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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Christvesper, 24.12.2018

Erst Ostern, dann Weihnachten
Predigt zu Jesaja 8:23aβ – 9,6 / 9,1-7, verfasst von Rainer Stahl

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit Euch allen!“

 

Liebe Leserin, lieber Leser! Liebe Schwestern und Brüder!

 

Vor einiger Zeit bin ich durch das Blättern in einem alten Fotoalbum an längst vergangene Erlebnisse erinnert worden. 34 Jahre sind sie nun her: Damals habe ich im zentralen Büro des Lutherischen Weltbundes im Ökumenischen Zentrum in Genf gearbeitet, hatte im Sommer bei dessen Siebenter Vollversammlung in Budapest vor allem als Protokollant mitgewirkt und sollte nun bald wieder in meine Heimatkirche zurückkehren. Das würde aber keine einfache Rückkehr nach Deutschland werden – wie einige jetzt vielleicht denken –, sondern das musste eine Rückkehr in meine Thüringer Heimatkirche und damit in die Deutsche Demokratische Republik werden. Anfang Februar 1985 war es dann soweit, und ich bin an einem Abend wieder in Jena angekommen: vor dem Westbahnhof dunkel, kalt, voller Schnee, kein Taxi weit und breit...

 

Aber Ende November, Anfang Dezember 1984 wurde ich noch zu einer Konferenz nach Manila auf der Hauptinsel Luzon der Philippinen delegiert. Auf dieser Reise habe ich auf dieser Insel Luzon auch eine interessante Busfahrt nach Baguio im Norden gemacht, um dort ein Kirchenzentrum zu besuchen. Vorher hatte ich auf der Hinreise Madras, heute: Jennai, in Südindien und Singapur und danach auf der Rückreise sogar Japan besucht. Eines war für mich besonders überraschend – vor allem in Japan: Wie intensiv das Weihnachtsfest in diesen alles andere als christlich geprägten Kulturen Thema war. Beim Flug von Manila nach Tokio wurden nur Weihnachtslieder gespielt – europäische Weihnachtslieder! Wieso das? Ich war ganz überrascht. In Tokio in einem Einkaufszentrum ein übergroßer Weihnachtsbaum! Aber wer weiß dort vom Inhalt von Weihnachten etwas?

 

Besonders beeindruckt war ich von einer Schaufenstergestaltung eines Kaufhauses in Singapur: Im riesigen Schaufenster keinerlei Waren ausgestellt. Dagegen der Hintergrund blau ausgeschlagen, daran Sterne dargestellt, ein großer Stern davor aufgehängt. Drei beinahe lebensgroße Figuren von Kamelen mit Reitern in orientalischer Kleidung nach links gehend – in Richtung Westen. Und unter dem großen Stern nur fünf Worte: „Even wise men seek Jesus“ – „Sogar, gerade weise Männer suchen Jesus“.

 

(Fotografiert am 30. November 1984.)

 

Da hat ein Kaufmann – vielleicht war die Besitzerfamilie des Kaufhauses christlich – mitten in der totalen Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes die eigentliche Botschaft dieses Festes gestalterisch darstellen lassen! Wann und wo finden wir so etwas heute bei uns in Deutschland?

 

Genau diese Sehnsucht nach dem eigentlichen Inhalt des so oft völlig entleerten Weihnachtsfestes wird für die heutige Christvesper, wird für den heutigen Vorabendgottesdienst zum morgigen Weihnachtsfest in Form einer ganz alten Hoffnungsaussage aufgegriffen, die im Jesaja-Buch erhalten ist:

                                    „Das Volk derer, die in der Finsternis herumirren –

                                    sie sehen ein großes Licht!

                                    Die sitzen im Land der Todesschatten –

                                    Licht scheint über ihnen!“ (Jesaja 9,1 / 9,2).

