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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

24. Sonntag nach Trinitatis, 11.11.2018

Der Mensch – Spielball der Mächte
Predigt zu Hiob 14:1-6, verfasst von Thomas Bautz

Predigt

Der Mensch, vom Weibe geboren, ist arm an Lebenszeit und satt an Unruhe (Sorgen, Kummer). Wie eine Blume blüht er auf und verwelkt, er entflieht wie der Schatten und hat keinen Bestand. Dennoch öffnest Du Deine Augen und mich bringst Du ins Gericht vor Dich! Wer brächte Reines vom Unreinen? Nicht ein einziger! Wenn bemessen sind seine Tage, die Zahl seiner Monate bei Dir, wenn seine Grenzen Du gesetzt hast, die er nicht überschreitet –, so laß ab von ihm, bis er befreit ist, bis er sich wie ein Tagelöhner seinen Tag ersehnt; (so wende doch deinen Blick von ihm, damit er Ruhe habe, bis er wie ein Tagelöhner mit Befriedigung auf seinen Tag blicken kann)!

Liebe Gemeinde!

Das Hiobbuch ist ein Meisterstück jüdischer Weisheitsliteratur. Sie erzählt von der Vergänglichkeit[1]des Menschen, dessen Leben nicht nur als kurz, sondern als angreifbar und hinfällig beschrieben wird; zudem ist Hiob ein Spielball zweier Mächte und wird zwischen ihnen nahezu aufgerieben. Das Buch wirft in genialer Zuspitzung die Frage auf, ob nicht jedes Leid, jede Krankheit, jeder Schicksalsschlag darauf reduzierbar ist, dass kein Mensch völlig schuldlos ist. Demnach wären es nicht Gott oder der Teufel (Satan), die dem Menschen unsägliches Leid und furchtbare Qualen zumuten – die Ursachen allen Elends lägen dann im Fehlverhalten, in der grundsätzlichen Zielverfehlung („Sünde“) vor Gott.

Das Hiobbuch fällt deutlich aus dem Rahmen des vorherrschenden, traditionellen Denkens, indem es den Protagonisten Hiob als schuldlos auftreten und dennoch schrecklich leiden lässt: Hiob, der weder vor Jahwe noch vor Menschen schuldig geworden ist, wird einer wahnwitzigen Prüfung unterzogen. Sie provoziert das bis heute ungelöste Theodizee-Problem: Gibt es einen gerechten Gott angesichts des Leidens Unschuldiger? Das Hiobbuch scheut sich nicht, einer möglichen Ursache für die Prüfung des gottesfürchtigen Hiob imaginativ, in phantasievollen Gedanken nachzugehen:

Vertiefend ist dabei auf den skandalösen Prolog des Buches einzugehen, der erzählt, wie sich „der Ewige“ (JHWH) auf einen Handel[2]mit dem „Widergeist“ (Satan) einlässt.[3]Die Initiative ergreift „Gott“, weil er „Satan“ zuerst anspricht (Hiob 1,7a.8), indem er provozierend auf Hiobs tadellose, fromme Lebensweise und Gottesfurcht verweist. Dann wird über die Prüfungen, denen sich Hiob stellen muss, verhandelt. Hiob wird Opfer einer gemeinsamen Intrige8von Gott und Satan, auch als sinnlose Wette betrachtet,[4]die nicht einmal als Konflikt zwischen den beiden Mächten erzählerisch dargestellt wird.

Der Prolog erzählt vom unsäglichen, vielfältigen Leiden Hiobs, das von Verlust, schwerer Krankheit und Tod gezeichnet ist. Das Buch verstrickt sich in Streitgesprächen mit Freunden Hiobs, die um die Frage kreisen, ob Hiob unschuldig leidet, und ob „Gott“ gerecht sei. Der glückliche Ausgang am Ende des Buches – Hiob wird gerechtfertigt und reichlich belohnt – kann die erlittenen Qualen des Leids nicht schmälern oder ausgleichen. Das Theodizee-Problem erweist sich in dem Kontext als unlösbar.

