Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag nach dem Christfest, 29.12.2019

(K)eine Kapitulation
Predigt zu Hiob 42:1-6, verfasst von Thomas Bautz

Bibelzitate meist nach Zürcher Bibel (2007)

Liebe Gemeinde!

Das Hiob-Buch ist nach seiner Hauptfigur „Hiob“ benannt; der Name lässt Verschiedenes assoziieren: „wo ist der (göttliche) Vater?“, oder weil im Hebräischen das Wort „Feind“ mitklingt, bietet sich der Name als „Programmname“ für das ganze Buch Hiob an: „der (von Gott“) Angefeindete“. Natürlich entsprechen diesen Assoziationen keine abgesicherten philologischen Deutungen; dennoch nehmen sie schon zentrale Themen der Rezeptionsgeschichte vorweg.[1]

Kaum eine Figur hat die außertheologische Literatur-, Kunst- und Philosophiegeschichte so geprägt oder beeinflusst wie Hiob, und kaum ein Problem aus der hebräischen Dichtung und Erzählwelt hat theologisches und philosophisches Denken derart beschäftigt wie das Hiobproblem.[2] Sprachlich ist uns allen bis heute die sog. Hiobsbotschaft geläufig, und niemand möchte sie empfangen. Aber das Leben ist oft grausam: Da stirbt einem das Kind weg. Ein Ehemann verliert seine Frau beim Unfall mit dem Auto. Im Freundeskreis wird jemand von einer unheilbaren Krankheit befallen. Ein Familienvater wird seiner Familie durch plötzlichen Tod entrissen; die Ehefrau und Mutter steht mit drei Kindern allein da. Die Großeltern sind aufgrund von Altersdemenz im Pflegeheim und nicht mehr ansprechbar.

Wer in einem der reichsten Länder der Welt mit hoher sozialer Absicherung und einem Grundgesetz mit vielen Freiheitsrechten lebt, leidet anders als Menschen in Ländern, wo Hunger, Unterdrückung, Terror und Gewalt herrschen. Dort geht es täglich ums Überleben. Bei uns stellt sich die Frage, wie jemand, der oder die knallhart von einer Hiobsbotschaft ereilt wird, in einer materiell orientierten Gesellschaft behandelt wird. Wird dieser Mensch zum Problem? Wird er noch geliebt oder nur noch bemitleidet? Wie wird der oder die Leidende sich selber sehen? Wie geht dieser Mensch mit einer lebensbedrohlichen Krankheit um? Wie verkraftet er den Verlust des Lebenspartners oder eines Kindes? Wie kann ein Mensch weiterleben, dem beruflich wie privat alles Wichtige wegbricht?

Sprachlich, aber vor allem inhaltlich verdanken wir die Ankündigung eines Unglücksszenariums der Figur des Hiob; mit ihm und seiner leidvollen Existenz mögen wir uns heute beschäftigen. Allerdings ist im Hiob-Buch noch ein anderer Aspekt wirksam, nämlich die bissige Auseinandersetzung  mit den damaligen Vorstellungen von „Gott“ und dem Verhältnis zwischen Mensch und „Gott“. Man meinte, von dem Ergehen eines Menschen auf dessen vorausgegangenes Handeln schließen zu dürfen.

Wenn jemand von einem bösen Schicksal – von schlimmer Krankheit, vom plötzlichen Verlust in der Familie oder überraschender Arbeitslosigkeit – getroffen wurde, hatte er sich irgendwie „versündigt“. Die Gottheit musste ihn bestrafen oder setzte all das als Erziehungsmittel[3] ein. Die Vergeltung durch „Gott“ wäre aber stets gerechtfertigt, die Strafe befristet und der Mensch könnte durch „Buße“ oder Umkehr die Gottheit wieder gnädig stimmen.[4] Beliebt ist (bis heute) auch das Scheinargument von der Nichterklärbarkeit der „Wege Gottes“ oder des göttlichen Handelns bzw. Nichthandelns. Aber auch dann oder gerade deshalb bleibt bei dem Betroffenen ein bitterer Beigeschmack: Habe ich mir womöglich doch etwas zu Schulden kommen lassen?!

