Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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2. Sonntag vor der Passionszeit
27.2.2000
2. Korinther (11,18.23b-30); 12, 1-10

Petra Schulz

Als sie sich verabschiedeten,
da sagte der Mann noch an der Tür:
„Wissen Sie, ich bin selber stark, ich brauche keinen Gott.“

Die Frau schloss die Tür.
Sie fühlte sich klein und unverstanden und jetzt noch unsicherer als vorher.
Für den Heimweg brauchte die Frau eine knappe Stunde.
Sie ging lieber zu Fuß.
Die Straßenbahnen waren zu dieser Zeit eher überfüllt und sie haßte dieses enge Gedränge, dieses Schieben in den Gängen, die schlechte Luft.
Es hatte aufgehört zu regnen. Die Luft roch gut.
Dennoch ging die Frau schneller. Sie fühlte sich unbehaglich, allein zwischen den vielen Menschen, die an ihr vorüber hasteten auf dem Weg von der Arbeit nach Hause.
Sie fühlte sich allein und bekam Angst; nicht so richtig Angst vor etwas Konkretem, sondern eher so allgemein, so eine Art diffuser Lebensangst.

Als sie endlich zu Hause war und die Tür hinter sich zu machte, fühlte sie sich erleichtert.
Sie kochte sich eine Tasse Kaffee. Sie holte ihr Tagebuch und setzte sich an den Tisch.
´Wissen Sie, ich bin selber stark`, hatte der Mann gesagt, ´ich brauche keinen Gott`.

Sie schrieb alles auf, was auf dem Heimweg passiert war. Eigentlich war ja gar nichts passiert. Sie war einfach nur heimgegangen.
Wie schön wäre es gewesen, wenn jemand neben ihr gelaufen wäre, jemand, mit mit dem sie ihre Gedanken, ihre Gefühle hätte teilen können. Jemand, der ihr vielleicht den Arm um die Schulter gelegt und gesagt hätte: Du, es ist doch alles gut.
Während sie schrieb, wurde ihr besser. Das war ja ein bisschen so wie ein Gespräch mit einem anderen, der einen versteht.
Früher hatte sie solche Gedanken ihrer Puppe anvertraut, die hörte zu und verstand auch alles. Und manchmal gab sie sogar einen Rat. Nicht, dass sie wirklich sprach, aber wenn sie genau hinhörte, dann wußte sie, was die Puppe sagen wollte. Ohne die Puppe wäre sie ziemlich allein gewesen.
Wer hatte da eigentlich zugehört?
Die Puppe konnte ja in Wirklichkeit gar nicht hören, das wußte sie heute, und sprechen schon gar nicht.
War es ihre Phantasie gewesen oder ihre Wünsche und Hoffnungen?
Aber manchmal hatte die Puppe auch Dinge gesagt, die ihr gar nicht gefielen, und wo sie doch gleichzeitig spürte, dass die Puppe zutiefst Recht hatte.
Oder war es das Unterbewußtsein gewesen, das sich da bemerkbar machte?
Die Frau war unsicher. Die Puppe war es damals, und heute das Tagebuch.
Sie hörte da mehr als ihre eigene Stimme, ihre eigenen Gedanken. Es wie wie das Gespräch mit einem Gegenüber, wie das Gespräch mit einem Du, das aber irgendwie ganz unkonkret war, und doch gleichzeitig viel ehrlicher, viel klarer als sie selbst.

Sie dachte wieder an die Worte des Mannes: ´Wissen Sie, ich bin selber stark,` hatte er gesagt, ´ich brauchte keine Gott`.

War dieses Gegenüber, dieses Du, mit dem sie sich im Gespräch fühlte, nun sie selber, war sie selber stark? Oder war es irgendetwas anderes, so etwas wie Gott, wobei sie sich auch nicht so genau etwas unter Gott vorstellen konnte. Oder war Gott nur ein anderes Wort für ihre eigene innere Stimme, wenn sie ganz ehrlich sprach?
Die Frau wußte es nicht.
Auf jeden Fall ging es ihr jetzt besser, sie fühlte sich wieder innerlich getragen und ruhig, ja, eigentlich stark.

Die Frau blieb noch lange am Tisch sitzen. Irgendwann holte sie Papier und Umschläge und schrieb zwei Briefe. Die adressierte sie an ihre besten Freundinnen. In jedem Brief stand die gleiche Frage: ´Brauchst du einen Gott oder bist du selber stark?`

