Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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5. Sonntag nach Ostern, Rogate
28.5.2000
Kolosser 4, 2-6

Günter Linnenbrink

"Sei beharrlich im Gebet, und wacht dabei mit Danken!
Betet zugleich auch für uns, damit Gott uns eine Tür für das Wort auftut und wir das Geheimnis Christi predigen können. Seinetwegen bin ich auch gebunden, um es offenbar zu machen, wie ich es muß.
Verhaltet euch weise gegenüber denen, die draußen sind, und kauft die Zeit aus.
Eure Rede sei allezeit freundlich und mit Salz gewürzt, so dass ihr jedem in der rechten Weise antworten könnt."

Liebe Gemeinde!

1.1. Da wird uns dringend ans Herz gelegt, beharrlich im Gebet zu sein und vor allem das Danken nicht zu vergessen.

In einer Zeit, in der alles zur Kultur hochstilisiert wird, was früher schlicht Streiten, Fragen, Spielen, Essen, Trinken heißt, ist dankenswerterweise das Beten noch verschon geblieben, sich auch mit der Kultur verbinden zu müssen.

Das hat gewiß damit zu tun, dass unsere Zeitgenossen und natürlich auch wir selbst mit dem Beten gewisse Schwierigkeiten haben.
Das fängt schon mit unserem täglichen Zeit-Budget an. Es ist knapp bemessen. Bevor man zur Arbeit, ins Geschäft, in den Dienst aufbricht, sind alle Minuten mit den üblichen Verrichtungen gefüllt. Schließlich sind ja nicht alle Rentner, Pensionäre, die großzügig über ihre Zeit verfügen können.

Es gibt aber noch andere Gründe für diese Schwierigkeiten.
Was soll ich eigentlich beten? Also die inhaltlicheFrage.
Ein Stoßgebet, wenn mich eine besondere Sorge bedrückt, ein heftiger Kummer mich plagt, geht schon noch über die Lippen oder durch das Herz.
Aber das tägliche Gebet, die regelmäßige Besinnung und sprachliche Ausformung meines Gottesverhältnisses, ergibt sich nicht von selbst. Es will eingeübt, gelernt sein. Es fehlen einem sonst die Worte und man wird stumm.
Aber dieses Verstummen kann auch einen tieferen Grund als die mangelnde Gebetspraxis haben.
Ist da überhaupt ein Ansprechpartner, den mein Ruf, mein Stoßseufzer, meine Bitte, meine Sorge erreicht?
Ist der Himmel nicht doch leer und mein Ruf kommt als mein Echo nur zurück? Sollte man es daher nicht besser mit der Meditation versuchen? Ein persönliches Du als Gegenüber ist da nicht unbedingt vonnöten. Die Gottesfrage kann offen bleiben. Und Kraft, innere Stärke und Gelassenheit können auch durch meditative Übungen gewonnen werden.

1.2. An dieser Stelle möchte ich eine kleine Geschichte erzählen:
"Ein Gaukler war des unsteten Lebens müde. Er verschenkt seinen Besitz und tritt in ein Kloster ein. Aber weil sein Leben bis dahin Springen, Tanzen und Radschlagen war, war ihm das Leben der Mönche fremd, und er wußte weder ein Gebet zu sprechen noch einen Psalm zu singen.
In seinem Kummer ging er in eine abseitige Kapelle und sagte: ‚Wenn ich schon nicht mitbeten und mitsingen kann, so will doch tun, was ich kann!‘
Er streifte sein Mönchsgewand ab und begann zu springen und zu tanzen, auf den Händen durch die Kapelle zu gehen und in die Luft zu springen, um Gott zu loben.
Der Abt des Klosters ließ ihn rufen, küßte ihn und bat ihn, für ihn und die Menschen bei Gott einzustehen. Er sagte zu dem Gaukler: ‚In deinem Tanz hast du Gott mit Leib und Seele geehrt, uns aber möge er alle wohlfeilen Worte verzeihen!‘ "

Also das was wir können, sollen wir vor Gott bringen.
Es geht nicht um die wohlgesetzte Rede, die sonore Stimme, die melodiöse Begabung, das ästhetisch sichere Auftreten. Das sind alles Stilfragen, die auch ihre Bedeutung haben. Aber entscheidend ist, wir sollten unverkrampft und ohne die Sorge, dass wir es nicht richtig hinbekämen, den Dialog mit Gott im Gebet suchen, mit den Mitteln, die uns gegeben sind.

2. Schritte auf dem Wege zum Beten.
(1) Als junger Vikar schickte mich mein damaliger "Vikarsvater" zu dem – wie er sagte – "Lazarus der Gemeinde". Es war ein querschnittsgelähmter Mann mittleren Alters, der schon über 10 Jahre bettlägerig war. Ich hatte regelrecht Angst vor diesem Besuch. Was sollte ich, jung und dynamisch, dabei voller theologischer Begriffe und Konzepte im Kopf, an sozialethischen Fragen besonders interessiert, einem solchen Menschen sagen?

Ich setzte mich an sein Bett und er fragte mich nach dem Leben in der Gemeinde. Das löste meine Verkrampfung etwas, aber ich dachte immer noch voller Sorge, was kannst Du hier eigentlich seelsorgerlich ausrichten? Nach 20 Minuten sagte schließlich der Kranke zu mir: "Herr Vikar, es wäre schön, wenn Sie jetzt ein Gebet mit mir sprächen. Lesen Sie mir doch bitte den 23. Psalm vor!"
Voller Erleichterung tat ich das. Diese geprägten biblischen Sätze brauchten keine seelsorgerlichen Erklärungen. Sie wirkten durch sich selbst.