Man kann natürlich auch materiellen Reichtum, Wohlergehen der Familie und eigene Gesundheit als einen Segen des Schöpfers betrachten, und wenn jemand gottesfürchtig, gerecht und ohne Tadel ist, ob dieses gelingende, glückende Leben einfach ein Geschenk, eine Belohnung „Gottes“ darstellt, oder ob die Gottesfurcht dieses Menschen „nur“ eine Folge seiner reich beschenkten Existenz ist. In der Vorgeschichte des Hiob-Buches ersinnt der Erzähler mythologisch ein Gespräch zwischen dem Widersacher oder Widergeist (Satan) und „Gott“, worin Satan die perfide Frage stellt, ob Hiob nicht nur deshalb so gottesfürchtig sei, weil er doch ein außerordentlich gutes, sorgenfreies Leben führt. Wenn man (bzw. „Gott“) ihm aber Besitz, Reichtum und Familie nähme, würde sich Hiob sicher von seinem Glauben verabschieden und „Gott“ als Schöpfer und Allherrscher verleugnen.[5]

Der konstruierte Tun-Ergehen-Zusammenhang[6] wird im Hiob-Buch betont zur Sprache gebracht. Es räumt damit auf, dass ein solches Konstrukt angeblich mit den Aspekten Vergeltung und Strafe zu verrechnen wäre. Die kritische Weisheit des Hiob-Buches problematisiert das Konzept gelingenden oder misslingenden Lebens,[7] indem sie angesichts widersprüchlicher Erfahrungen um Orientierung ringt. Dabei werden traditionelle Gottesbilder teils modifiziert, teils ganz in Frage gestellt. Die Kritik – dies ist ein entscheidender Punkt – erwächst nicht aus theoretischem Interesse oder intellektuellem Gehabe; der immense Verlust Hiobs lässt sich nicht mehr aus dem Tun-Ergehen-Zusammenhang erklären oder gar bewältigen:[8]

Der weise, gerechte und unschuldige Hiob erleidet einen massiven Eingriff in sein Leben; er verliert seinen Viehbestand, seine Knechte, seine Kinder und seine körperliche Unversehrtheit. Bußfertig und doch mit Gleichmut reagiert er auf die schrecklichen, undenkbaren Ereignisse (Hi 1,20–22; 2,10b):

„Da stand Hiob auf und zerriss sein Gewand und schor sein Haupt, und er ließ sich zur Erde sinken und warf sich nieder und sprach: Nackt bin ich gekommen aus dem Leib meiner Mutter, und nackt gehe ich wieder dahin. JHWH hat gegeben, JHWH hat genommen, der Name JHWH sei gepriesen. Bei alldem sündigte Hiob nicht, und er sagte nichts Törichtes gegen Gott. – Das Gute nehmen wir an von Gott, und das Böse sollten wir nicht annehmen? Bei alldem sündigte Hiob nicht mit seinen Lippen.“

Dieser vergleichsweise noch zurückhaltenden, gemäßigten Reaktion steht dann aber Hiobs massive Klage gegenüber; sie beginnt mit der Verfluchung seiner Geburt und wird vom Erzähler keineswegs nur in einem Satz, sondern in einem poetisch anmutenden Text zum Ausdruck gebracht (aus Hi 3):[9]

„Danach tat Hiob seinen Mund auf und verfluchte seinen Tag. Und Hiob begann und sprach: Getilgt sei der Tag, da ich geboren wurde, und die Nacht, die sprach: Ein Knabe ist empfangen worden. Jener Tag werde Finsternis, Gott in der Höhe soll nicht nach ihm fragen, und kein Lichtstrahl soll auf ihn fallen. Unfruchtbar sei jene Nacht, kein Jubel kehre bei ihr ein. Denn sie hat mir die Pforte des Mutterleibs nicht verschlossen und vor meinen Augen das Leid nicht verborgen. Warum durfte ich nicht umkommen im Mutterschoss, (oder) aus dem Mutterleib kommen und sterben? Oder ich wäre dahin wie eine verscharrte Fehlgeburt, wie Kinder, die nie das Licht erblickten.

