Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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5. Sonntag nach Epiphanias
6.2.2000
Hesekiel 33, 10 – 16

Tom Stolle

Liebe Menschenkinder. –

Ja, liebe Menschenkinder: „Warum wollt ihr sterben?“ – Damit ist eine entscheidende Frage angesprochen. Eine Frage von Leben und Tod. Und gerade darum geht es in der Kirche letztlich: um Leben und Tod. Es ist die Frage, wie wir auf Gott reagieren. „Willst du sterben, oder willst du leben mit Gott?“ – Dieser Frage können wir in der Kirche nicht ausweichen. Sie wird uns zweimal ganz persönlich gestellt. Ihnen ist sie gestellt worden, und euch Konfirmanden wird sie gestellt. Zuerst bei der Taufe, dann noch einmal bei der Konfirmation. So fern liegt uns diese Frage also gar nicht.

„Warum wollt ihr sterben?“ Für die damals Angesprochenen war diese Frage sofort verständlich. Ja, sie selbst hatten zuvor gefragt, wie sie angesichts ihrer Erfahrungen überhaupt noch leben können. Sie konnten ihr Dasein kaum noch als Leben bezeichnen. Sie waren zwar am Leben. Aber ihr Land war vom Krieg verwüstet. Sie lebten als Vertriebene weit weg in Babylon. Und sie fühlten bedrückend die Gottesferne. Weit weg waren sie, nicht nur von zuhause, sondern auch von Gottes Wohnung, vom Tempel, wo Gottes Name thront. Und der Tempel war zerstört, verheert, niedergebrannt. Gott war stumm geblieben, hatte das alles geschehen lassen, er war nicht da. Die Gottesdienste hatten aufgehört – wie kann man Gott ohne Tempel dienen? So fühlt sich Unheil an. Unheil im buchstäblichen Sinn. Sie waren am Leben. Aber was ist solch ein Dasein ohne Hoffnung, ohne Perspektive, ohne Sinn? Ein Dahinvegetieren bis zum Tod – mit einem vagen Bewußtsein, daß sie alles selbst verschuldet haben. Mit Schuldgefühlen und Gewissensbissen: „Unsere Sünden und Missetaten liegen auf uns, daß wir darunter vergehen; wie können wir leben?“

Vor diesem Hintergrund schockiert die Frage Gottes: „Warum wollt ihr sterben?“ Schon daß Gott redet, schafft völlig neue Voraussetzungen. Indem er sich zuwendet, überbrückt er die Ferne, die für die Klagenden unüberbrückbar gewesen war. Mit dem, was er sagt, schafft Gott sogar Raum zum Leben: „Ich habe keinen Gefallen am Tod.“ Der lebensfeindliche, der Todeszusammenhang, als Gottes Strafe erlebt, bleibt nicht das letzte Wort. Gott lebt, und er will Leben ermöglichen. Was gestern war, zementiert nicht, was heute ist oder morgen sein kann. In seinem Ruf zur Umkehr eröffnet Gott einen neuen Weg: die Umkehr zum Leben. Gott macht einen Neuanfang; er ist bereit, das Getane und Geschehene zu vergessen, wenn auch die Menschenkinder einen Neuanfang machen.

Die Zuwendung Gottes ist mit einem Anspruch verbunden. Es ist nicht einfach alles vergessen und Schwamm drüber. Es werden nicht einfach Fehler, Probleme, und Versagen unter den Teppich gekehrt und weitergewirtschaftet. So wie Gott einen Schlußstrich unter das Gewesene zu ziehen bereit ist, verlangt er auch einen Schlußstrich unter die Gottlosigkeit. Die Menschenkinder sollen von ihrem Weg abkehren und auf Gottes Weg gehen. Sie sollen das unterlassen, was das Zusammenleben der Menschen untereinander stört und tun, was recht und gut ist. Neues Leben setzt neuen Lebenswandel voraus. Der Rückfall in alte Gewohnheiten und Verhaltensweisen würde den Rückfall in das alte Unheil bedeuten. Vor Gott geht es um Leben und Tod. Doch schafft Gottes Frage Raum für Leben, wo vorher nur der Tod wartete.

Liebe Gotteskinder,

einiges ist heute anders. Als der Tempel niedergebrannt war, konnten keine Gottesdienste mehr gehalten werden, keine Opfer konnten dargebracht und keine Versöhnung mehr erwirkt werden. Der Wohnsitz Gottes war zerstört. Als in Roringen die Kirche gebrannt hat, war es – nicht nur für die Gemeinde – für das ganze Dorf ein trauriger Tag. Aber sofort konnte mit Wiederaufbaumaßnahmen begonnen werden. Und die Gottesdienste können weiter gefeiert werden, sogar im Ort. Gott ist nicht fern, er ist nah – im Feuerwehrhaus in Roringen oder hier im Pfarrwitwenhaus.

Seit der Zuwendung Gottes zu den Klagenden im Babylonischen Exil ist viel passiert – vor allem aber ist eines geschehen: Gott hat sich uns auf eine viel unmittelbarere Weise zugewandt. Er hat eine Brücke geschlagen, die weiter reicht als die zu den Vertriebenen nach Babylon. Er hat nicht nur gesprochen, er ist gekommen. Er hat sich in unsere Welt hineinbegeben. Gott selber ist in Jesus Christus Mensch geworden. In Christus sind Gott und Mensch vereint.

