellen und an der Vision zu arbeiten, eine „Kirche für andere“ zu werden.

Der Brief Jeremias an die Weggeführten in Babel, der an seiner Stelle sicher auch eine politische Funktion gehabt hat, muss ähnlich provokativ gewirkt haben wie Gollwitzers Buch. Er trifft eine Gruppe von Menschen, die ähnlich von erlittener Not getroffen sind wie die Menschen bei uns im Nachkriegsdeutschland: gewaltsam ins Exil geführt, voll Sehnsucht nach der Heimat, nach Jerusalem, nach dem Tempel. In Babylon sind sie nicht nur umgeben von einer fremden, dominanten Kultur – einer Religion, die ihre Herrschaft durch die Siege des Königs Nebukadnezer bestätigt sah. Der Tempel in Jerusalem war zerstört; der Gott Israels schien besiegt zu sein.

Genau da hinein trifft Jeremias Brief. Da, wo das Volk geschlagen ist, wo auch der Glaube geschlagen scheint, meldet sich Gott zu Wort:

„Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte;

nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet.

Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn‘s ihr wohl geht, so geht‘s euch auch wohl.“

Das sind Worte gegen die Niedergeschlagenheit, Worte, die ein Fenster für die Zukunft öffnen. Und es sind Worte gegen die anderen Propheten, die der national-religiösen Sehnsucht frönten, die unrealistische Hoffnungen auf eine baldige Rückkehr weckten.

„Suchet der Stadt Bestes“: Drei Mal kommt in diesem Vers das Wort Schalom vor – Schalom in dem umfassenden Sinne, dass er nicht nur die Abwesenheit von Feindseligkeit bedeutet, sondern Heil, Wohlergehen, solidarisches Miteinander-Leben.

„Betet für sie zum HERRN“: Mitten in einer düsteren Zeit wird hier Feindesliebe gepredigt. und mitten in einer düsteren Zeit erscheint eine Vision:

„Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.“

Ich denke, für unseren christlichen Glauben ist das ein Brückenwort: ein Brückenwort hin zu dem Leitmotiv, das uns zentral im Evangelium von Jesus Christus vermittelt wird: in Jesu Wort, in seiner Tat und in seinem Weg – dem Weg, auf dem er die Liebe und Nähe Gottes verkörpert. Er zeigt sie in seinen Zeichen des Heilens und Rettens, er verdeutlicht sie in seinen Gleichnissen, und auch der Aufruf zur Feindesliebe resultiert letztlich aus der Zuwendung Gottes, der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte. Wenn Jesus den Weg an der Seite der Leidenden und Schwachen geht bis hin zur Bitte für seine Feinde am Kreuz, dann ist das für unseren Glauben der Weg Gottes, den die Jünger zu Ostern bestätigt erfahren und durch den sie sich neu in den Dienst gestellt sehen. Damit ist das Evangelium im Kern ein Wort der Freiheit aus dem Gehalten- und Geliebtsein von Gott aus.

Wie lässt sich damit leben? Wie lässt sich damit Theologie, Religionspädagogik, Seelsorge und nicht zuletzt interreligiöser Dialog treiben und gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen?

Wenn ich zurückblicke, dann hat es da für mich viele Entgrenzungen gegeben, eine Entdeckungsreise in ein Andersdenken, notwendige Lernprozesse in Kirche und Gesellschaft. Sie waren und sind nicht selbstverständlich, und es hat immer wieder Rückschritte und Enttäuschungen gegeben und gibt sie noch. Aber nicht selten bin ich mir so vorgekommen, wie sich die Weggeführten in Babylon vorgekommen sein müssen, als sie den Brief Jeremias lasen.

Ich möchte drei Felder nennen, in denen ich lernen musste und weiter lernen muss und in denen Sie auf Ihrem Weg in Theologie und Kirche auch weiter lernen sollten:

1) Ökumene wagen!

2) Sich dem Dialog der Religionen und Weltanschauungen stellen!    

3) Weltverantwortung wahrnehmen!