Warum gibt er dem Leidenden Licht und Leben denen, die verbittert sind, die sich sehnen nach dem Tod, doch er kommt nicht, und nach ihm suchen, mehr als nach Schätzen, die sich freuen würden und jubelten, die frohlockten, wenn sie ein Grab fänden (…).“

Es entspräche nun einer billigen, allzu vereinfachten Rhetorik, wollte man fragen, welche Reaktion Hiobs glaubwürdiger ist: Wenn er kapituliert, an seiner lebenslang praktizierten Frömmigkeit festhält und sich vor seinem Schöpfer in den Staub wirft, Buße tut, obwohl er unschuldig ist? Oder will der Erzähler den Lesern den Weg der Rebellion aufzeigen, indem er hier und mit dem Tenor des Buches insgesamt die Figur eines Rechtschaffenen, eines Frommen, eines Gläubigen uns vor Augen malt, der mit den Gottesbildern und der Beziehung zwischen „Gott“ und Mensch radikal aufräumt.

Nicht Tradition, sondern Provokation lautet das Programm Hiobs! Nicht Hingabe, sondern Aufruhr! Und wer wollte es ihm verdenken? Das Buch Hiob ist eine Ermutigung zur Klage.[10] Es zeigt, wie ein Mensch auf seiner Rechtfertigung beharrt; es führt vor Augen, wie Hiob insistiert, dass er schuldlos leiden muss. Seine Schuldlosigkeit ist aber nicht absolut gemeint; doch vertritt er den Standpunkt, dass es dem „Menschenhüter“ („Gott“) nicht schadet, wenn Hiob einmal das Ziel verfehlt (sündigt).[11] Außerdem steht er zu seiner naturgemäßen, kreatürlichen Unvollkommenheit, die zu leugnen ja auch völlig sinnlos wäre, aber deshalb bestünde noch kein Zwang zur Zielverfehlung (Sünde), so dass eine Gottheit oder gar JHWH im Zorn die Existenz eines Menschen zerstören müsste.

Er rebelliert gegen Gottesbilder, die ihm wohl von Kindesbeinen an eingetrichtert wurden. Vielleicht hat er gar nicht persönliches Glück und Wohlstand als Folge seiner Gottesfurcht angesehen; vielleicht hat er sein segensreiches Leben in Wahrheit als Gnade eines barmherzigen und überaus großzügigen „Gottes“ betrachtet.

Wie undenkbar und unbegreiflich musste es ihm dann erscheinen, als eine leidvolle Katastrophe nach der anderen über sein Leben hereinbrach! Der „Gott“, der ihn reichlich beschenkt hat, nimmt ihm auf grausame Weise nun alles, was er hat, bis auf sein eigenes Leben. Dafür quält er aber seinen Körper aufs Äußerste. Das ungerechte, widersprüchliche Schicksal Hiobs zwingt nun den Leser, wenn er sich ganz auf die Erzählung einlässt, seine eigenen Gottesbilder zu überdenken. Das Buch bietet folgende Entwürfe oder Modelle von „Erfahrungshorizonten“, die mit Vorstellungen von „Gott“ korrelieren:[12]

Die Nähe Gottes, die als lebensfördernd, aber auch als lebensbedrohlich erfahren wird; die Macht Gottes, die als chaosbezwingend und als lebenszerstörend empfunden wird, Letzteres im Falle Hiobs, der auch an der eigenen Ohnmacht gegenüber dem sich ihm entziehenden Gott leidet; der Umgang Gottes mit dem Recht, der als berechenbar, aber auch als willkürlich erfahren wird, Letzteres im Falle Hiobs, der sein Leiden als Rechtsbruch Gottes und als Aufkündigung der Solidarität des Schöpfers mit

seinem Geschöpf versteht. Möge nochmals „Hiob“ selbst zu uns sprechen (aus Hi 19):

„Erkennt doch, dass Gott mir Unrecht getan (…)hat. Und seinen Zorn ließ er gegen mich entbrennen und behandelte mich wie seinen Feind. Meine Brüder hat er mir entfremdet, und die mich kennen, haben sich abgewandt von mir. Meine Verwandten und Vertrauten halten sich fern, vergessen haben mich, die in meinem Hause Gast waren, und meine Mägde halten mich für einen Fremden, ein Unbekannter bin ich nun in ihren Augen. Alle meine Vertrauten verabscheuen mich, und die ich liebte, haben sich gegen mich gewandt. Ich bin nur noch Haut und Knochen, und die Haare fallen mir aus. Habt Erbarmen, Erbarmen mit mir, meine Freunde, denn Gottes Hand hat mich geschlagen.

