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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

17. Sonntag nach Trinitatis, 13.10.2019

Vorläufig keine bleibende Stadt
Predigt zu Josua 2:1-21, verfasst von Ulrich Knellwolf

Liebe Gemeinde,

Dies ist eine sehr alte Geschichte, aber sie handelt von uns. Denn wir suchen, ob wir’s wissen und zugeben oder nicht, die bleibende Stadt. Aber wir finden hier keine. Die Welt, in der wir leben, ist nicht als bleibende Stadt, sondern als vorläufige, provisorische Unterkunft gedacht.

Wir sind Nomaden. Solange wir sterben müssen, sind wir Nomaden, die keine bleibende Stadt haben, jedoch unentwegt von der bleibenden Stadt träumen. Und meinen wir, sie gefunden zu haben, werden wir alsbald enttäuscht. Wie die Stammesmutter meines jüdischen Freundes Ruben, die mit Josua und dem ganzen Volk Israel durch den Jordan ins Gelobte Land ging. Als sie im Gelobten Land angekommen sei, erzählt Ruben, habe sie umhergeschaut und nach einer Weile gerufen: «Ist das alles?»

Wir sind Nomaden; wir haben hier keine bleibende Stadt. Und fantasieren doch, es müsse gelingen, eine zu bauen. Die Leute von Babel versuchten es mit ihrem Turm. Die Leute von Jericho, das schon achttausend vor Christus eine feste Stadt war, meinten, sie hätten es geschafft und seien sicher hinter ihren Mauern. Die Kommunisten behaupteten so lange, ihre Gesellschaftsform sei das Arbeiter- und Bauernparadies, bis sie in Ruinen sassen, die wie Kartenhäuser über ihnen zusammenstürzten. Die Kapitalisten tun immer noch so, als gelinge ihnen übermorgen die bleibende Stadt, das Paradies für alle, und beweisen doch zunehmend deutlicher, dass es nicht funktioniert, weil die Ressourcen der Erde endlich sind. Das sieht die aufgebrachte Klimajugend richtig.

Aber die jungen Leute wollen die Welt als eine bleibende erhalten – und die Kirchen machen in grosser Naivität mit und reden vollmundig von der Bewahrung der Schöpfung. Es gibt für eine seriöse christliche Theologie nur einen, der die Schöpfung bewahren kann. Das ist der Schöpfer selbst, indem er ihr täglich neue Lebensmöglichkeiten öffnet und sie vor dem Sturz ins Verderben bewahrt. Denn die Schöpfung regeneriert sich nicht selbst; sie lebt nicht aus sich selbst. Sie ist kein perpetuum mobile. Wer die Bewahrung der Schöpfung als Menschenaufgabe formuliert, erzählt das Märchen vom Baron Münchhausen, der sich am eignen Zopf auf dem Sumpf zieht.

Wir Menschen sind, ob’s uns gefällt oder nicht, die Verbraucher und nicht die Bewahrer der Schöpfung. Das unterstreicht die biblische Schöpfungsgeschichte, wenn sie Gott zu den Menschen sagen lässt: «Macht euch die Erde untertan.» (1. Mose 1, 28) Das heisst nichts anderes als: «Braucht sie; verbraucht sie.» Die Voraussetzung dafür ist Gottes Ansage: «Seht, ich schaffe Neues.»

Wobei ich immerhin betonen will, dass zwischen Verbrauchen und Vergeuden ein Unterschied ist. Wer vergeudet, missachtet das Wunder der Schöpfung.  Aber auch wer nicht vergeudet, verbraucht. Einfach dadurch, dass er lebt. Doch verbraucht er, was ihm zum Leben notwendig ist, in fröhlicher Dankbarkeit, da er’s nicht selbst erschaffen kann. Denn – noch einmal – die Ressourcen der Erde sind endlich. Wenn ihr nicht tagtäglich neue Energie zugeführt würde, wäre die Erde längst dahin. Wenn die Sonne sich eines Tages nicht mehr für sie verausgaben kann, ist es mit der Erde aus. Es sei denn, der Schöpfer habe eine neue Lebensidee.

Wir haben hier keine bleibende Stadt. Aber wir suchen sie. Solange wir sterblich sind, sind wir Nomaden. Nomaden träumen von der goldenen Stadt, in der sie für ewig sesshaft bleiben können und mehr als genug zum Leben haben, ohne dass die Ressourcen dahinschwinden. Aber wenn die Nomaden die ewige Stadt zu bauen unternehmen, fallen ihnen die Mauern alsbald auf den Kopf. Es braucht dazu, wie die Fortsetzung der Jerichogeschichte zeigt, nicht mehr als den durchdringenden Ton von ein paar Hörnern. Eine Woche lang umkreisten die Israeliten die Mauer von Jericho, jeden Tag sechsmal, an der Spitze des Zuges sieben Priester, die in Widderhörner bliesen, deren Ton dem von Posaunen gleicht. Am siebten Tag zogen die sieben blasenden Priester siebenmal um die Stadtmauer, und beim siebten Mal fiel die Stadtmauer in sich zusammen.

