Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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5. Sonntag nach Epiphanias
6.2.2000
Hesekiel 33, 10 – 16

Karin Klement

VORBEMERKUNGEN zur Gemeindesituation

Predigttext:

Du, MENSCHENKIND, sage dem HAUS ISRAEL:

Ihr sprecht: Unsere Sünden und Missetaten liegen auf uns, daß wir darunter vergehen. Wie können wir denn leben?

So sprich zu ihnen:
So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Ich habe kein Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern daß der Gottlose umkehre von seinem Wege und lebe.

So kehrt nun um von euren bösen Wegen. Warum wollt ihr sterben, ihr vom HAUSE ISRAEL?

Und du, MENSCHENKIND, sprich zu deinem Volk:

Wenn ein Gerechter Böses tut, so wird`s ihm nicht helfen, daß er gerecht gewesen ist. Und wenn ein Gottloser von seiner Gottlosigkeit umkehrt, so soll`s ihm nicht schaden, daß er gottlos gewesen ist.

Auch der Gerechte kann nicht am Leben bleiben, wenn er sündigt. Denn wenn ich zu dem Gerechten spreche: Du sollst leben! und er verläßt sich auf seine Gerechtigkeit und tut Böses, so soll all seiner Gerechtigkeit nicht mehr gedacht werden, sondern er soll sterben um des Bösen willen, das er getan hat.

Und wenn ich zu dem Gottlosen spreche: Du sollst sterben! und er bekehrt sich von seiner Sünde und tut, was recht und gut ist, – so daß der Gottlose das Pfand zurückgibt und erstattet, was er geraubt hat, und nach den SATZUNGEN DES LEBENS wandelt und nichts Böses tut –, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. Und all seiner Sünde, die er getan hat, soll nicht mehr gedacht werden. Denn er hat nun getan, was recht und gut ist. Darum soll er am Leben bleiben.

PREDIGT

Kanzelgruß (Predigttext später)

Liebe Gemeinde! Und heute ganz besonders: Liebe Jugendliche!

Könnt Ihr euch vorstellen, daß es Situationen im Leben gibt, in denen man plötzlich nicht weiß, wie es weitergehen soll?? In denen man wie vor einer riesigen Mauer oder einem bodenlosen Abgrund steht? Ältere Menschen mit viel Lebenserfahrung mögen dies sehr gut kennen; doch vielleicht ist auch euch diese Erfahrung gar nicht so fremd.

Z.B. wenn Eltern sich unerwartet trennen. Wenn man etwas sehr Wichtiges verliert, das einem alles bedeutet. Wenn man von den Freunden nicht mehr beachtet und anerkannt wird. Wenn man den Schock einer Krebserkrankung bewältigen soll. Oder auch, wenn man erkennt, daß man irgendwann, irgendwo etwas unverzeihlich Böses getan hat, und sich selbst eingestehen muß: Ich bin ja gar nicht so anständig und gut, wie ich immer dachte.

Dann bricht plötzlich die Welt zusammen; man sieht keinen Ausweg mehr. Man ist am Ende – mit seinem „Latein“, mit allem, was man bisher gelernt, geglaubt, worauf man sich verlassen hatte. Die Erschütterung aller Sicherheiten und Gewißheiten reicht so tief, daß man verzweifelt nach Erklärungen sucht, sich fragt: „WARUM trifft es gerade mich? Was habe ich falsch gemacht?“ Und wenn man alle möglichen Ursachen bedacht hat, auch keinen anderen Menschen dafür zur Verantwortung ziehen kann, dämmert die unangenehme Erkenntnis: „Es ist meine Schuld!“

Und die Frage nach UMKEHR stellt sich mit erstaunlicher Vehemenz: „Was kann ich jetzt noch ändern? Ich will versuchen, anders zu leben: rücktsichtsvoller, verantwortungsbewußter... Ich will das Vergangene hinter mir lassen, einen neuen Anfang wagen.“