Ich aber weiß: Mein Anwalt lebt, und zuletzt wird er sich über dem Staub erheben. Und nachdem meine Haut so zerschunden wurde, werde ich Gott schauen ohne mein Fleisch. Ich werde ihn schauen, und meine Augen werden ihn sehen und niemand sonst. In meinem Innern verzehren sich meine Nieren.“

Hiob gerät in die totale soziale Isolation. Doch ähnlich wie ihn das Hiob-Buch am Anfang scheinbar gelassen reagieren lässt, wächst er nun vollends über sich hinaus und schleudert seiner Umgebung entgegen: Er weiß, dass sein Anwalt lebt, der sich über all das Elend und Leid erheben wird; Hiob wird sogar – ungeachtet seiner körperlichen Verfassung („ohne sein Fleisch“) – „Gott schauen“. Man mag sich an ein Psalmwort erinnern (Ps 17,15): „Ich aber will als Gerechter dein Antlitz schauen, mich beim Erwachen sättigen an deiner Gestalt.“

Im Alten Orient, auch in Israel entwickelt Glaube seine Reife, sein Glück und seine Überzeugungskraft im Schauen. „Nachdem JHWH sich ihm direkt zugewendet hat“, kann Hiob sagen (Hi 42,5): „Nur vom Hörensagen habe ich dich gekannt, jetzt aber hat mein Auge dich gekannt.“[13] Oberflächlich gesehen erscheint Hiobs Aussage als ein Bekenntnis; sie kann aber auch bedeuten: Nun erkenne ich dich, wie du wirklich bist, nämlich grausam und ungerecht.

Hiob bleibt bei seiner Auffassung und Selbsteinschätzung: Er ist unschuldig und hat zu Unrecht so furchtbar gelitten. Bei dem Gedanken an Buße empfindet er starken „Widerwillen“; er will davon nichts wissen. Er bereut nichts von dem, was er in seinen Reden gesagt hat. Er bleibt konsequent. Hiob entscheidet sich „bewusst gegen Gott und seine Reden“. Er kommt zu dem Schluss: „Gott“ ist vielleicht allmächtig, aber keineswegs gerecht.[14]

Auch wenn im Laufe der Überlieferung manches geglättet wird, insgesamt hat das Hiob-Buch seine ursprüngliche Schärfe behalten: Eine Gottheit, die mit einer absolut destruktiven, perfiden Macht eine Wette, einen gefährlichen Handel eingeht, um einen rechtschaffenen, gläubigen Menschen als Testperson auf Herz und Nieren zu prüfen. – Einen Hiob, der zunächst tradierten Gottesbildern und dem propagierten Verhältnis zwischen Gott und Mensch vertraut, dann aber zu Besinnung kommt. Er kapituliert nicht, fügt sich nicht in sein Leid, sondern findet noch Kraft und Mut, den sog. Tröstern und „Gott“ nach allen Regeln der Kunst zu widersprechen. Er gibt der Wut und Enttäuschung Raum.

Es ist zwar in der hebräischen Bibel kein gänzlich ungewöhnlicher Gedanke, ob es „Gott“ gereut,[15] Unheil über Menschen zu bringen, damit sie zu ihm umkehren. Doch in sehr viel stärkerem Maße wird nach der Bußfertigkeit des Menschen, nach seiner Reue gefragt. Dieses Thema wird auch bei Hiob angesprochen: Zeigt Hiob Reue? Ist er bußfertig?[16] Und aus welchem Grunde überhaupt? Die ältere und neuere Forschung und entsprechende Übersetzungen haben die letzten Worte Hiobs so aufgefasst, dass der rebellische Hiob wieder als gezähmter, frommer Leidender dasteht, was sich im Extrem oder abgemildert so anhört (Hi 42,5–6): „Darum verwerfe ich mich und bereue (…).“[17] „Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße (…).“[18] „Darum verwerfe ich (widerrufe ich) und ändere meine Einstellung (…).“[19] „Drum leiste Widerruf ich und bereue (…).“[20] „Darum gebe ich auf und tröste mich (…).“[21]