Im Gegenteil bestätigt sich die anfangs betonte Gottesfurcht Hiobs sogar noch nach unmenschlichen Prüfungen und Torturen. Die „Rückerstattung“ des Verlorenen und die scheinbare Entschädigung für das Erlittene wirkt nicht unbedingt wie ein „Kalkül berechnender Religiosität“ nach der Anschauung: Bleibe nur Gott treu, nimm auch Böses und Leid aus seiner Hand, dann wirst du am Ende belohnt! Der mitfühlende Leser vergisst nicht die berechtigte Klage Hiobs (Hiob 16,6): „Rede ich, hört doch mein Schmerz nicht auf, schweige ich, so weicht er nicht von mir.“Das Hiobbuch ist ein großartiges literarisches Zeugnis für die Ohnmacht eines unschuldig Leidenden im Angesicht einer willkürlich waltenden Gottheit; wir beschränken uns hier auf eine Rede Hiobs (Hiob 9):

„[...] wie könnte ein Mensch im Recht sein vor Gott?“ (9,2b) „Großes tut er, Unergründliches, und Wunderbares, ohne Zahl. Geht er an mir vorüber, sehe ich ihn nicht, und zieht er vorbei, erkenne ich ihn nicht. Rafft er hinweg, wer kann ihn hindern, wer darf zu ihm sagen: Was tust du da?“ (9,10–12) „Und wie könnte ich ihm Rede stehen, meine Worte wählen vor ihm? Auch wenn ich im Recht bin, kann ich nicht antworten, zu meinem Richter muss ich um Gnade flehen. Riefe ich, und gäbe er mir Antwort, ich glaube nicht, dass er wirklich auf mich hörte. Im Sturm wird er nach mir greifen und ohne Grund meine Wunden mehren. Er lässt mich keinen Atem schöpfen, sondern erfüllt mich mit bitterem Leid. Sucht man die Kraft eines Starken: Seht, da ist er! Doch sucht man das Recht: Wer lädt ihn vor? Auch wenn ich im Recht bin, meine Worte setzen mich ins Unrecht. Schuldlos bin ich, er aber hat mich schuldig gesprochen. Schuldlos bin ich! Ich sorge mich nicht, ich verachte mein Leben. Es ist alles eins!Darum sage ich: Den Schuldlosen wie den Schuldigen bringt er um“ (9,14–22).[5]

Was bleibt Hiob und dem Menschen schlechthin anderes übrig, als Gutes wie Böses von „Gott“ an-zunehmen (Hiob 2,10b)?! Radikal verweist DtJes auf das Verhältnis von „Gott“ und dem Bösen (Jes 45,7): „Ich bin der Ewige, und keiner sonst, der das Licht bildet und die Finsternis schafft, der den Schalom vollbringt und das Böse schafft: ich bin's, der Ewige, der all dies vollbringt.“ Es begegnet das Motiv ebenso bei Amos (3,6b): „Geschieht ein Unglück, Böses, in einer Stadt, ohne dass der Ewige es bewirkt hat?“[6]

Hiob beklagt nicht nur das ihm widerfahrene Unrecht; er klagt „Gott“ an, führt dessen Willkür ad absurdum: „Hast du Menschenaugen, und siehst du wie ein Sterblicher? Du suchst nach meiner Schuld und forschst nach meiner Sünde. Doch du weißt, dass ich nicht schuldig bin, dass aber niemand retten kann aus deiner Hand. Deine Hände haben mich gebildet (…) ganz und gar – und dann hast du mich vernichtet“ (Hiob 10,4.6–8).[7]

Das Leiden Hiobs bleibt unerklärlich; er leidet grundlos: Weder hat er sich etwas gegenüber dem Ewigen zu Schulden kommen lassen, noch muss er deshalb büßen, weil er „als Mensch vor Gott gar nicht gerecht sein kann“. Ebenso unberechtigt erscheint es, hinter Hiobs Prüfung eine „göttliche Erziehungsmaßnahme“ zu sehen. „Der Grund für Hiobs Leiden liegt allein im grausamen himmli-schen Test“, „wie es der Prolog mit aller Klarheit statuiert.“[8]Dabei wird „sorgsamst Wert darauf gelegt, dass jede der satanischen Aktionen, die Hiob trifft, eigens von Gott legitimiert (…) ist.“

In Hiob 2,3 „gesteht Gott selber zu“, nicht Satan habe Hiob zerstört, vielmehr wurde „er selbst vom Satan gegen Hiob aufgehetzt“.[9]Wiederholt wird Hiobs Schuldlosigkeit betont (z.B. 1,8). Auslöser für diese Schwäche „Gottes“ ist die perfide, destruierende Unterstellung „Satans“ (1,9): „Ist Hiob etwa ohne Grundso gottesfürchtig?“[10]Die rev. Lutherbibel (1984) übersetzt zweideutig: „Meinst du, dass Hiob Gott umsonstfürchtet?“ Im Hebräischen meint das betreffende Adverb: grundlos, zweckfrei,[11]unentgeltlich,vergebens; man kann übersetzen (Hiob 1,9): „ohne Lohn zu empfangen“.

