Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Zweiter Sonntag nach Weihnachten
2. Januar 2000
Jesaja 61, 1-3.10.11

Luise Stribrny de Estrada

Vorbemerkungen zur Predigt

Liebe Geschwister im Glauben!

Der Predigttext für den heutigen zweiten Sonntag nach Weihnachten steht bei Jesaja im 61. Kapitel, es sind die Verse 1-3 und 10-11. Dort heißt es: (Predigttext wird verlesen)

Was sind das für Worte! Welch eine Hoffnung spricht daraus, läßt sich gar nicht halten, überschlägt sich beinahe selbst! Welche Freude bricht hier hervor, welch ein Jubel wird laut und läßt sich nicht zurückhalten! Noch nach dem Lesen dieser Verse klingen sie in mir nach, so gesättigt voll von Glück sind sie: “zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn...³

Ein Gnadenjahr soll es werden - gilt das auch für das neue Jahr, das wir gerade begonnen haben, das erste Jahr des neuen Jahrtausends? Dieses lang erwartete und viel beredete Jahr mit den vielen Nullen, der Anfang des neuen Milleniums. Nun ist der Übergang geschafft, aber was dieses Jahr bringen wird, zeichnet sich noch nicht ab, dafür ist es wohl noch zu neu. Wird es ein Gnadenjahr werden?

Wenn ich nach der anfänglichen Begeisterung den Worten Jesajas noch einmal nachhorche, spüre ich Skepsis in mir hochsteigen. Verspricht hier nicht einer zu viel und nimmt den Mund zu voll? Gibt es wirklich jemanden, der all das tun kann und wird: zu den Elenden gehen mit einer guten Botschaft, die glaubwürdig ist, die zerbrochenen Herzen verbinden, den Gefangenen die Freiheit verkündigen, die Trauernden trösten? Oder sind es große Versprechungen, die nachher doch nicht eingehalten werden können. Ich kann mich des Zweifels nicht erwehren, daß all das, was so schön klingt, nicht einlösbar ist. Wer geht schon zu den Elenden: zu den Flüchtlingen, die bei uns leben oder zu den Menschen, die ohne Wohnung auf der Straße leben? Und wer kann ihnen eine gute Botschaft bringen: In eurer Heimat ist der Krieg zuende und ihr könnt zurückkehren, ohne um euer Leben fürchten zu müssen... Da ist jemand bereit, euch eine Arbeit zu geben, und das Sozialamt hat endlich eine Wohnung für euch gefunden... Wer kann die zerbrochenen Herzen verbinden? Die Trauer um den Mann, der gestorben ist oder um den verunglückten Sohn, die kann doch niemand wegnehmen, sie bleibt ein ganzes Leben lang. Wie soll man das Herz verbinden, wo doch die Toten nicht wieder zum Leben zu erwecken sind? Die Trauer bedrückt uns, wir werden sie nicht los. Wie soll dieser Schmerz jemals gestillt werden?

Das Alte hält uns fest im Griff, die Verluste und Verletzungen, die wir erlitten haben, sind nicht plötzlich vergessen. Und wenn wir zurückschauen auf das letzte Jahr, werden uns auch die politischen Ereignisse noch länger beschäftigen: Der Krieg im Kosovo, bei dem die Menschenrechte mit Bomben durchgesetzt worden sind, wo jetzt aber noch lange kein friedliches Zusammenleben möglich ist. Unsere nationalsozialistische Vergangenheit, mit der wir konfrontiert werden in der Diskission über eine Entschädigung für die Sklaven in den Konzentrationslagern und die Zwangsarbeiter in der deutschen Industrie. Die Affären um Parteispenden und Zuwendungen aus der Wirtschaft, die die Glaubwürdigkeit unserer Poltiker fraglich werden lassen. Der Krieg in Tschetschenien, der angeblich keiner ist und in den sich von außen keiner einmischen darf. All das ist mit dem Beginn des neuen Jahres nicht plötzlich weggewischt und zuende.