Die Frage nach eigener Schuld mag wohl auch dem „Haus Israel“ – damit ist das alte Volk Israel gemeint – vor rund 2.600 Jahren auf der Seele gebrannt haben. Überfallen durch die babylonische Kriegsmacht, aus ihrer Heimat verschleppt, hielt noch immer die Erinnerung an ihre Hauptstadt Jerusalem mit dem Tempel, in welchem sie zu Gott gebetet hatten, die Israeliten aufrecht. Sie hofften auf eine baldige Rückkehr und Wiederherstellung der alten Verhältnisse. Sicher war es nur eine Frage der Zeit, bis Gott sich seinem Volk wieder gnädig zuwenden und alle Leiden in der Fremde beenden würde. Solange Jerusalem und der Tempel Bestand hatte, hatte ihre Hoffnung einen unverrückbar stabilen Grund. Solange... Doch dann trifft das völlig Unerwartete bei den Exulanten ein: Die Nachricht vom Fall Jerusalems, von der Zerstörung des Tempels. Welches Entsetzen muß diese Botschaft ausgelöst haben, welche tiefe Niedergeschlagenheit unter den Vertriebenen im Exil. Das Leben war nicht mehr dasselbe wie zuvor.

Leben bedeutete ihnen schon immer mehr als die reine Existenz. Wenn Leben bedroht war durch Feinde oder Krankheit, suchten sie Hilfe im Heiligtum. Der Zuspruch des Tempelpriesters galt ihnen als feste Lebens-Zusage: Gott ist mit dir! D.h. in der Gemeinschaft mit Gott kann dir letztlich nichts geschehen! Doch nun war diese Sicherheit erschüttert. Mit dem Ende des Tempels war gleichsam auch das Ende der Gemeinschaft zwischen Gott und seinem auserwählten Volk gekommen, ja das Ende des eigenen Lebens vorprogrammiert. „Wie können wir denn leben?“ klagen sie ihrem Propheten HESEKIEL. Und vermutlich erinnern sie sich schuldbewußt all jener Dinge, die sie zuvor verdrängt und nicht wahrhaben wollten. Laut und heftig hatte der Prophet schon lange zuvor (Kap. 22) seinen Volksgenossen vorgeworfen, wo sie Gottes Gebote gebrochen, Götzen angebetet, die Mitmenschen betrogen oder gar ermordet, Arme ausgebeutet und unzählige Greuel getan hatten. Die Schuld der Einzelnen betraf die ganze Gemeinschaft. Nun klingelten ihnen die ehemals so tauben Ohren; die prophetischen Worte trafen sie – im nachhinein – mitten ins Herz.

Doch nun, angesichts ihrer neugewonnen Einsicht verloren sie allen Mut, jede Zukunftsperspektive. „Wie können wir denn weiterleben!“ – das ist der Aufschrei von Verzweifelten, die in der Erkenntnis ihrer Schuld unterzugehen drohen. Mit Menschen, die so tief erschrocken und erschüttert sind, muß man anders reden als mit Schuldigen, die ihre Schuld nicht einsehen wollen. Derart verzweifelte Menschen brauchen Trost und Ermutigung. Sie brauchen die Gelegenheit, ihr Herz auszuschütten, wie in einer Beichte sich alles von der Seele zu reden. Sie brauchen jemanden, der zwar den Ernst ihrer Lage nicht beschönigt, sie auch rechtzeitig vor dem Schuldigwerden warnt, doch andererseits sie nicht alleinläßt, sondern ihnen hilft, wieder auf den rechten Weg zurückzukehren. Sie brauchen einen guten Freund, der sie nicht fallenläßt, sondern ihnen einen neuen, gangbaren Weg aufzeigt, mitten hindurch zwischen den Extremen von überheblicher Selbstgerechtigkeit und bodenloser Erschütterung. Einen Weg, der sogar über das scheinbare Ende hinaus weiterführt zu einem gelingenden Leben.

Ein Mensch, der so realistisch, aufgeweckt mahnend und zugleich mitfühlend reden konnte, war der Prophet HESEKIEL. Ihm wird von Gott ein Vermittlungs- und Wächteramt übertragen. Er soll sowohl Gottes mahnender Bote sein, wie auch ein verständnisvoller Seelsorger gegenüber den Mitmenschen. Hören wir, welchen Auftrag Gott seinem Botschafter und Menschenkind, HESEKIEL, erteilt.