Dieser Christus ist für uns gestorben, um unsere Schuld ein für alle Mal abzutragen. Er hat uns mit Gott versöhnt. Durch Christus werden unsere Sünden nicht mehr angesehen. Nicht mehr unser eigenes Tun ist gefordert, um zu Gott zu kommen. Nicht mehr wir müssen die Chance, uns das Leben zu verdienen, nutzen. Jesus Christus hat am Kreuz die Frage von Tod und Leben einen ganz anderen Sinn gegeben. Er ist uns mit seinem Ja zuvorgekommen: „Ich will, das Du lebst. – Willst Du mein neues Leben?“

Dieses neue Leben hat bei uns in der Taufe begonnen. Da sind unsere Sünden abgewaschen worden. Gottes Vergebung ist uns zugesprochen. Gott hat sein unwiderrufliches Jawort zu jeder und jedem Einzelnen von uns geredet. In der Taufe hat uns Gott zu seinen Kindern angenommen. Als Gotteskinder haben wir Anteil an seinem Erbe, Anteil am neuen, am ewigen Leben. Denn die Taufe macht bei uns die Erlösung durch Christus wirksam. Wir sind in Jesus Christus hineingetauft, wie Paulus im Römerbrief (Röm.6,4) schreibt: „So sind wir mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln.“ So haben wir den Tod gewissermaßen schon hinter uns. Der Tod wird nicht das letzte Wort haben, ihm ist die Macht genommen. Die Taufe ist das bleibende Geschenk des neuen Lebens, das den Tod durchbricht. Wir haben in ihr die Gewißheit der liebenden Zuwendung Gottes. Sie ist das sichtbare Zeichen seiner Vergebung. Und schon jetzt hat mit der Taufe das Leben der Auferstehung begonnen; verborgen zwar, aber im Glauben und in der Erwartung des Jüngsten Tages gewiß.

Damit haben sich die Vorzeichen grundsätzlich geändert. Nicht mehr das Unheil bestimmt unser Leben, wir stehen unter Gottes bleibendem Heilszuspruch. Wir stehen in der Verheißung neuen, ewigen Lebens. Das neue Leben eröffnet uns Hoffnung, Perspektive und Sinn.

Liebe Mitchristinnen und Mitchristen,

mit der Taufe ist für uns der Anfang zum neuen Leben gemacht. Doch bis zum endgültigen Durchbruch des Gottesreiches und des ungebrochenen ewigen Lebens bleibt für uns der Weg durch unsere geschichtliche Welt. Bis Gott schließlich sein Versprechen Wirklichkeit macht, sind wir daran, in der Spannung zwischen schon jetzt und noch nicht dieses neue Leben zu verwirklichen. Mit dem neuen Leben ist uns in der Taufe die Kraft gegeben, in unserem Leben aufzuräumen und Platz zu machen für dieses neues Leben. Dabei geht es, das zeigt unser Predigttext, nicht nur um eine innerliche Haltung und eine fromme Gesinnung. Es geht um ganz handfeste Dinge, Geraubtes zu erstatten, das heißt: Abschied vom Leben auf Kosten anderer zu nehmen. Neuem Leben Raum zu schaffen, heißt aber auch, altem Leben Raum zu nehmen. Es heißt, das aus dem Weg zu räumen, was dem neuen Leben im Weg steht. Das Bewußtsein des neuen Lebens läßt bewußt werden, was dem alten Leben nachhängt. Das bedeutet die Taufe – so schreibt es Martin Luther im Kleinen Katechismus – „daß der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten; und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Heiligkeit vor Gott ewiglich lebe.“

Der uns heute so fremde Begriff Buße meint nichts anderes, als sich an die Gabe und die Kraft der Taufe zu erinnern und mit dem neuen Leben anzufangen. Buße ist nicht etwas, das nur einmal im Jahr am Buß- und Bettag stattfindet und dann für den Rest des Jahres erledigt wäre. Buße ist nicht ein Gefühl von abgrundtiefer Zerknirschung. Buße ist Reue, Traurigkeit über das alte Leben, das bis zur Auferstehung unserem Leben anhaftet und unser Leben bestimmen will. Und Buße ist der Glaube an die Vergebung Gottes in Jesus Christus, aus der heraus wir leben. Dieser Glaube und diese Vergebung schaffen das neue Leben.

Buße ist nicht ein kirchliches Handeln, das wir empfangen oder dem wir uns ausliefern müßten. Buße ist vielmehr die Grundlage täglichen persönlichen Handelns, das Bewußtsein, aus der Taufe zu leben und die Kraft, neues Leben zu verwirklichen. Der evangelische Sinn von Buße ist: Das Zurückkriechen in die Taufe, sich neu beschenken lassen, sich wieder in Gottes Vergebung zu stellen. Und daraus erwächst immer neu die Kraft, das neue Leben im eigenen Leben Wirklichkeit werden zu lassen. Christus hält uns den Rücken frei. Die Umkehr zum neuen Leben, der Weg zurück zur Taufe ist offen.

In Christus hat Gott mit uns neu angefangen und uns mit der bleibenden Gabe neuen Lebens beschenkt. Bis Gott dieses Geschenk im ewigen Leben vollenden wird, werden wir noch viele Neuanfänge brauchen. Und Gott gibt uns die Möglichkeit dazu, die Möglichkeit immer neu anzufangen. Jederzeit können wir in unsere Taufe zurückkriechen und uns neu in Gottes Jawort und in seine Vergebung einhüllen. Gott hat keinen Gefallen am Tod. Er will, daß wir leben. Darum können wir leben.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Stud. theol. Tom Stolle, e-mail: tstolle@stud.uni-goettingen.de


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