Und doch läßt die Hoffnung auf das Neue sich nicht unterkriegen. Die Sehnsucht hat Lunte gerochen und läßt sich nicht mehr abschütteln: Wenn es doch wahr wäre, daß dieses ein Gnadenjahr wird, ein besonderes Jahr, in dem Verheißungen wahr werden... Ein Jahr, in dem wir spüren, daß Gott uns nahe ist, daß er uns nicht vergessen hat. Ein Jahr, in dem sich dauerhaft etwas zum Guten wendet. Ein Jahr, in dem unsere Wunden heilen können und wir unsere Befreiung feiern. Oder, um es zu konkretisieren, ein Jahr, in dem wir verschont bleiben von Tod und schwerer Krankheit, wir und die Menschen, die uns lieb sind. Wie schön wäre ein Jahr, in dem wir das Glück schmecken könnten in der Familie, mit Freundinnen und Freunden. Ein Jahr, in dem wir uns im Beruf verwirklichen können und Schwierigkeiten meistern. Wie gut und kaum zu hoffen wäre es, daß es keinen Krieg gäbe in diesem Jahr und daß konkrete Schritte zu mehr Gerechtigkeit gemacht würden. Ein Jahr, in dem die Kluft zwischen reichen und armen Ländern sich zusehens schließt und die Kinder nicht mehr vor Hunger sterben müssen. Ein Jahr, in dem der Umweltschutz Fortschritte macht und wir der Abschaltung der Atomkraftwerke ein gutes Stück näher kommen.

Jesaja, der das gnädige Jahr des Herrn verkündigt, spricht nicht von eitel Frieden und Sonnenschein. Zwar herrschen bei ihm Freude, Heil und Gerechtigkeit, aber erst, nachdem, das zurechtgebracht worden ist, was unheil gewesen ist. Er weiß, daß erst jemand kommen muß, der die Trauernden tröstet und ihren betrübten Geist aufhellt. Jesaja blendet das Leid, die Gefangenschaft und das Elend nicht aus, sondern will diejenigen, die die darin sitzen, trösten, befreien und sich ihnen zuwenden. Dadurch wird die Freude, die am Schluß herrscht, realistischer, denn sie ist nicht plötzlich da, als hätte man einfach auf einen Knopf gedrückt oder sie herbeigezaubert, sondern sie steht am Ende eines Prozesses. Jesaja weiß um die Not der Menschen, denen er seine Botschaft verkündigt, und nimmt sie ernst. Wahrscheinlich hätte ihm sonst auch keiner zugehört.

Denn diejenigen, zu denen er spricht, kennen Elend und Gefangenschaft. Vor wenigen Jahren sind sie endlich in ihre Heimat zurückgekehrt, nachdem sie fünfzig Jahre in der Fremde gelebt hatten. Wieviele Hoffnungen hatten sich mit der Rückkehr verbunden, wie groß war die Freude gewesen, endlich nach Hause zurückkehren zu können! Aber in der Heimat angekommen, zerplatzten die Träume wie eine Seifenblase. Unendlich viel war zu tun, alles mußte von vorne aufgebaut werden, von der einst großen und schönen Hauptstadt standen nur noch Trümmer. Sie mußten sich mühsam an den Aufbau machen und erlebten ständig Rückschläge. Manchmal fragten sie sich, ob sie nicht lieber im Exil hätten bleiben sollen, wo es ihnen materiell besser gegangen war und sie mehr Sicherheiten gehabt hatten als jetzt. Wann würde ihre Stadt mit dem großen Gotteshaus endlich fertig und bewohnbar sein?

Ihnen, diesen Verzagten, an sich und an Gott Zweifelnden verkündet Jesaja einen Wandel. Es wird sich etwas verändern, und zwar im Leben jedes einzelnen und im Leben seines Volkes. Jesaja hat immer diese beiden Perspektiven im Blick, die individuelle und die politische. Die Trauernden sollen getröstet werden, es fängt also an bei dem Leid, das viele mit sich herumschleppen, das sie niederdrückt und den Lebensmut verlieren läßt. Sie sollen heil werden, ihnen sollen die Kleider des Heils angezogen werden. Wer tut das? Gott, aber er braucht dafür Menschen, die sich in seinen Dienst nehmen lassen. Viele von uns können dazu beitragen, daß Menschen getröstet werden, indem wir zuhören, mitfühlen und anderen zur Seite stehen, ohne uns beirren zu lassen. Das reicht manchmal schon aus, um den Trauernden spüren zu lassen, daß er trotz des Verlustes nicht ganz allein ist. Umgekehrt können wir von anderen Trost und Zuspruch erfahren und Gesten der Freundlichkeit erleben. So können die anderen uns trösten.

Wenn sich die Perspektive erweitert und die äußeren Bedingungen miteinbezieht, dann geht es darum, den Elenden gute Botschaft zu bringen. Die Botschaft besteht in der Ankündigung und Verwirklichung von Freiheit und Gerechtigkeit, für die, denen sie vorenthalten werden. Damals, zur Zeit Jesajas, betraf das besonders die Schuldsklaven, die kleinen Bauern, die nicht genug ernteten, um die Steuern zu bezahlen, und dann sich oder ihre Kinder als Sklaven verkaufen mußten. Heute denke ich bei mangelnder Freiheit und Gerechtigkeit nicht als erstes an unser Land, sondern an die weltweiten Unterschiede in der Verteilung von Reichtum, Entwicklungs- und Lebensmöglichkeiten. Wir reichen Ländern verhindern oft, daß andere genug zum Leben haben, ohne daß bei uns jeder einzelne das merkt oder Einfluß darauf hat.