1) Ökumene wagen

Als ich 1951 vom Ruhrgebietsort Brambauer aus, in dem mein Vater Pfarrer war, in die Nachbarstadt Lünen fuhr, wo ich in das Freiherr vom Stein-Gymnasium aufgenommen worden war, ging ich mit einem Schulkameraden zum Schuleröffnungsgottesdienst. Als es mir in der Kirche zunehmend seltsam vorkam und ich plötzlich merkte, dass ich in einer katholischen Kirche gelandet war, rannte ich aus der Kirche, weinend, und suchte die evangelische, die „richtige“ Kirche. Dabei waren weder meine Eltern noch meine Großeltern konfessionalistisch eingestellt. Aber in unserer Straße in Brambauer, der Königsheide, wussten wir, welches Geschäft evangelisch und welches katholisch war und wo man deshalb besser kaufte.

8 Jahre später – ich war in der Oberprima – erreichte uns die vollkommen überraschende Nachricht, dass Papst Johannes XXIII. ein Konzil ankündigte, was nach dem 1. Vatikanischen Konzil eigentlich nicht mehr erwartet werden konnte. Dieses Konzil hat eine ungeahnte Aktivität und auch Eigendynamik entwickelt: im Verhältnis von Schrift und Tradition, von Priesterschaft und Laien, im Verhältnis zu den anderen Konfessionen und Religionen, im Verhältnis von Kirche und säkularer Welt. Als ich im Wintersemester 1963/64 nach Münster kam, gab es eine Ringvorlesung über die Kanonfrage – im Dialog mit katholischen Auffassungen. Später gründeten der katholische Ökumeniker Peter Lengsfeld und mein Doktorvater Willi Marxsen eine Sozietät mit uns Doktoranden, und wir erschlossen uns gegenseitig unsere Arbeitsgebiete und waren besonders in der Bibelwissenschaft auf einem gemeinsamen Weg. Kurz nach meiner Ordination 1969 hielt ich mit einem katholischen Priester-Freund eine der ersten ökumenischen Trauungen, nachdem noch mit Mühen eine Dispens von Rom eingeholt worden war. Vor allem aber hatten wir mit dem jungen Paar intensiv besprochen, was wir ihm aus den spirituellen und liturgischen Traditionen beider Kirchen hilfreich und fördernd mit auf ihren gemeinsamen Weg geben könnten. Es wurde eine wunderbare, intensive gottesdienstliche Feier. Ein evangelischer Amtsbruder schrieb mir damals allerdings noch einen kritischen Brief, ich würde doch letztlich mit diesem Schritt die evangelische Sache verraten. Was hat sich seit dieser Zeit alles ökumenisch entwickelt – im theologischen und religionspädagogischen Austausch, in der praktischen Zusammenarbeit, überhaupt im Lernen miteinander und voneinander! Und dann sind da immer noch die kirchenamtlichen Stolpersteine trotz der längst vorbereiteten Brücken in der Abendmahls- und der Amtsfrage. Es gibt Identitäts- und Verlustängste, die Sehnsucht nach einer einheitlichen Welt, die es so nicht mehr gibt. Es wird Ihre Aufgabe sein, die Wege zueinander und miteinander zu pflegen, in einer Haltung, in der man sich auch an den Stärken der Anderen freuen kann, um ein glaubwürdiges gemeinsames Zeugnis zu geben in einer zunehmend pluralen und ökonomisierten Welt.

2) Sich dem Dialog der Religionen und Weltanschauungen stellen!