Die Antworten, die sie kurze Zeit später bekam, fielen anders aus, als sie gehofft hatte. Sie waren irgendwie nicht klar, kein klares Ja, kein klares Nein.
Die Freundinnen erzählen vielmehr Begebenheiten aus ihrem Leben.
„Es war,“ schrieb die erste, „als ich durch die Prüfung gefallen war. Das Gespräch mit dem Prüfungsamt machte mir deutlich: So, wie ich mir Zukunft vorgestellt hatte, würde sie nicht mehr möglich sein. Ich saß wie in einem tiefen, dunklen Loch. Auf mir lastete eine Tonne schwerer Steine. Aber an einer Stelle war ein kleiner Spalt in dem Loch. Durch diesen hindurch sah ich weit hinten meine Freunde, meine Familie, eigentlich all das,was mir bisher wichtig in meinem Leben gewesen ist. Das öffnete sich plötzlich vor mir. Und ich spürte, wenn ich da zugreife, zupacke, dann zieht mich das aus dem Loch. Aber ich muß mich auch ein Stück hinbewegen, dann kann es gelingen. Da wurde irgendetwas in mir stark, so dass es gelang, so dass das gelang, was vorher auch durch gutes Zureden nicht gelang.
Aber ob das nun Gott war oder ob ich das selber war, das weiß ich nicht.“

Die Frau war enttäuscht. Sie hatte sich eigentlich eine klare Antwort gewünscht. Irgendwie hatte sie das Gefühl, nicht viel weiter gekommen zu sein.
Als der zweite Brief eintraf, war ihre Erwartung gestiegen. Sie las:

„Du stellst eine eigenartige Alternative auf. Selber stark sein oder Gott brauchen. Ob ich Gott brauche, weiß ich nicht: ich weiß auch gar nicht genau, ob es ihn überhaupt gibt. Aber ich brauche andere Menschen. Menschen, die sich dem Leben unverstellt öffnen; die das Leben nicht auf das Freudige, Schöne oder das Häßliche, Leidvolle festlegen. Die Begegnung mit solchen Menschen wirkt auf mich rettend und helfend. Vielleicht sind diese Menschen zu solch einer Weite nur deshalb in der Lage, weil sie selbst einem Menschen begegnet sind, der diese innere Weite aushält, der nicht ungute Erfahrungen zukleistern muß oder sich vor sich selbst oder anderen verstecken muß. Die Begegnung mit solchen Menchen läßt in mir Sicherheit und Vertrauen wachsen. Vielleicht wirkt hier Gott? Vielleicht aber auch nicht. Aber nur selber stark sein, das haut nicht hin in meinem Leben.“

Die Frau überlegte, welche Schlüsse sie nun für ihre Frage aus diesen Antworten ziehen sollte. Letztlich war alles nach wie vor offen.

Wochen später traf sie den Mann wieder, dessen Worte sie so sehr bewegt hatten.
Der Mann sah schlecht aus.
Sein Sohn war schwer erkrankt. Er hatte fünf Monate im Krankenhaus gelegen; jetzt ging es ihm etwas besser, doch die Ärzte rätselten immer noch über die Art der Erkrankung.
Er erzählte von dem Sohn, den er nach der Scheidung zu sich genommen hatte. Er erzählte von den Problemen, von den schweren und den schönen Zeiten, die die beiden miteinander gehabt hatten. Er erzählte von den Hoffnungen, die er auf ihn gesetzt hatte.
„Jetzt bin ich so müde,“ sagte der Mann, „irgendetwas in mir ist furchbar müde. Ich weiß nicht, was wird. Morgen kommen die neuen Laborergebnisse; ich fürchte mich etwas davor.“
Die Frau nickte.
„Morgen kommen die neuen Laborergebnisse,“ wiederholte der Mann.
Die Frau ging zur Tür. „Soll ich mich morgen Nachmittag noch einmal melden?“, fragte die Frau.
„Nein, das ist wirklich nicht nötig,“ sagte der Mann, „ich komme schon allein klar.“
„Ach,“ sagte die Frau, „vielleicht ergibt es sich doch, dass ich kurz vorbeigucke.“
Sie sah den Mann an. Ein erleichtertes Lächeln huschte über sein Gesicht.

Wie immer ging die Frau zu Fuß nach Hause.
Wie hatte er damals gesagt? „Wissen Sie,ich bin selber stark, ich brauche keinen Gott.“
Die Frau erinnerte sich an den Brief ihrer Freundin.
„Ob ich Gott brauche, weiß ich nicht: ich weiß auch gar nicht genau, ob es ihn überhaupt gibt. Aber ich brauche andere Menschen. Die Begegnung mit solchen Menschen wirkt auf mich rettend und helfend. Vielleicht wirkt hier Gott? Vielleicht aber auch nicht.“

Die Frau ging heim. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Luft roch gut.
Ein tiefes Glücksgefühl breitete sich in ihr aus. Amen.

(Die für die Briefe der Freundinnen verwendeten Texte wurden im Rahmen eines Seminars „Religiöse Elemente in Kultur und Politik“ (WS 1999/2000) von Studierenden (Religionspädagogin und Theologe) der Theologischen Fakultät Rostock verfaßt. Im Zuge der Einarbeitung in die Predigt wurden sie inhaltlich leicht modifiziert bzw. gekürzt.)

Dr. Petra Schulz
Universität Rostock
Theologische Fakultät
Schröderplatz 3/ 4
18055 Rostock
e-mail: petra.schulz@theologie.uni-rostock.de


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