Das ist realistischer, als man meinen würde. Vor Jahrzehnten habe ich mit den Zolliker Sonntagsschülern diese Geschichte gespielt. Die Kinder waren das Volk Israel; die ersten sieben bekamen alte Feuerhörner aus dem Magazin der Feuerwehr. Beim Einzug in die Kirche bliesen sie sich fast die Seele aus dem Leib. Das war so durchdringend, dass die ganze Gemeinde den Kopf einzog vor Angst, das Kirchendach breche auseinander. Seither bin ich überzeugt, dass das angebliche Wunder von Jericho eine wirklichkeitsnahe Geschichte ist. Die stärksten Mauern halten dem furchterregenden Ton von Posaunen nicht stand, weil die Seelen der Menschen innerhalb der Mauern der Angst nicht standhalten, die die Posaunen wecken.

Am Abend des siebenten Tages waren Jericho erobert, seine Bewohner erschlagen und die Eroberer sassen auf den Trümmerhaufen. Die Hoffnung der Sieger, nach dem langen Marsch durch die Wüste endlich in der festen Stadt anzukommen, war zunichte. Nun waren sie zwar in dem Land, aber sie waren immer noch ohne festen Wohnsitz. Ewige Wohnung hatten sie erstrebt und zu erobern versucht, jedoch nicht erreicht. Am Ende jenes siebten Tages waren nicht nur die Bewohner von Jericho Verlierer, sondern auch die angeblichen Sieger.

Deren Verlust beginnt bereits mit der früheren Geschichte, der von den israelitischen Kundschaftern, die Jericho ausspähten. Schon das war eine zwiespältige Sache. Nach menschlichem Ermessen versperrten die Mauern von Jericho den Eingang ins Gelobte Land und waren nur durch Bestechung und Verrat zu bezwingen. Wo aber wäre der Boden fruchtbarer für Bestechung und Verrat als im Rotlichtmilieu? Denn wenn jemand weiss, dass wir hier keine bleibende Stadt haben, dann die Leute, die ihr Leben im Dunkeln verdienen. Meistens nicht, weil sie wollen, sondern weil ihnen nichts anderes übrigbleibt. Sie zählen nicht zu den alteingesessenen Bürgern; sie haben kein verbrieftes Wohnrecht; sie sind bloss geduldet und werden im Notfall als erste vertrieben. Darum sind sie bereit, für die Zusicherung von Überleben, Obdach, Schutz und Bleiberecht sich selbst zu verkaufen wie Dirnen und Callboys und ihre Nächsten zu verraten wie Zuhälter.

Im Rotlichtquartier der festesten Stadt zeigt sich, wie brüchig unsere Sicherheit hinter den stärksten Mauern ist, weil wir eben keine bleibende Stadt haben, sondern Nomaden sind. Dafür steht der rote Faden, den die Dirne Rachab in Jericho ans Fenster band, das Zeichen für die erobernden Israeliten: Hier wohnt die Verräterin, die euch das Türchen oder das Fenster in der Stadtmauer öffnet. Aber auch eine Mahnung an Israel ist dieser rote Faden: Bildet euch nicht ein, hier findet ihr eine bleibende Stadt. Rot, die Farbe von Macht und Gewalt, die Farbe des Blutes, die Farbe von Mord und Totschlag, die Farbe des Verbotenen und des Verrates, die Farbe der Schande. Eroberung ist immer Triumph. Aber Triumph geht unter den Bedingungen dieser vorläufigen und unvollkommenen Welt niemals ab ohne die Begleiterscheinungen von Verrat, Schande, Totschlag. Wie könnte das ein gesundes Fundament für eine bleibende Stadt, für das Paradies auf Erden, für das Reich der Menschen sein?

Es hat noch keinen Frieden gegeben ohne vorgängigen Krieg. Aber durch den Krieg ist der Friede von vornherein beschmutzt und brüchig. Durch Eroberung wird die Stadt, die die bleibende werden soll, zum Trümmerhaufen gemacht. Es gelingt uns nicht, die bleibende Stadt zu bauen oder zu erobern. Es gelingt uns nicht, das Paradies einzurichten. Das sagt die Bibel. Und das sollten wir uns hinter die Ohren schreiben.