 

Ich sagte: eine ganz alte Hoffnungsaussage. Ich muss ergänzen: eine anonyme Hoffnungsaussage, die aus dem Staat Israel stammen dürfte und wohl von Flüchtlingen nach dessen Zerstörung durch die Assyrer im 8. Jahrhundert vor Christus in den Staat Juda gebracht wurde, wo sie in das Traditionsgut des damals zeitgenössischen judäisch-jerusalemischen Propheten Jesaja aufgenommen wurde. Also: Schon das Wort selbst und seine älteste Geschichte  weisen darauf hin, dass Gewalt und Ungerechtigkeit bestimmend sind. Dagegen schon protestiert dieses Wort, das in ganz knapper und klarer Weise den Staat Israel (nicht den Staat Juda) geographisch kennzeichnet. Dieses Wort ist also prophetischer Protest und prophetische Hoffnungsaussage in einem:

                                    „Wie er zu früherer Zeit leicht / unwichtig hat sein lassen

                                    das Land Sebulon und das Land Naftali,

                                    so hat er danach gewichtig sein lassen

                                    den Weg am Meer, (die Gegend) jenseits des Jordan, das Gelil / Galiläa der

                                    Völker“ (Jesaja 8,23aβ-b / Jesaja 9,1).

 

An dieser Stelle sei eine Beobachtung notiert. Für manche gehört sie vielleicht nicht in eine Predigt, sie demonstriert aber, dass die biblischen Worte „nicht einfach Leseworte, wie man meint, sondern eitel Lebeworte“ sind – um hier eine Formulierung aus dem Widmungsbrief Martin Luthers vom 1. Juli 1530, gesendet mit seiner Auslegung des 118. Psalms an Friedrich Pistorius in Nürnberg, aufzunehmen. Denn die Bibel wurde nicht nur stur weitergegeben, sondern schon ihr Text wurde immer wieder aktiv angeeignet, so wie wir im Jahr 2018 nach der Weihnachtsbotschaft forschen: Als die ägyptischen Juden im 2. Jahrhundert vor Christus das Jesaja-Buch ins Griechische übersetzten, also die Septuaginta verfassten, haben sie wohl die Abfolge vom achten zum neunten Kapitel beibehalten. Jedenfalls ist so die mir vorliegende Ausgabe der Septuaginta gestaltet (Alfred Rahlfs [Hg.]: Septuaginta II, 2. Auflage, 1935, Stuttgart 1965, S. 577). Aber die Übersetzer dieser griechischen Bibel ins Deutsche in unserem 21. Jahrhundert nach Christus haben die Verse neu zugeordnet: Jetzt steht der letzte Teil von Jesaja 8,23 schon unter Jesaja 9,1 (Wolfgang Kraus u. Martin Karrer: Septuaginta Deutsch, Stuttgart 2009, S. 1238). Aber damit haben diese modernen Übersetzer nur abgebildet, was schon längst die Revised Standard Version der Englischen Bibel von 1611 und die Russische Synodalbibel von 1873 getan haben! Unsere Lutherbibel ist also in gar keiner Weise immer der Weisheit letzter Schluss, spiegelt doch diese Zuteilung der Verse auf Kapitel 9 auch die exegetisch erkannte ursprüngliche Texteinheit des eigentlichen israelitischen Prophetenwortes viel klarer ab!

 

Nun aber halten wir inne: Die Schaufensterreklame in Singapur hat diese große Hoffnung auf „Licht“ aufgenommen und stracks gedeutet auf das Zentrum des christlichen Glaubens – auf Jesus. Und sie regt uns an, den Angekündigten dieses alten Prophetenwortes in Jesus zu erkennen:

                                    „Denn ein Neugeborener wird uns geboren,

                                    ein Sohn ist uns gegeben.

                                    Und es wird sein / es ist die Herrschaft auf seiner Schulter.

                                    Und man nennt seinen Namen / man nennt ihn:

                                    Wunder Beschließender, heldischer Gott, Vater für immer,

                                    Fürst des Friedens“ (Jesaja 9,5 / Jesaja 9,6).