Das im Deutschen mehrdeutige umsonstverweist auf die Bedeutung vergeblich, „ohne Äquivalent“;  umsonsterinnert noch an ursprüngliche Bezüge aus dem Bereich der Wirtschaft; zugleich ist es auf Grund seiner Vieldeutigkeit so flexibel, dass es ein weites Spektrum an Bedeutungen eröffnet: „ohne Entgelt“; „ohne Folge“; „ohne Grund“, und sogar „ohne Sinn“.[12]

Hiobs schuldloses Leiden sehen manche als eine Art Bewährungsprobe an:[13]ob es uns gefällt oder nicht: Es geht um eine Erprobung; nicht als Kontrolle“ von außen – das hätte Gott nicht „nötig“ und daher auch nicht zugelassen, – sondern als Chance zur Bewährung, zum Wachstum. Hiob ist schon gut, aber es steckt in ihm noch viel mehr, als er in seiner Bravheit ahnt!“

Das Theodizee-Problem wird noch verstärkt, indem der Mensch als „Bild Gottes“ (als „imago Dei“) vorgestellt wird, ihm Freundschaft mit „Gott“ und ein glorreiches Leben verheißen wird, was lediglich durch ein paar Prüfungen unterbrochen werde, damit sich ein Mensch auch der Gotteskindschaft würdig erweise. Die Kontingenz des Lebens mit den zufälligen Leidensphasen, keineswegs der Ewige selbst, seien Ursache für das Leid.

 „Hiob“ wird zur „Deutefigur“ bei der jüdischen Auseinandersetzung mit der Shoa – in Prosa, Lyrik, philosophischen, historischen Entwürfen.[14]Wie ein düsteres Omen auf kommende Ereignisse wirkt ein Gedicht des damals 21jährigen Fritz Rosenthal (1913–1999), des in Israel zu Schalom Ben-Chorin umbenannten, maßgebenden Denkers im jüdisch-christlichen Dialog. Unter dem Eindruck der Machtergreifung Hitlers und des erstarkenden Nationalsozialismus dichtet er Hiob redet mit Gott(1934):[15]

„Hast du deine weiten Segenshände / Über mir zur Faust geballt, / Dass ich auch vor dir bestände / Noch im Anruf deiner Allgewalt?// Deine Schatten wollen mich erdrücken – / Diese Nacht ist riesig wie das Meer. / Willst du mich denn immer tiefer bücken? / Deine Last wird meinen Schultern schwer. // EWIGER, sieh meine Eiterwunden! / Deiner Liebe allzuharte Male./ Randgefüllt ist meiner Leiden Schale. / Setz ein Ende meiner wehen Stunden. // Mach den Tag, der mich gebar, zunichte / Und verlösche mein getrübtes Licht – / Furchtbar, Herr, sind deine Strafgerichte, / Denn wir schauen, doch erfassen nicht!“

Das Gedicht erinnert an biblische Klagelieder; der Anfang der letzten Stanza ist direkte Anspielung auf Hiob 3,3–6. Die Bilder der ambivalenten Gotteserfahrung des biblischen Hiob werden poetisch eingefangen und verarbeitet, „insbesondere dadurch charakterisiert“, „dass das Segensreiche ins Zerstörerische und Zerstörte umschlägt (…).“ „Das lyrische Ich spricht als Jude“; darauf verweisen die „seit der jüdischen Aufklärung im jüdisch-deutschen Kontext“ gängige Bezeichnung „Ewiger“ und „die Anspielung auf die Nacht als verbreitete rabbinische Metapher für das Exil.“ Das Ich wandelt sich in der letzten Zeile zum Wir, und der Hiob des Gedichts manifestiert sich als „Sprecher des jüdischen Kollektivs“.[16]Das Kollektiv kann erweitert werden, indem es anwächst zur Völkergemeinschaft,[17]abstrakt gesagt, zur „Menschheit“, die scheinbar dem Untergang „Im Sturm“ geweiht ist.[18]

Metaphorisch, poetisch ist aus dem Blickwinkel der Dichterin Margarete Susman[19]für das jüdische Volk sogar nach der Shoa wieder – mit der uralten Erzählung von der Sintflut vor Augen – „Land“ in Sicht,[20]so wie viele Persönlichkeiten aus dem Judentum zwar nicht versuchen, die Problematik der Theodizee zu lösen, aber doch mit Hilfe der Tradition nach dem Sinn des Sinnlosen, nach Hoffnung wider Hoffnung fragen.