Als ich nach meinem 1. theologischen Examen im Herbst 1965 zur Verlobungsfeier in Ostanatolien reiste, wo mein Schwiegervater, Friedrich Karl Dörner, die Ausgrabungen des antiken Königreiches Kommagene leitete und meine Braut die Grabungsküche geführt hatte, war das für mich noch das Eintauchen in eine fremde, faszinierende Welt – mit orientalischer Gastfreundschaft, dem Ruf des Muezzin, den Gebetszeiten der Grabungsmitarbeiter. – Wir wollten dann ja eine Pastorenfamilie in Deutschland werden, möglichst auf dem Lande. – Aber dann fragten mich Studierende hier, bevor ich 1973 von Münster nach Lüneburg wechselte, wie wir unseren christlichen Glauben vertreten können angesichts der Herausforderung durch die Weltreligionen. In Lüneburg wagte ich mich an ein Seminar: „Nichtchristliche Religionen im Unterricht mit Schwerpunkt Islam“, besuchte mit den Seminaristen die Moschee an der Alster in Hamburg, bereitete für eine Lehrstuhlvertretung in Berlin eine Vorlesung dazu vor, aus der dann meine Habilitationsschrift wurde. Trotz der vielen Gastarbeiter war das damals in der Theologie noch ein absolutes Randthema. Aber es wurde für mich eine bis heute nicht endende Entdeckungsreise, und die Herausforderungen, sich dem konstruktiv zu stellen, sind immer dringlicher geworden. In den vielen Begegnungen und Lernprozessen seither – beginnend mit der Zusammenarbeit mit türkischen Lehrkräften an einem Curriculum für Islamischen Religionsunterricht schon in den 80-er Jahren – ist mir mein evangelischer Glaube und eine christologisch zentrierte Theologie nicht gleichgültiger, sondern eigentlich immer wichtiger, konturierter und lebendiger geworden, und ich erlebe auch von den Menschen in den anderen Religionen, wie sie uns als überzeugte und überzeugende Vertreter unserer Glaubenstradition erfahren wollen. In Ihrer künftigen Arbeit können und sollen Sie der notwendigen Begegnung, Verständigung und Kooperation mit Menschen verschiedenen Glaubens und verschiedener Überzeugungen nicht ausweichen. Welcher spirituelle Reichtum sich dabei entfalten kann, haben wir in unserer Nürnberger Gruppe der Religionen für den Frieden, die wir mit Freundinnen und Freunden von unserem Lehrstuhl aus gegründet haben, vor allem in den Gebetsstunden der Religionen für den Frieden erfahren – die Traditionen nicht vermischend, sie aber in ihrer Würde und Schönheit wahrnehmend, und zu sehen, wie daraus Kräfte für gemeinsames verantwortungsvolles Handeln erwachsen können.

3) Weltverantwortung wahrnehmen!

Gegen Ende unseres Studiums und auf dem Weg ins Vikariat und Pfarramt sind wir in einem Freundeskreis junger Theologinnen und Theologen zusammengekommen und haben einen Arbeitskreis gebildet. „Ratinger Kreis für Verantwortung in Kirche und Gesellschaft“ nannten wir uns. Ratingen, weil wir uns dort in einer ehemaligen Jugendherberge zuerst trafen. Wir wollten über den engen Bereich theologischer Disziplinen hinaus schauen und erörtern, wo wir gesamtgesellschaftlich gefragt waren und wie sich das in unserem kirchlichen Dienst niederschlagen müsste. Parallel machte das Politische Nachtgebet in Köln Schlagzeilen, und der typische Titel einer neuen kirchlichen Zeitschrift hieß „Amos‘ kritische Blätter“. Klare prophetische Zeitanalyse schien uns angesagt. Die Gruppe hat leider nicht länger Bestand gehabt, als wir in die verschiedenen Aufgabenfelder auseinander gingen. Aber der Impuls, dass wir Visionen brauchen, die über den engeren kirchlichen Rahmen hinausgehen, hat uns nicht verlassen. Er wurde immer wieder lebendig etwa bei den Kirchentagen, bei den Entwicklungen eines problemorientierten Religionsunterrichts, bei der Begleitung der Wende in der DDR und besonders angesichts der neu ins Bewusstsein getretenen globalen Herausforderungen. Zwei Bewegungen haben da Menschen aus ganz verschiedenen kirchlichen, religiösen und kulturellen Kontexten zusammen geführt: der von Carl Friedrich von Weizsäcker angestoßene Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung und das von Hans Küng ins Leben gerufene Projekt Weltethos.