Der Schluss der letzten Hiobrede „läuft dem Duktus der Hiobdichtung vollends zuwider“; provokant gesprochen: Der Dichter hätte sich die Mühe der kunstvoll ausgearbeiteten Dialoge sparen können, wenn er sie zuletzt im Munde der Hauptfigur in Abrede stellt oder verleugnet.[22] Einmal abgesehen von sprachlicher Mehrdeutigkeiten, sind die Endredaktion des überlieferten Textes wie auch viele Übersetzungen sehr stark mit theologischen Interpretationen verbunden. So ist es auch anderen Texten ergangen, die auch einige „anstößige“ Passagen oder sogar provozierende Kapitel enthalten, man denke nur an das weisheitliche Buch Kohelet (Prediger) mit der mehrfach wiederkehrenden Aussage: „Alles ist sinnlos (eitel, nichtig).“

Die Bedeutung des Hiob-Buches liegt u.a. darin, den Leser befreien zu wollen von herkömmlichen Gottesbildern, ihn zu lösen von pseudoreligiösen Verkrampfungen, die Herz und Verstand fest im Griff haben und ihm nahezu den Atem zum Leben nehmen. Das Buch will durch die Figur des Hiob ermutigen zur Klage, denn vieles, was dem Menschen geschieht, ist mehr als beklagenswert.

Sind wir als moderne Menschen nicht die idealen Adressaten dieser „Hiobsbotschaft“, wenn sie das Wortspiel einmal gestatten? Dürfen wir überhaupt noch klagen? Erlauben wir uns selbst noch das Klagen und Beklagen? Sagen wir nicht eher: Ich will nicht klagen; man soll nicht klagen? Warum denn nicht? Weil wir immer funktionieren müssen; weil wir uns nichts anmerken lassen dürfen oder wollen. Krankheit, Verlust, Missgeschicke, jegliches Unglück werden häufig verschwiegen, unter den Teppich gekehrt, sogar im größeren Familien- und manchmal gar im Freundeskreis. Es ist uns womöglich peinlich, wenn es uns so richtig schlecht geht. Und wir wollen auch nicht jammern. Aber Jammern heißt nicht Klagen. Und wir dürfen und sollen klagen, weil sich sonst die Psychosomatik regen könnte und wir vielleicht noch Schlimmeres erlitten. Wir müssen uns Luft schaffen, wieder durchatmen.

Der uns vor Augen gemalte Hiob ist alles andere als ein Jammerlappen. Er schickt sich nicht drein; er resigniert nicht; er kapituliert keineswegs. Wäre diese Hauptfigur des Hiob-Buches ein Mensch aus Fleisch und Blut, würde man ihm sicher mit aller Hochachtung und Ehrerbietung begegnen und sich fragen, ob man diese ungeheure Kraft aufbrächte, um all das Leid zu ertragen, dem dieser Mensch ausgesetzt war. Möge aber auch der literarische Hiob uns dazu anregen, ermutigen, provozieren, dass wir wieder einmal oder ganz neu mit unseren erworbenen Gottesbildern in die Tiefe gehen und uns von den Fesseln trügerischer Bilder befreien (lassen).

Es ist schon qualvoll genug, an einer unheilbaren oder langwierigen Krankheit zu leiden oder am Verlust eines geliebten Menschen; es ist in einer geldorientierten, geldliebenden Gesellschaft schon unzumutbar genug, wenn man seine Arbeit verliert und man deshalb ein schlechtes Gewissen entwickelt. Es ist schrecklich genug, wenn einem beträchtlicher materieller Schaden entsteht und eine Versicherung eben nicht alles ersetzen kann. Was hat „Gott“ mit unserem Leid zu tun? Man mag mit „Hiob“ antworten: „Genug davon. Ich empfinde Widerwillen, davon will ich nichts wissen!“[23]

Es hat auch wenig Sinn, danach zu fragen, ob eine Gottheit dem Menschen Leid schickt oder es ihm gar verordnet, oder ob „Gott“ dem Menschen im Leiden besonders nahe ist – dann aber nicht derart, dass er eingriffe oder auch nur Schmerzen lindert. Wenn es darauf ankommt, bleibt der Mensch doch auf sich selbst gestellt. Ketzerisch gesprochen: Wollte man alles Leiden Unschuldiger auf einen Punkt komprimieren und dem sog. Allmächtigen aufbürden, würde dieser zu einem Nichts gepresst. Sollten wir nicht genau das zutiefst beklagen, dass „Gott“ überhaupt Menschen, auch sehr viele Kinder, so leiden lässt, indem er sich nicht um uns schert?! Oder wir befreien uns von diesem Gottesbild!