„Land! – Auf weißen Schwingen naht die Taube / Lang vor Abend, lange ausgesandt. / Strömend hat ein Aug' den Zweig erkannt, / Dass es brechend noch der Botschaft glaube. // Still versinkt, den Gott sich nicht ersehen. / Mit ihm sinkt die Welle, drin er ruht – / Und er sieht, umspült von sanfter Flut, / Fern ein fremd und neu Geschlecht erstehen.“

Anstelle der Spekulationen über einen „Gott“, der gerecht ist oder zu leiden vermag, sollte die Frage erlaubt sein: Ist der Mensch gerecht? Gibt es gerechte Menschen? Können Menschen gerecht sein? Unleugbar handeln Menschen gut und böse, konstruktiv und furchtbar destruktiv; unsere Spezies ist kreativ und einfallslos, engagiert und gleichgültig. Wir sind zutiefst widersprüchlich und verhalten uns auch so. Keine Religion hat daran Wesentliches geändert; ihre Anhänger projizieren Wünsche und Ängste auf eine höhere Ebene, „delegieren“ zum Teil ihre Verantwortung an eine Gottheit, die sie sich als Person mit menschlichen bzw. übermenschlichen Eigenschaften vorstellen.

Ganz anders Hiob: Er weiß um seine Hinfälligkeit und Vergänglichkeit, er macht sich keine Illusionen wegen der Kürze seines Lebens, dass sein Dasein knapp bemessen und begrenzt ist. Gerade deshalb erwartet er von dem Ewigen, dass Er ihn in Ruhe und von ihm ablässt, nicht ständig auf ihn schaut, ob sich nicht doch ein Makel, eine Schuld an Hiob fände!

Oder ist es nicht eins der vielen Gottesbilder, von denen Hiob bedrängt wird?! Die Älteren unter uns werden noch diese strengen Sätze aus der Kindheit kennen: „Der liebe Gott sieht alles!“ „Die kleinen Sünden bestraft der liebe Gott zuerst!“ Diese Beispiele pervertierter und pseudoreligiöser Erziehung führen zu einer irregeleiteten, gedemütigten Haltung eines Kindes vor „Gott“, die Angst und nicht Gottesfurcht hervorbringt und schlimmstenfalls neurotische, kranke Persönlichkeiten hervorbringt. Im günstigsten Fall werden Kinder oder Jugendliche später im Erwachsenenleben diese Gottesbilder als Herrschaftsinstrumente elterlicher Erziehung entlarven und abschütteln. In Klöstern, Schulen und Kirchen, wo „christliches Leben“, kirchlicher Glaube, Dogmen, Riten und Gebräuche gelehrt wurden, hat man ähnlich Missbrauch getrieben mit der Sehnsucht des Menschen nach Antwort auf wichtige, existenzielle Fragen und Probleme.

Im Gespräch mit einem Mediziner gebe ich einmal zu erkennen, dass ich ab und zu Angst vor dem Tod hätte, weil ich nicht wirklich wissen könnte, was danach käme, oder ob dann alles vorbei wäre. Zunächst meint er, das sollte für mich als Geistlicher doch kein Problem darstellen. Doch dann nimmt er mich ernst, und  seine Antwort verblüfft mich: „Der Tod ist eine Unverschämtheit!“ Viele Tiere leben von Natur aus länger als der Mensch, wobei eben dieser Mensch seit Jahrhunderten nicht nur das Leben erschreckend vieler Tiere verkürzt, sondern ganze Arten millionenfach vernichtet hat. Um die Existenz der Pflanzen ist es nicht viel besser bestellt, auch ihre Vielfalt wird weiterhin dezimiert.

Lebensverkürzung und Auslöschung der Menschen untereinander durch Kriege, Völkermord und Massenvernichtung haben unter Beweis gestellt, dass menschliches Leben als kostbares Gut, dass unwiderruflich verloren geht, von gewissen Mächten verachtet und wie Müll entsorgt wird. Folter, Missbrauch, Totschlag, Mord, schuldhaft herbeigeführte Unfälle und menschliches Versagen mit Todesfolge sind weitere Beispiele dafür, wie Leben nicht durch „Gott“, sondern durch menschliche Bosheit und Fahrlässigkeit verkürzt wird. Es wäre blasphemisch, zu behaupten, „Gott“ hätte all den Opfern ein frühzeitiges Lebensende zugedacht.

All das hat der biblische Hiob sicher nicht im Blick. Ihm geht es um die grundsätzliche Vergänglichkeit und Hinfälligkeit des Menschen und was dies in der Beziehung zum Ewigen bedeutet; überaus mutig gelangt Hiob zu dem Urteil: Wenn sein Leben schon vergänglich und knapp bemessen ist, solle ihn „Gott“ doch in Ruhe lassen! Er solle Sein göttliches Auge von ihm abwenden, damit Hiob sich seines Lebens noch erfreuen könne. Das „Auge Gottes“ kann wie permanente Überwachung wirken und ist auch in der bildenden Kunst nachweisbar.