Für ein wenig mehr Gerechtigkeit einstehen ist vernünftig. Für ein Stücklein mehr Frieden besorgt sein ist gut. Aber den ewigen Frieden einrichten wollen, die globale Gerechtigkeit, die Bewahrung der Schöpfung – das ist eine groteske Fehleinschätzung unserer Möglichkeiten. Jedoch eine starke Versuchung. Umso mehr, als wir inzwischen in einer globalisierten Welt leben. Die Welt ist ja im Begriff, eine einzige riesige Agglomeration zu werden. Agglomerationen sind bekanntlich die schwierigsten Quartiere, die unübersichtlichsten Lebensräume, die Brutstätten von Gewalttat und Recht des Stärkeren. Am Unternehmen, da für immer gültige Ordnung und bleibende Wohnung zu schaffen, können wir nur grandios scheitern. Josuas Unternehmen, das Gelobe Land einzurichten und zur ewig sicheren Wohnung zu machen, ist grandios gescheitert. Davon erzählt die weitere Geschichte Israels über David und Salomo hinaus bis zum heutigen Tag. Und sie gilt exemplarisch für alle Völker.

Ich weiss, dass das ernüchternd klingt. Jedoch muss Ernüchterung nicht im Katzenjammer enden. Denn Nüchternheit verliert nicht den Lebensmut, wenn ihr trotz Einsicht in die begrenzten eigenen Möglichkeiten eine glaubwürdige grossartige Perspektive geöffnet ist. Von dieser grossartigen Perspektive redet die Bibel des Alten und Neuen Testaments, redet Israel, reden wir Christen unausgesetzt. Oder sollten unausgesetzt davon reden, uns selbst und aller Welt zugut.

Der am deutlichsten von der uns geöffneten grossartigen, globalen Perspektive redete, war Jesus von Nazareth, den wir den Christus nennen, und von dem wir unsern Christennamen haben, weil er uns diese Perspektive geöffnet hat mit seiner Ankündigung: «Das Reich Gottes ist im Kommen. Gott ist mit seiner Schöpfung noch nicht fertig.»

Christus nennen wir ihn. Das heisst: der gesalbte Gottesbote. Der Bote Gottes, dessen Botschaft durch seine Salbung den Ausweis der Glaubwürdigkeit bekommt. Was ist denn die Salbung, die Jesus von Nazareth als Gottesboten ausweist, der unseren Glauben, unser Vertrauen verdient? Es ist sein Tod am Kreuz.

Uns allen, die wir mit Macht und List, mit Gewalttat und Hinterlist, mit Eroberung und Krieg, mit Mord und Totschlag eine bleibende Stadt für uns einzurichten versuchen und daran grandios scheitern – uns allen ruft er zu: «Hört, das Reich Gottes ist im Kommen!  Die Herrlichkeit Gottes, die eure Herrlichkeit sein wird, eure Befreiung aus Sklaverei und Elend, eure Erlösung aus der Knechtschaft von Unrecht, Krankheit und Tod – sie ist im Entstehen. Gott, der Erfinder und Erschaffer des Lebens ist dabei, sie zu verwirklichen.»

Nicht verwunderlich, dass die Herrschenden das nicht hören wollten, weil sie um ihre Herrschaft fürchteten. Nicht erstaunlich, dass die Reichen das nicht hören wollten, weil sie Angst hatten, ihren Reichtum zu verlieren. Begreiflich, dass wir alle das nicht hören mögen, weil wir alle in irgendeiner Weise mächtig und reich sind und solang wir’s sind. Aber wenn wir arm und gering und ohnmächtig sind – und auch das sind wir alle – dann merken wir: Die stärkstmögliche Bekräftigung eines Versprechens ist, dass der, der’s gibt, mit seinem Leben dafür einsteht, bis zum Tod. Eben das hat Jesus von Nazareth getan. 

Niemand sage, das sei Resignation! Und niemand behaupte, das sei Vertröstung aufs Jenseits und die Einladung, die Hände in den Schoss zu legen. Im Gegenteil! Es ist die Einladung, an unserm kleinen Ort für ein bisschen mehr Gerechtigkeit und Frieden einzustehen. Für ein Stücklein mehr Sorgfalt beim Verbrauchen der Schöpfung – im Hinblick darauf, dass der Schöpfer das Werk seiner Hände nicht fahren lässt, sondern uns und alle Kreatur zu Heil und Leben führt.

Amen



Pfr. Dr. Ulrich Knellwolf
Zollikon, Schweiz
E-Mail: ueknellwolf@bluewin.ch

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