Freilich gibt es Menschen, die mit den alten Gottesbildern leben können, die sich sogar getröstet wissen und gestärkt fühlen „in der Gegenwart Gottes“. Wie würde ein Hiob darauf reagieren? Wäre er verwundert? Würde es seine kritische Haltung mindern? Wohl eher nicht. So macht auch jeder von uns seine eigenen Erfahrungen und bedient sich verschiedener Deutungshorizonte.

„Hiob“ aber lädt zur Klage ein: Wage zu klagen! (Horaz, Kant: Wage zu denken. Sapere aude!)

Amen.

 

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[1] Markus Witte: Hiob / Hiobbuch (2007), S. 1, in: WiBiLex, bibelwissenschaft.de/stichwort/11644

[2] Cf. TRE 15 (1986), Art. Hiob/ Hiobbuch, 360–380 (Jürgen Ebach): 361 u. 370.

[3] Als Negativbeispiel, s. Benedikt Peters: Das Buch Hiob. „Warum müssen die Gerechten leiden?“ (2002), 355.

[4] Cf. Witte: Hiob / Hiobbuch (2007), S. 4.

[5] Cf. Predigt des Vf. über Hiob 23: Was lehrt uns Hiob? (11. So. n. Trinitatis, 01.09.2019).

[6] Cf. Georg Freuling: Tun-Ergehen-Zusammenhang (2008), in: WiBiLex, bibelwissenschaft.de/stichwort/36298

[7] Cf. Freuling: Tun-Ergehen-Zusammenhang (2008), 1.

[8] Cf. Freuling: Tun-Ergehen-Zusammenhang (2008), 7; Felix Gradl: Das Buch Ijob, Neuer Stuttgarter Kommentar. AT 12 (2001): Der Tun-Ergehen-Zusammenhang oder Jeder ist seines Glückes Schmied, 81–82.

[9] Intertextuelle Bezüge: Krüger/ Oeming/ Schmid/ Uehlinger (Hg.): Das Buch Hiob und seine Interpretationen, AThANT 88 (2007): Innerbiblische Schriftdiskussion im Hiobbuch (Konrad Schmid), 241–261: 244–251.

[10] Cf. Navid Kermani: Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (2005): (4.) Aufstand gegen Gott, 150–217): Das Hiob-Motiv, 150–162: 151ff.

[11] Hi 7,20a); zum Wandel der Begriffe Schuld, Sünde, Frevel (o.ä.) in der Theologie der hebräischen Bibel, Victor Maag: Hiob. Wandlung und Verarbeitung des Problems in Novelle, Dialogdichtung und Spätfassungen, FRLANT 128 (1982): (III.) Die Hiob-Dichtung (91 – 193): Hiob, 155–193: 155–159 u. passim.

[12] Cf. Witte: Hiob / Hiobbuch (2007), S. 14.

[13] Silvia Schroer/ Thomas Staubli: Die Körpersymbolik der Bibel (1998): (5.) „Sie haben Augen und sehen nicht“ (115–135): Der Glaube kommt (auch) vom Sehen, 123–128: 123f.

[14] Manfred Oeming/ Konrad Schmid: Hiobs Weg. Stationen von Menschen im Leid, BThSt 45 (2001): (6.) Das Ziel (Manfred Oeming), 121–142: 128–129. Wegen dieser Übertragung von Hi 42,6 fällt auch auf V. 5 ein anderes Licht als gewohnt.

[15] Cf. z.B. Jer 26,13; Jona 3,9; Joel 2,14.

[16] S. Das Buch Hiob und seine Interpretationen (2007): Did Job Repent? (Thomas Krüger), 217–229.

[17] Peters (2002), 356; Peters zeichnet dann prompt das Bild göttlicher Allmacht, menschlicher Hinfälligkeit und eines stets eingreifendes Gottes (wie man es von manchen Freikirchen und Sekten kennt).

[18] Die Bibel nach Martin Luther. Senfkornbibel (1984, 1985), 551.

[19] Ebach (1996), 155.

[20] Jerusalemer Bibel (1968, 1979), 873.

[21] Zürcher (2007), 717.

[22] Gradl (2001), 338.

[23] Oeming/ Schmid (2001), 128.



Pfarrer Thomas Bautz
Bonn, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
E-Mail: thomas.bautz@ekir.de

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