Seit der Antike[21]und im Alten Orient und in der hebräischen Bibel ist das „Auge Gottes“, das weite Wortfeld des Sehens, Blickens, Beobachtens, Schauens in Bezug auf die Gottheit ikonographisch und  motivgeschichtlich häufig belegt.[22]Die Symbolik des „göttlichen Sehens“ ist biblisch mit diversen „Affektneigungen“[23]und mit verschiedenen Aspekten verbunden.[24]Der isolierten Darstellung eines einzelnen Auges, des „Auges Gottes“, kommt in der Kunstgeschichte eine große Bedeutung zu.

Der gläubige Betrachter sieht darin ein Symbol für „Gottvater“. „Inmitten eines von einer Gloriole umgebenen Dreiecks, dem trinitarischen Symbol, ist ein menschliches Auge platziert.“ Die barocke Schöpfung findet sich häufig im deutschsprachigen Raum, oft „als Bekrönung an Altären angebracht“; das Auge verweist dann auf „Gottes Allwissenheit und Allgegenwart“. Das Augenmotiv repräsentiert „eine konzentrierte Form von Macht und Wissen“; die omnipotente Wertung des Gesichtssinnes „wird durch den auf die Sonne verweisenden Strahlenkranz zusätzlich bekräftigt.“ Dabei schwingt etwas Mystisch-magisches sowie eine übermenschliche Kraft, „das Allumfassende“, mit. Ein gutes Beispiel gibt Hieronymus Bosch in seinem Tisch der Weisheit(um 1485).[25]

Der „Blick Gottes“ geschieht, räumlichem Denken gemäß, grundsätzlich „von oben herab“ (Ps 113,6), um die Schöpfung zu begutachten und sie für „sehr gut“ zu befinden (Gen 1,31). Er prüft aber auch und blickt dem Menschen ins Herz, dessen „Dichten und Trachten“ Er als „böse“ durchschaut, so dass Er bereut, dass Er ihn überhaupt geschaffen hat (Gen 6,5f; 8,21). „Gottes Auge“, Sein Sehen, hat aber ebenso Aspekte der Fürsorge und des Schützens: „Gott“ beobachtet den Einzelnen (cf. Gen 22,14) und sieht das Leiden seines ganzen Volkes (Ex 3,7). „Gottes Blick“ impliziert einen prüfenden, auch strafenden Blick, doch ebenso ein gütiges, sorgendes „Auge“ (cf. Hiob 36,5–7).[26]

Die Ambivalenz findet sich in verstärkter Form in der Literatur des Alten Griechenland, seit Homer und Hesiod. Zu den antiken Vorstellungen vom Sehen gehört die „Dominanz des aktiven Auges“, wobei der „böse Blick“ oder auch der neidvolle Blick gegenüber dem „guten Blick“ zu überwiegen scheint.[27]Vielleicht ist es diese Ambivalenz, die Hiob Anlass gibt, diese Gottesbilder beim Wort zu nehmen und sich „Gott“ (JHWH) vom Hals zu schaffen: Lass ab von mir, und lass mich mein kurzes Leben gestalten! Da das tradierte Handeln Jahwes so mehrdeutig, ja, widersprüchlich ist, will sich Hiob davon verabschieden. Er könnte in Folge bis ans Lebensende arbeiten und sich der Früchte seiner Mühen erfreuen. Darin bestünde sein Lebenssinn. Auch das Weisheitsbuch Kohelet beklagt, wie widersprüchlich das Leben ist (Koh 8,14–15):

„Es ist nichtig, was auf Erden geschieht: Es gibt Gerechte, denen geht es, als hätten sie Werke der Gottlosen getan, und es gibt Gottlose, denen geht es, als hätten sie Werke der Gerechten getan. Ich sprach: Das ist auch nichtig. Darum pries ich die Freude, dass der Mensch nichts Besseres hat unter der Sonne, als zu essen und zu trinken und fröhlich zu sein. Das bleibt ihm bei seinem Mühen sein Leben lang, das Gott ihm gibt unter der Sonne.“