TEXT (Hes. 33, 10 – 16)

Der schwerste und härteste Prozeß allem anderen voraus ist die offene und ehrliche Selbsterkenntnis: „Ich habe mich schuldig gemacht! Ich werde weder Gottes noch meinem eigenen Anspruch, ein guter Mensch zu sein, gerecht. Immer bleibe ich irgendjemandem etwas schuldig, und manchmal tue ich Böses sogar mit Absicht.“ Doch diese Schuldeinsicht allein hilft nicht weiter. Sie stellt mir nur vor Augen, wie wenig ich selbst mich ändern kann. Vielmehr muß ich mich ändern lassen, mich durch tiefgreifende Erfahrungen, Krisensituationen, Konfrontationen von Gott auf den richtigen Weg bringen lassen. Das geschieht auch heute noch.

Ich möchte Euch und Ihnen ein Beispiel erzählen, das durchaus wahr sein könnte:

Dieter hat seit einem Jahr seinen Führerschein. Stolz und selbstbewußt „gurkt“ er mit seinem Auto, einem elterlichen Geschenk zum Schulabschluß, durch die Gegend. Er fühlt sich absolut sicher, denn schließlich ist er kein Neuling oder Anfänger mehr im Straßenverkehr. An einem Wochenende kutschiert er seine Freunde – 3 junge Männer und 1 Mädchen – zu einer abgelegenen Disco. Die Musik ist heiß, die Stimmung super; ein paar Bierchen lockern alles und jeden auf. Weit nach Mitternacht treten die 5 Freunde den Heimweg an, natürlich in und mit dem Auto. Angespornt von seinen Mitfahrern demonstriert Dieter seine sportlich-risikofreudige Fahrweise. An einer unübersichtlichen Kurve passiert es: Dieter verliert die Kontrolle über das Fahrzeug. Der Wagen wird frontal gegen einen Baum geschleudert, überschlägt sich und landet im Graben. Wie durch ein Wunder entsteigen die jungen Männer dem Fahrzeug unverletzt; nur die 16-jährige Beifahrerin hat es erwischt. Ohne das Bewußtsein wiederzuerlangen stirbt sie an ihren schweren Kopfverletzungen.

Dieser Unfall hat Dieters Leben verändert. Von einer Minute zur nächsten wird aus dem unbeschwerten, leichtherzigen Draufgänger ein extrem verunsicherter Mensch, ängstlich, aber auch nachdenklich. Er glaubt, daß er große Schuld auf sich geladen hat, für die es keine Wiedergutmachung gibt. Die Rückkehr zu seinem Leben wie bisher sieht er verbaut. Und die gutgemeinten Ratschläge seiner Freunde trösten ihn keineswegs: „Mach dir doch nicht soviel Gedanken. Kannste doch nicht ändern. Ist einfach Pech, kann jedem passieren. Das Mädchen hat doch selber schuld. Sie hätte ja nicht mitkommen müssen.“

Alles Verdrängen von möglicher Ursache und persönlicher Schuld hilft nicht weiter. Manche Erschütterungen gehen selbst unter das dickste Fell und wecken eine Verzweiflung, die alle Selbstgerechtigkeit und Sicherheit infragestellt. Sind wir ehrlich betroffen, fühlen wir uns ratlos, orientierungslos. „Macher“ verlieren ihr Werkzeug, haben plötzlich nichts mehr in der Hand. Von vornherein Ängstliche versinken in Depression. Doch wenn wir uns bewußt allen Fragen stellen, auch der Frage Schuld, „kehren wir um“.

Wir ändern unsere Lebensrichtung und suchen nach dem, was trägt: „Wie können wir denn weiter-leben? Was rettet uns, erhält uns am Leben?“

So wahr ich lebe“ spricht Gott durch Prophetenmund. „Mir macht es keine Freude, wenn ein Mensch wegen seiner Vergehen sterben muß. Ich freue mich, wenn er sich bessert und am Leben bleibt. Darum kehrt um und ändert euch!