 

Hier nun haben die jüdischen Übersetzer des 2. Jahrhunderts vor Christus den biblischen Wortlaut gravierend verändert: „und dessen Name lautet »Bote großen Ratschlusses«; denn ich werde Frieden bringen über die Herrscher, Frieden und Gesundheit für ihn“ (Alfred Rahlfs [Hg.]: Septuaginta II, S. 578; und: Wolfgang Kraus u. Martin Karrer: Septuaginta Deutsch, S. 1239). Diese überraschende Fassung wird weder in der russischen Bibel – was zu erwarten wäre –, noch in der englischen Bibel aufbewahrt und wiedergegeben. Warum wohl? Könnte ein Grund dafür darin liegen, dass im Neuen Testament unsere Aussage zweimal aufgegriffen wird – im Epheserbrief 2,14 mit: „Denn er ist unser Friede“, und durch den Evangelisten Lukas in Gestalt des Hymnus der Engel in der Weihnachtsgeschichte, Lukas 2,14: „und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“?! Beide wichtigen Bezüge ließen sich aber auch zum griechischen Text herstellen! Wird doch auch in ihm gerade der Frieden verheißen! Da bleibt der Zusammenhang für mich durchaus offen.

 

Unser Predigttext für die Christvesper bindet nun diese große Hoffnung auf Frieden zurück auf grundlegende Sehnsüchte, auf widerständige und überraschende Aussagen! Diese müssen wir erst einmal auf uns wirken lassen, ohne sofort den dort Angekündigten mit Jesus gleichzusetzen. Wir müssen diesen Angekündigten aus dem Zusammenhang jenes alten Prophetenwortes heraus verstehen, aus der vorangegangenen überraschenden Diagnose heraus, aus der Diagnose grundlegender Änderungen von Gesellschaft und Politik heraus, aus Änderungen heraus, an denen dieser verheißene Neugeborene ursprünglich gar nicht mitwirkt, die sich vor oder mit seiner Geburt einstellen werden – und jetzt nehme ich nur Stichworte auf:

                                    „Sie freuen sich vor dir / vor deinem Angesicht

                                    wie bei der Freude während der Ernte,

                                    wie man jubelt beim Verteilen der Beute.

                                    Denn das Joch, welches es belastet [...],

                                    zerbrochen ist es wie am Tag Midians.

                                    Denn [...] der in Blutlachen gewälzte Mantel

                                    wird zum Brand, zum Fraß des Feuers“ (Jesaja 9,2b-4 / Jesaja 9,3b-5).

 

Hier werden schon große Hoffnungen für „den Weg am Meer“, für „die Gegend am Jordan“, für „das Galiläa der Völker“, für „das Volk in der Finsternis“ und für „die Bewohner des Landes der Todesschatten“ als Wirklichkeiten verkündet: nicht mehr leicht und unwichtig sondern gewichtig wird die Heimat sein, sein Joch wird zerbrechen, ihre Ausbeutung wird beendet, seine und ihre Leiden unter Krieg und Verbrechen werden zu Ende gebracht sein!

 

Sehen Sie auch die unschuldigen Menschen in Syrien vor sich? Die Unschuldigen! Nicht die Soldaten eigener Terrorherrschaften oder die Freischärler und Kriegsbanden, die als selbsterklärte Befreier zum Frieden nicht bereit sind sondern die Spirale der Gewalt immer wieder weiterdrehen! Für mich war es erschütternd, zur Kenntnis nehmen zu müssen, dass Chemiewaffen wohl von allen Seiten eingesetzt werden. So – wie ich verstanden habe – hat die UNO-Sonderermittlerin Carla del Ponte im Oktober 2017 ihre Aufgabe niedergelegt, weil alle in Verbrechen verstrickt sind, sich keine Seite ändert und auch die UNO ein wirkliches Ende der Verbrechen nicht bewirken kann: In Syrien achteten alle Seiten auf nichts – „Die Zivilisten werden getötet, als wenn es nichts wäre“ –, werden immer wieder Kinder und ihre Mütter gemordet, wie ein zwölfjähriger Junge, der von einer der kämpfenden Gruppen angeklagt und hingerichtet wurde (!) (vgl. viele Berichte im Internet, ich nenne zum Beispiel: https://www.srf.ch/news/schweiz/syrien_schlimmer_als_ruanda_carla_del_monte_rechnet_mit_der_UNO_ab, Zugriff am 22. November 2018).