Der größte Teil des Hiobbuches bestätigt im Grunde die Anschauung Hiobs, dass es ihm trotz der Kürze und Vergänglichkeit des Lebens nicht vergönnt ist, sein Dasein bei aller Mühe des Schaffens dennoch in Freuden zu genießen. Stattdessen erfährt er die unglaubliche Ungerechtigkeit, leiden zu müssen, ohne zu wissen, warum. Denn es wird erzählt, dass „Gott“ eben nicht von ihm ablässt, ihm schlimmstes Leid beschert, obwohl Hiob gottesfürchtig, gerecht und ohne Schuld ist. Drei Freunde versuchen, Hiob seine Schuldlosigkeit zu widerlegen und ihm zu beweisen, dass er „vor Gott“ allemal schuldig, nicht ohne Fehl und Makel ist. Das Hiobbuch endet mit dem scheinbar ausgleichenden Schluss, dass Hiob aufgrund seiner unverbrüchlichen Treue und Gottesfurcht reichlich belohnt wird. Diesen guten Ausgang als ausgleichende Gerechtigkeit anzusehen, verkennt zwei Tatsachen:

Erstens hat Hiob angesichts seiner Verluste und seines Leidens nicht ahnen und schon gar nicht darauf spekulieren können – gerade wegen seiner echten Gottesfurcht –, dass sein Leidensweg ein gutes Ende nähme. Und zweitens bleiben die grausamen Widerfahrnisse, die über Hiobs Leben grundlos hereinbrechen, unentschuldbar und ungerecht. Die Vorstellung von einem gerechten, liebenden „Gott“ (JHWH) wird im Weisheitsbuch Hiob teilweise in Frage gestellt und ad absurdum geführt.

Zufälligkeit, Sterblichkeit und die Sinnfrage durchziehen die Weisheitsliteratur der hebräischen Bibel. Mir gefallen diese alten Philosophen, die weniger mit theoretischem Denken schwanger gehen als sich vielmehr dem alltäglichen Leben, dem Dasein des Menschen mit seinen Hürden, Beschwernissen, Ungerechtigkeiten und unerklärlichem Leid unerschrocken zu stellen und dabei sogar dem Tod ins Auge zu blicken. Der Tragik der menschlichen Existenz gilt es mit Respekt zu begegnen. Da hilft kein frommes Gerede: „Der liebe Gott hat sich schon etwas dabei gedacht!“ Woher weiß man, was „Gott“ sich denkt?!

Kein Schönreden: „Alles wird gut!“ Der Satz hat seit einiger Zeit in Deutschland Konjunktur oder gar die Version: „Alles ist gut!“ Dieses Schönreden ist gleichzeitig ein Hinwegreden, ein Ausweichen vor konkretem Leid eines Menschen oder ein Nichtwahrhabenwollen eines wirklichen Problems. Man muss es in alltäglichen Situationen, etwa beim Einkaufen oder Vertragsabschlüssen nicht immer so hoch bewerten, aber an Grenzen des Lebens wie z.B. gegenüber Menschen mit einer ernsthaften, womöglich todbringenden Krankheit oder bei Besuchen im Seniorenpflegeheim kommt alles auf einen respektvollen Umgang mit einsamen, schwerkranken oder sterbenden Mitmenschen an.

Ich habe einmal erlebt, wie eine betagte Dame im Pflegeheim, die im Sterben lag und an einem Problem aus ihrer Jugend litt, das ihr schwer zu schaffen machte, auf einen Vers aus der hebräischen Bibel erleichtert reagierte, den ich spontan rezitierte. Soweit ich mich erinnere, war sie katholisch und womöglich streng erzogen, deshalb vielleicht auch ihr sensibles Gewissen. Sie sagte dann nur: „Danke, Herr Pfarrer“ und atmete sichtlich erleichtert auf. Besagter Vers lautet (Jes 43,1): „Und nun spricht Gott, der dich geschaffen und dich gemacht hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“

Es hat mich immer beeindruckt, wie Menschen an der Grenze des Lebens und angesichts unsäglichen Leids dennoch gestärkt werden oder sich stärken lassen durch Worte aus den Heiligen Schriften oder durch eine für mich von außen nicht erfahrbare Begegnung mit „Gott“ (JHWH), wie es Hiob erlebt:

„Aber ich weiß, dassmein Erlöser (Rechtsbeistand) lebt,und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen, mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und nicht mehr als einen Entfemdeten (Gegner). Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust“ (Hiob 19,25–27).

Amen.

 

[1]Philosophisch, s. Hans Michael Baumgartner: Ist der Mensch absolut vergänglich? Über die Bedeutung von Platons Argumenten im Dialog „Phaidon“ (1998).

[2]Konrad Schmid: Hiob als biblisches und antikes Buch. Historische und intellektuelle Kontexte seiner Theologie, SBS 219 (2010): (2.1) Das hermeneutische Problem des Hiobprologs, 19–20: 19.