Um Leben und Tod geht es also. Und Gott will, daß wir, seine MENSCHENKINDER, leben! Egal, ob wir uns überwiegend toll, gut und klasse finden. Oder andere uns gelegentlich als Halunken beschreiben. Gott will, daß wir leben! Nicht die Vergangenheit zählt, sondern allein die Gegenwart. Wir dürfen uns lösen von Schuld und Lasten der Vergangenheit; daraus sollen uns keine Fallstricke für die Zukunft erwachsen. Doch auch vergangene Lorbeeren sind kein „sanftes Ruhekissen“, auf denen wir es uns für den Rest unserer Lebenszeit gemütlich machen könnten.

Gott geht es darum, daß wir leben – jede/r für sich und zugleich nicht ohne einander. Nicht auf Kosten der anderen Menschen, vielmehr zusammen mit ihnen in einer guten, rechtschaffenden Gemeinschaft. Gottes Gebote können und wollen dafür hilfreiche Satzungen sein. Und wenn etwas danebengeht, wenn wir schuldig werden, bewußt oder unbewußt, zielstrebig oder fahrlässig – dann kostet uns das nicht das Leben. Denn einer hat bereits für uns „bezahlt“ – am Kreuz, unschuldig und freiwillig. Damit wir im Vertrauen auf ihn – leben.

Dieter zieht aus seiner schrecklichen Erfahrung eine Lehre fürs Leben. Er findet eine Aufgabe, eine Art Wiedergutmachung für das, was sich nicht ändern läßt. Das getötete 16jährige Mädchen hat einen geistig behinderten jüngeren Bruder. Dieter spricht mit den Eltern, besucht den Jungen einmal pro Woche und betreut ihn. Irgendwann wagt er auch wieder, ein Auto zu fahren. Und als er mit dem Bruder des Mädchens zum erstenmal eine Ausfahrt macht – anders als früher, besonnener und sehr vorsichtig – empfindet er die Freude auf dem Gesicht des Jungen wie ein verzeihendes, versöhnendes Geschenk.

AMEN

VORBEMERKUNGEN zur Gemeindesituation

Etwas erschrocken registrierte ich in einem der letzten Januargottesdienste, daß neben wenigen Erwachsenen mehr als doppelt soviele KonfirmandInnen vor mir saßen – und dies bei einem Paulus-Predigttext, der beim Vorlesen nicht einmal für die Erwachsenen auf Anhieb zu verstehen war. Siedendheiß erinnerte ich mich der Antworten dieser Jugendlichen, die ich nach ihren Erfahrungen und Wünschen zum Gottesdienst befragt hatte. Bei aller gutwilligen Bereitschaft zuzuhören, fühlten sie sich oftmals zu wenig angesprochen. Texte waren zu lang, unübersichtlich oder langweilig. In der Predigt wurden fast immer wurden nur Lebenssituationen von Erwachsenen berücksichtigt. Ergo, nehme ich mir vor, das nächste mal auch ganz bewußt die jungen Leute im Blick zu haben. Und ich gehe davon aus, daß die Erwachsenen sehr gut nachvollziehen können, was für die Jugendlichen gesprochen wird.

Überraschenderweise scheint es für KonfirmandInnen, die ich zum Text befrug, nur wenige Unklarheiten zu geben: Wer ist mit dem „Menschenkind“ gemeint? Das Christuskind? Was bedeutet „Haus Israel“? Was soll der Satz heißen „daß wir darunter vergehen“? Unter „Satzungen des Lebens“ verstehen einige eher allgemeine Werte und Normen, andere erinnern sofort die 10 Gebote. (Wie kann es anders sein, wenn die Pastorin fragt). Inhaltlich leuchtet der Text ein und findet Zustimmung. Auch, wenn Begriffe, wie Sünde, Missetaten u.a. von den jungen Leuten wohl auf ihre je eigene Weise verstanden werden. Allein die Aussage, „daß ein Guter so hart bestraft wird, nur weil er einmal etwas Böses tut“, wird als ziemlich „dumm“ (ungerecht) empfunden.

Pastorin Karin Klement
Lange Straße 42
37077 Göttingen (Kirchengemeinden Roringen und Herberhausen)
Tel. 05 51 / 2 15 66
e-mail: kklement@mpc186.mpibpc.gwdg.de


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