Seit damals weiß ich: Wer Beten lernen will, greife zur Bibel! Nicht nur die Psalmen sind ein unerschöpflicher Gebetsschatz für uns, auch und gerade für ungeübte Beterinnen wie auch für leere Herzen und Köpfe.

(2) Seit vielen Jahren begleiten meine Familie und mich die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeinde durchs Leben.
Nicht selten gaben sie mir einen wichtigen geistlichen Impuls für den jeweiligen Tag, so unterschiedlich diese Tage, Wochen, Monate und Jahre auch waren. Sie führten durch manche tiefe Täler, aber auch über lichte Höhen und sich endlos hin ziehende Ebenen. In gleicher Weise hat mich Martin Luthers Morgen- und Abendsegen durchs Leben begleitet. In ihm ist auf unübertrefflich prägnante Weise ausgedrückt, was ein Christenmensch am Morgen und am Abend vor Gott bringen sollte.

Und wenn mein Glaube einmal wieder schwach, meine Zuversicht durch Zweifel, Skepsis und bittere Erfahrungen ausgesprochen gering geworden war, ließen diese Schrift- und Gebetsworte aus sich selbst heraus so etwas wie einen festen Bezugsrahmen entstehen, in dem ich wieder Halt finden konnte. Besonders dieser Hinweis, dass Gottes Verborgenheit in Christus aufgebrochen ist. Dieser gekreuzigte Jesus von Nazareth ist nicht tot, sondern er ist lebendig, weil Gott sich zu ihm bekannt hat – uns zu gut.
Ihm kann ich alles, vor allem aber mich selbst in meiner ganzen Widersprüchlichkeit und religiösen Unsicherheit anvertrauen. Er ist Gottes Angebot an mich, wie und wo auch immer ich mich befinde.

(3) –Aber unser Briefautor bittet auch darum, daß Fürbitte, und zwar für ihn und seine Freunde, gehalten werden möge. Er möchte heraus aus dem Gefängnis, um wieder missionarisch tätig sein zu können. Nicht die Freiheit ist ihm wichtig, sondern das Evangelium, das weitergegeben werden soll.

Es ist für mich eine ungemein ermutigende, Trost und Kraft vermittelnde Gewißheit zu wissen, daß Menschen für mich beten. Sie bringen meinen Namen vor Gott. Sie denken über Gott an mich. Fürbitte zu tun, halte ich für eines der wichtigsten Dinge im Leben der Christen und der Gemeinde.

Fürbitte zu tun, erfordert keinerlei besondere Begabung, Ausbildung, körperliche oder geistige Kraft. Das kann eigentlich jeder, ob er alt oder jung, krank oder gesund, stark oder schwach ist.
Wer im Leiden oder in Anfechtungen steht und gewiß sein kann, dass andere fürbittend seiner vor Gott gedenken, gewinnt neue Kraft. Das habe ich erfahren.

Aber Fürbitte geht über die individuellen Nöte, Bedürfnisse und Schicksale hinaus. Dass das Evangelium, die Botschaft von Gottes grundloser Barmherzigkeit weitergeht, bindet Gott auch an die Fürbitte seiner Gemeinde.

Vielleicht ist deshalb so oft Resignation und Gleichgültigkeit in der Kirche anzutreffen, weil wir den Fortbestand der Kirche mehr von äußerlichen Dingen wie Kirchensteuer, Institutionen und gesetzlichen Regelungen abhängig sehen und nicht mehr wissen, dass es die Kraft der Fürbitte ist, auf die es wirklich ankommt. Fürbitte ist dabei alles andere als Nichtstun. Wer Fürbitte tut, legt seine Hände nicht in den Schoß und wartet ab, sondern sucht zuversichtlich nach Wegen der Hilfe.

In Bertolt Brechts Theaterstück "Mutter Courage" gibt es eine Stelle, wo die Bäuerin zu der stummen Kathrin sagt: ‚Bet, armes Tier, bet! Wir können nix machen gegen das Blutvergießen. Wenn du schon nicht reden kannst, kannst du noch beten. Er hört dich, wenn dich keiner hört.‘
Es ist das Jahr 1636, und die kaiserlichen Truppen sind vor der Stadt Halle zusammengezogen worden, um diese nachts zu überfallen und zu brandschatzen.
Brecht läßt nun in seinem Stück alle niederknien und beten. Die stumme Kathrin jedoch klettert auf das Dach, schlägt die Trommel, weckt dadurch die Soldaten und die Stadt auf, rettet sie, aber erleidet selbst den Tod.

Brecht will sagen: das Beten hat nicht geholfen, die mutige Tat der stummen Kathrin hat die Wende gebracht.
Unseren Text kann Brecht dafür nicht als Beleg für seine kritische These nehmen. Hier beim Verfasser des Kolosserbriefes heißt es ausdrücklich:

"Verhaltet euch weise gegenüber denen, die draußen sind, und kauft die Zeit aus!"
Das ist wirklich etwas anderes als die Hände in den Schoß legen.
"Weise" handeln bedeutet, dem Willen Gottes entsprechend sich verhalten, d.h. dem Nächsten helfend zur Seite stehen und mit kräftiger, d.h. mit salzgewürzter Rede, sich zu Christus als unserem Herrn bekennen.

Beterinnen sind nüchterne, wache und tatkräftige Christenmenschen, für die Beten und Trommeln kein Gegensatz ist.

Amen.

Dr. Günter Linnenbrink
Schackstr. 4
30175 Hannover
Tel.: 0511 / 816887


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