[3]Raik Heckl: Hiob – vom Gottesfürchtigen zum Repräsentanten Israels. Studien zur Buchwerdung des Hiobbuches und zu seinen Quellen, FAT 70 (2010): Kohärenz, Intention und Funktion der Rahmenerzählung, 221–337: 236–248: Hi 1,6-12; Josef Wehrle: Der leidende Mensch und der mitleidende Gott. Ein Beitrag zur Anthropologie und Theologie des Alten Testaments, Bibel und Ethik 4 (2012): Die Thematisierung des Leids im Buch Ijob (115–198): Aufbau des Prologs (Ijob 1,1–2,10) mit Kommentierung, 117–148; K. Schmid: Hiob als biblisches und antikes Buch (2010): Die Perspektive des Prologs auf das Hiobbuch (20–30).

[4]Gabrielle Oberhänsli-Widmer: Hiob in jüdischer Antike und Moderne. Die Wirkungsgeschichte Hiobs in der jüdischen Literatur (2003): (1. Teil) Hiob in jüdischer Antike (I.) Das biblische Original als Vorlage der späteren Rezeption (19–55): (1.) Die Struktur des alttestamentlichen Hiob-Buches, 20–29: 22.

[5]Zürcher Bibel (2007), 679–680 (Hervorhebungen; Th.B.); s. Georg Fohrer: Das Buch Hiob, KAT 16 (1963): Die dritte Rede Hiobs, 195–220.

[6]Zürcher Bibel (2007), 1272 (leicht abgeändert; Th.B.); zur Exegese, R. Heckl: Hiob – vom Gottesfürchtigen zum Repräsentanten Israels (2010): Die literarischen Querbezüge der Rahmenerzählung (338–444): Das Verhältnis von Rahmenerzählung und Dichtung (341–376):  Gott und das Böse, 367–372: 367f.

[7]Zürcher Bibel (2007), 680–681 (leicht abgeändert; Th.B.).

[8]K. Schmid: Hiob als biblisches und antikes Buch (2010), 23.

[9]K. Schmid: Hiob als biblisches und antikes Buch (2010), 22.

[10]Zürcher Bibel (2007), 671; cf. English Standard Version: „Does Job fear God for no reason?”

[11]S. Markus Witte: Hiob/ Hiobbuch (2007): (3.) Aufbau und Gedankengang, WiBiLex.

[12]Jürgen Ebach: Hiobs Post. Gesammelte Aufsätze zum Hiobbuch, zu Themen biblischer Theologie und zur Methodik der Exegese (1995): „Ist es 'umsonst', daß Hiob gottesfürchtig ist?“ (zu Hi 1,9), S. 15–31: 28–29.

[13]S. Mirijam Schaeidt: Hin vor Dein Angesicht. Hiobs Gottesbeziehung und was sie uns angeht, in: Werner Schüßler/ Marc Röbel (Hg.): HIOB – transdisziplinär. Seine Bedeutung in Theologie und Philosophie, Kunst und Literatur, Lebenspraxis und Spiritualität, Herausforderung Theodizee. Transdisziplinäre Studien 3 (2013), 301–337: 303.

[14]Cf. G. Oberhänsli-Widmer: Hiob in jüdischer Antike und Moderne. Die Wirkungsgeschichte Hiobs in der jüdischen Literatur (2003): Hiob in jüdischer Moderne:  Hiob als Deutefigur der Schoa, 227–284.

[15]Schalom Ben-Chorin (Fritz Rosenthal): Hiob redet mit Gott, in: Schalom Ben-Chorin: Die Lieder des ewigen Brunnens (1934), 10; zit.n. G. Oberhänsli-Widmer: Hiob in jüdischer Antike und Moderne (2003), 249–250.

[16]G. Oberhänsli-Widmer: Hiob in jüdischer Antike und Moderne (2003), 250.

[17]S. Schalom Ben-Chorin/ Michael Langer: Die Tränen des Hiob. Bilder von Hans-Günther Kaufmann (1994): Der leidende Mensch in der hebräischen Bibel (Schalom Ben-Chorin), 58–82: 82.

[18]Margarete Susman: Aus sich wandelnder Zeit. Gedichte (1953): Im Sturm, 12.

[19]S. Georg Langenhorst: Hiob – unser Zeitgenosse. Die literarische Hiob-Rezeption im 20. Jh. als theologische Herausforderung (1994): Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes: „Das ganze Leidschicksal des Judentums“ (Margarete Susman). Ein Essay und seine Geschichte. Zwei Gedichte und eine These, 120–127.