 

Da begreifen wir, was für eine neue Zeit in unserem Prophetenwort skizziert, vorweggenommen, verheißen wird. Deshalb gibt es nur eine Lösung für die Bestimmung des Urhebers der wie passiv angedeuteten Veränderungen – „so hat er danach gewichtig sein lassen den Weg am Meer.

                                    [...] das Joch [...], zerbrochen ist es [...].

                                    Der in Blutlachen gewälzte Mantel wird [...] zum Fraß des Feuers“ –:

Gott selbst wird dies wirken! Gott wird die endgültige Befreiung für die Notleidenden seines Volkes, für alle Notleidenden verwirklichen!

 

Und damit – liebe Schwestern und liebe Brüder – ist uns der Stachel, ist uns die Problematik deutlich geworden, wenn wir dieses Prophetenwort, wie es die Tradition der christlichen Kirche tut, auf Weihnachten und das heißt: auf Jesus aus Nazareth beziehen:

 

Vor oder bei der Geburt Jesu hat es diese Veränderungen nicht gegeben. Ja, in Gestalt der Überlieferung einer angeblich von Herodes angeordneten Liquidierungskampagne gegen kleine Jungen im Raum Bethlehem (nur in Matthäus 2,16-18 überliefert) wird ja der erneute Sieg des Wälzens von Mänteln durch Blut angedeutet. Ja, in Form der Berichte über den Prozess gegen Jesus und über seine Hinrichtung (vgl. nur Matthäus 26,47 – 27,61) wird die Schockbotschaft weitergegeben, dass dieser „Wunder Beschließende“, dieser „heldische Gott“, dieser „Vater für immer“, dieser „Fürst des Friedens“ gescheitert scheint!

 

Wie können wir daraus eine Weihnachtsbotschaft gewinnen? Aus unserem alten Prophetenwort eine Weihnachtsbotschaft gewinnen? Es gibt nur einen Weg: Sich auf eine große Herausforderung einzulassen. Aber an ihr hängt alles. Nur alle diejenigen, die diese Herausforderung wahrnehmen und akzeptieren, ja: in der Tiefe ihrer Existenz für wahr halten – wir sagen da traditionell „glauben“ –, nur alle diejenigen können die Bedeutung von Weihnachten „verstehen“, können mit dem Kaufhausbesitzer von Singapur sagen: „Even wise men seek Jesus“ – „Sogar, gerade weise Männer suchen Jesus“. Es sind alle diejenigen,  die den Gekreuzigten als den Auferstandenen glauben:

                        „Fürchtet euch nicht! Ich weiß nämlich, dass Ihr Jesus, den Gekreuzigten sucht.

                        Nicht ist er hier.

                        Auferweckt ist er, wie er gesagt hat!“ (Matthäus 28,5b-6a).

 

Von Ostern her kann uns Weihnachten werden! Klammern Sie sich auch 2018 und 2019 an diesen Glauben! Er lässt uns unser Leben bestehen. Selbst in dieser Welt der Joche und der blutigen Mäntel bestehen. Von Ostern her können wir zu Weihnachten unsere Glaubensgewissheit zum Ausdruck bringen – wie ich dies jetzt mit einigen Worten eines Liedes im Gesangbuch der Brüdergemeine andeuten will:                  „Friede, den kein Sturm zerstört,

                                    Wort, das unsre Worte hört,

                                    Wahrheit, die an Blinde denkt,

                                    Liebe, die sich selbst verschenkt,

                                    Himmel, der die Erde liebt [...].

                                    Lobt die Macht, die sich verneigt.

                                    Lobt den Himmel, der nicht schweigt.

                                    Lobt das Licht, in uns entfacht.

                                    Licht aus Licht in unsrer Nacht“ (Georg Schmid).

Amen.

 

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!“



Dr. Rainer Stahl
Erlangen, Bayern, Deutschland
E-Mail: rainer.stahl.1@gmx.de

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