Eine Initiative, die sich vorgenommen hat, dieses Ungleichgewicht hin zu mehr Gerechtigkeit zu verändern, ist die Initaive “Erlaßjahr 2000 - Entwicklung braucht Entschuldung.³ Den ärmsten Ländern der Welt sollen ihre Schulden erlassen werden, damit sie das gesparte Geld für Bildungsarbeit und zur Stärkung der Infrastruktur nutzen können. Die Hoffnung ist, ihnen dadurch einen neuen Anfang zu ermöglichen und den Kreislauf aus Unterentwicklung, Armut, Schulden und wachsenden Zinslasten zu durchbrechen. Würden die Industrieländer darauf verzichten, ihre Schulden einzutreiben, könnte ein Anfang zu mehr Gerechtigkeit auf der Welt gemacht werden. Die Initiative hat inzwischen weltweit Unterschriften gesammelt und sie bei dem Wirtschaftsgipfel der größten Industrienationen in Köln im Juni des letzten Jahres überreicht. Nun geht es darum, die Umsetzung des Erlaßjahres voranzutreiben. Das ist eine Möglichkeit, wo wir uns für mehr Gerechtigkeit engagieren können.

Durch Gottes Wirken und durch unsere Mithilfe kann das neue Jahr ein Jahr der Gnade werden, ein Jahr, in dem wir Gottes heilsame Gegenwart spüren und uns als Menschen erleben, die in seiner Gnade stehen. Vielleicht ein Heiliges Jahr, wie es die Katholiken im Jahr 2000 begehen, ein herausgehobenes Jahr. Oder ein Jahr, in dem sich das erfüllen möge, was in einer alten spanischen Liturgie aus dem 7. Jahrhundert erbeten wird:

Für dieses Jahr um Schutz und Segen zu flehen,
bringen wir dir, Gott und Vater, unser Gebet.
Du hast durch die Geburt deines Sohnes
auch den Lauf unserer Zeit geheiligt.
So schenke uns ein Jahr der Gnade
und laß uns alle Tage in deinem Dienst verbringen.

Erfülle das Land mit Früchten.
bewahre Seele und Leib vor Krankheit und Sünde.
Wehre den Ärgernissen. Besiege das Böse.
Gebiete dem Hunger
und halte fern von unserem Land
jederlei Not und allgemeinen Schaden.
Amen.

Luise Stribrny de Estrada, Pastorin in Kiel-Suchsdorf,
E-Mail-Adresse: marclui@ki.comcity.de
Einige Bemerkungen zur Predigt:
Ich habe mir zunächst Gedanken über die Perikopenabgrenzung gemacht und festgestellt, daß die weggelassenen Verse 4-9 den Predigttext im konkreten Kontext Tritojesajas verankern, gleichzeitig andere Themen, v.a. das des Verhältnisses zu den Völkern, anschneiden. Ich habe mich entschieden, sie wegzulassen und nur über die allgemeineren Vese 1-3.10.11 zu predigen, allerdings die Zeitgeschichte Tritojesajas in einem Abschnitt der Predigt einzuflechten. In der Predigt spreche ich von Jesaja statt von Tritojesaja, da zumindest in meiner Gemeinde fast kein/e PredigthörerIn die Unterschiede kennt und ich es überflüssig finde, an dieser Stelle lange Erklärungen einzufügen, die m.E. für die Predigt nichts austragen. Ich hatte in einem ersten Entwurf den Bogen zu Jesus und seiner Antrittspredigt Lukas 4 geschlagen, stellte dann aber fest, daß ich dann Jesaja nicht mehr ernst nehme und dazu tendiere, seine Verheißung nur in Jesus erfüllt sein zu lassen, was die Gefahr des Antijudaismus beinhaltet. Deshalb bin ichin der vorliegenden Predigt bei Jesaja geblieben. Für den Gottesdienst habe ich mir vorgenommen, Bonhoeffers Lied EG 65 zu singen, da gerade die zweite Strophe das Thema gut aufnimmt: “Noch will das alte unsre Herzen quälen, noch drückt uns böser Tage schwere Last, ach, Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen das Heil, für das du uns geschaffen hast.³


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