Der Startpunkt für das Projekt Weltethos war das Jahr 1990, als Hans Küngs Buch zu diesem Thema erschien. Als ich es in die Hand bekam, war ich elektrisiert. Bekannt sind seine 3 Grundthesen: 1) Kein Weltfriede ohne Religionsfriede! 2) Kein Religionsfriede ohne Dialog der Religionen! 3) Kein Dialog der Religionen ohne Grundlagenarbeit in den Religionen! Und dann sein Resümee: „Kein Überleben ohne ein Weltethos“. Es erschien mir als prophetische Aussage, das ganze Buch begegnete mir wie eine große prophetische Rede. Die These „Kein Überleben ohne ein Weltethos“ sprach mich, noch bevor die Rede von der Globalisierung Allgemeingut wurde, unmittelbar an. Damals schon war längst klar, dass es Weltprobleme gibt, die uns alle herausfordern: die ökologische Veränderung, die Krise der Verarmung in vielen Teilen der Welt, die Krise durch neue Weltkonflikte, oft genug ideologisch angeheizt, die Krise durch Verwahrlosung in der nachwachsenden Generation, gerade auch in den industrialisierten Ländern, die Krise durch Migration, durch Kriminalität, durch Perspektivlosigkeit.

Küngs These war: „Diese eine Welt braucht das eine Ethos; diese eine Weltgesellschaft braucht keine Einheitsreligion und Einheitsideologie, wohl aber einige verbindende und verbindliche Normen, Werte, Ideale und Ziele.“[2]

Natürlich gab es gleich Kritik an dieser These: Ist sie nicht viel zu global, viel zu undifferenziert? Kann es eine Verständigung über ein globales Ethos geben – über die Grenzen der Religionen und Weltanschauungen hinweg?

Als Pädagoge und gerade auch als Religionspädagoge fühlte ich mich aber sofort angesprochen. Ich bin der Überzeugung, dass alle Erziehung heute die weltweiten Verflochtenheiten wie auch die weltweiten Herausforderungen ernst nehmen muss.Die Arbeit an den pädagogischen Konkretionen für Lebensachtung, Solidarität, Partnerschaft und Wahrhaftigkeit als den Zentralwerten der 1993 von 200 Religionsführern in Chicago unterzeichneten Erklärung zum Weltethos ist für mich von da an zu einer besonderen Aufgabe geworden.

Meine Überzeugung ist: Wir brauchen heute Visionen wie diese. Wir brauchen sie ohne die Illusion, dass sie sich leicht realisieren lassen. Die Phänomene von Extremismus und Populismus, die uns heute in Deutschland wie international bedrängen, zeigen, wie wenig selbstverständlich eine Entwicklung zu einer harmonischen, vielfältigen Gesellschaft ist. Aber die Vielfalt der Initiativen, die gleichsam im Gegenwind gewachsen sind und weiter wachsen, sollten uns vor aller Resignation schützen und uns zu geduldiger Basisarbeit ermutigen.

Wir selbst sollten, jeder an seiner Stelle, fragen: Wo stehe ich? Was kann ich tun? Wo und wie kann ich mich einsetzen?

Dietrich Bonhoeffer hat am 21. Juli 1944, als er die Nachricht vom gescheiterten Attentat auf Hitler erhielt, einen Text verfasst unter der Überschrift „Stationen auf dem Wege zur Freiheit“.

Mit den Worten, die er über die Station schreibt, die er Tat nennt, möchte ich meine Predigt schließen:

„Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen, / nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen, / nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.

Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehen, / nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen, und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen“.[3]

 

[1]Dies und das Folgende nach R. Ludwig: Dem Tod die Endgültigkeit bestreiten. H. Gollwitzer zum 100. Geburtstag. https://zeitzeichen.net/archiv/religion-kirche-theologie/gollwitzer.

[2]H. Küng: Projekt Weltethos.München 1990. Neuausgabe 1992. Rückdeckel.

[3]D. Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. E. Bethge. Tb-Ausgabe. München 1964, S. 184.



Prof. Dr. theol., em. Johannes Lähnemann
Goslar, Niedersachsen, Deutschland
E-Mail: johannes@laehnemann.de

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