[20]M. Susman: Aus sich wandelnder Zeit. Gedichte (1953): Land, 27.

[21]A. Schmidt-Burkhardt: Sehende Bilder (1992): Vorgeschichte (13–45):  Das Auge Gottes, 13–18: 13.

[22]Cf. Manfred Lurker: Wörterbuch der Symbolik (2., erw. Aufl. 1983): s.v. Auge, 57–58: 58; cf. op.cit. (5., durchges. u. erw. Aufl. 1991): s.v. Auge, 61.

[23]Alex Stock: Poetische Dogmatik. Christologie: 2. Schrift und Gesicht (1996): (B.) Gesicht (9.) Blick des Himmels, 147–153: 149 (f).

[24]S. Gudrun Schleusener-Eichholz: Das Auge im Mittelalter. Zwei Bände (1985), Bd. 2: Das Auge Gottes, 1076–1110.

[25]K. Wranek: Der gesehene Blick (2012), 55 (A. 123; Abb. 16; S. 267); s. Th. Lentes: Der göttliche Blick. Hieronymus Boschs Todsündentafel– eine Einübung ins Sehen, in: Sehen und Sakralität in der Vormoderne, hg. v. D. Ganz/ Th. Lentes (2011), 21–34; Farbtaf. II, 38.

[26]Cf. A. Stock: Poetische Dogmatik. Christologie: 2. Schrift und Gesicht (1996), 149f; Schroer/ Staubli: Die Körpersymbolik der Bibel (1998), 121f.

[27]S. Thomas Rakoczy: Böser Blick, Macht des Auges und Neid der Götter. Eine Untersuchung zur Kraft des Blickes in der griechischen Literatur, Classica Monacensia 13 (1996): Der böse Blick (39–226); Der gute Blick (227–245).

 

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Fürbitten

„Inmitten aller Vergänglichkeit // Einmal wichtig gewesen zu sein, / für jemanden, der einem selber / so wichtig war, daß man glaubte, / alles vorher sei unwichtig gewesen, / und nichts könnte nachher wichtiger werden / als dieses eine Mal – / es bleibt und wird zu erfülltem Leben. // Auch wenn man es längst vergessen wähnt.“[1]

Ewiger! Viele Menschen sind schon im Leben vergessen, andere behalten wir im Gedächtnis noch über ihren Tod hinaus. Lass niemanden in Vergessenheit geraten, denn vergänglich sind wir, und das Gedächtnis unseres künftig verfallenen oder der Asche anheim gegebenen Körpers währt allzu kurz.

Ewiger! Nimm uns die Angst davor, ausgelöscht zu werden aus dem Gedächtnis der Hinterbliebenen.

Ewiger! Hilf uns, angesichts unserer Vergänglichkeit und Hinfälligkeit dieses knapp bemessene Leben gerade wegen seiner Kürze in Dankbarkeit kreativ und sinnvoll zu gestalten, so dass wir in innerem Frieden unser Dasein fristen können und auch zum äußeren Frieden in der Gesellschaft beitragen.

Ewiger! Hilf uns, dass wir die Hilfsbedürftigen und Schwachen in unserer Umgebung nicht übersehen; lass uns offen werden für ihre Nöte und Ängste; hilf uns, dass wir uns ihren Problemen stellen und auch vor ihrer Einsamkeit nicht zurückschrecken.

Ewiger! Nimm uns die falsche Scheu, über unsere eigenen Schwierigkeiten zu sprechen, denn es ist eben nicht „alles gut“!

Ewiger! Bewirke in uns die notwendige Bereitschaft, Glaubensvorstellungen und Gottesbilder kritisch zu hinterfragen, wo sie Menschen nicht befreien, sondern unnötig belasten.

Ewiger! Bewahre uns vor jeglicher Besserwisserei und jeder Form geistigen, geistlichen Hochmuts.

Ewiger! Erbarme Dich und schone unser Leben, ganz besonders das der unschuldigen Kinder.

Unser König! „Du bist gerecht, Ewiger, zu töten und zu beleben, in Deiner Hand sind alle Seelen aufbewahrt, fern sei es von Dir, unser Andenken auszulöschen, mögen doch Deine Augen voll Erbarmen über uns wachen, denn bei Dir ist die Vergebung und das Erbarmen.“[2]

Amen.

 

[1]Christine Busta: Inmitten aller Vergänglichkeit. Gedichte (1985), S. 85.

[2]Sidur Sefat Emet. Mit deutscher Übersetzung v. Rabbiner Dr. S. Bamberger (1978), 308.



Pfarrer Thomas Bautz
Bonn, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
E-Mail: thomas.bautz@ekir.de

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