Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Pfingstmontag
12.6.2000
Epheser 4,11-16

Leo Karrer

Kirche: Einheit als leibhafter Christus
(Einheit in der Vielfalt durch Christus)

Zur Brisanz des Schrifttextes

Gleich schon der erste Vers des Schrifttextes zur heutigen Predigt (4,11) nennt fünf Gemeindeämter, deren Aufgabenbereich in den folgenden Versen knapp skizziert wird (4,12-14). In der katholischen Kirche hören wir diese Worte aus dem Epheserbrief mit einem ganz anderen Klang als vermutlich die Christinnen und Christen aus den Kirchen der Reformation. Trotzdem ist die Unruhe um das Pfarramt, um die kirchlichen Ämter, Dienststrukturen und der Ruf nach einer zeitgemässen Kirchenordnung in den meisten Kirchen zu spüren. Ob es um die Probleme zwischen Kirchenleitung und Basis, um die Weihe von Frauen zu Priesterinnen, wie jüngst in der christ- bzw. altkatholischen Kirche, oder um den Zölibat und die Zulassung von Frauen zum Pfarramt in der katholischen Kirche und deren Personalfragen wie z.B. der sog. Priestermangel geht, das kirchliche Leben ist über Gebühr mit diesen Problemen der kirchlichen Innenarchitektur beschäftigt. Mit ganz neuen Formen und Kategorien von Seelsorgern und Seelsorgerinnen versucht man, einen Ausweg aus personellen Engpässen zu finden.

Gibt nun der Epheserbrief auf diese so aktuelle Herausforderung eine Antwort oder gar ein Patentrezept? Um es vorweg zu sagen: Ein Patentrezept bietet er nicht, denn es geht ihm gar nicht in erster Linie um Dienste, kirchliche Ämter und um eine angemessene Kirchenordnung. Also sollten wir unserem ersten Eindruck nicht auf den Leim gehen.

Christus ist das Haupt der Kirche

Wohl gibt der Epheserbrief eine Antwort. Aber die liegt keineswegs auf der Ebene der empirischen Institution Kirche mit ihren Strukturen und Aemtern. Vielmehr geht es um die Seele dessen, was die Kirche ausmacht und worauf alle ihre Gaben und Begabungen ausgerichtet sein sollen: auf den Grundstein oder Eckstein Jesus Christus. "Er hält das ganze Gebäude zusammen, und durch ihn wächst es zu einem heiligen Tempel im Herrn. Auch ihr werdet in diesem Bau eingefügt, in dem Gott durch seinen Geist wohnt" (2,19). An einer späteren Stelle wird für den Eckstein Christus das Bild von Christus als dem Haupt der Kirche (5,23) gebraucht. Auf ihn kommt es also an und nicht auf die Kirchenorganisation mit ihren Würdenträgern und Theologen.

Es scheint dem Verfasser des Epheserbriefes, der sich beim Schreiben vom Gedankengut des Paulus inspirieren liess, sehr wichtig zu sein, auf die Einheit der Kirche zu dringen. Zwar vernehmen wir kaum etwas Konkretes zur christlichen Gemeinde in Ephesus. Vielleicht war der Brief gar nicht direkt an diese Gemeinde gerichtet, sondern eine Art "Rundschreiben". Dies würde den allgemeinen Stil und den katholischen bzw. weltumspannenden Charakter des Briefes erklären. Der erste Teil ist auch entsprechend feierlich und meditativ; er "hat als ganzer einen geradezu liturgischen Klang, und wenn man irgendwo zu lesen beginnt, hat man den Eindruck, man komme verspätet zu einem feierlichen Hochamt" (H.J. Venetz).

Wenn um Einheit gerungen wird, dann ist sie in Gefahr. Es gab somit schon damals Kirchenkrisen und Ertragen und Erleiden von Umbrüchen. Der erste Eifer hat in den christlichen Gemeinden einer Ernüchterung Platz gemacht; die Faszination des Neuen ist verblasst. Es gab vor allem in Kleinasien ein reiches Angebot an Religionen, Mysterienvereinen und religiösen Bruderschaften. Die Spannung zwischen ehemaligen Heiden und Juden erwies sich als Dauerbrenner. Und mit dunkler Anspielung wird im Epheserbrief auf synkretistische Verirrungen hingewiesen (4,14), die eine lockere Verschmelzung verschiedener Religionen und Weltanschauungen ohne inneren Zusammenhang bedeuteten. Ist es da nicht mehr als verständlich, dass im Hintergrund auch Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die sich damals verfestigende Ämterstruktur eine Rolle spielten? Ist es dann nicht geradezu notwendig, dass klare Verhältnisse inneren Zusammenhalt und Geschlossenheit garantieren sollen? "In einer Zeit auflösender Tendenzen, der Krise, des religiösen Individualismus, der Geschichtslosigkeit stellt der Epheserbrief den Versuch dar, das Heil Gottes, das sich in der universalen Kirche … dargestellt hat, und die konkrete Verantwortung abzusichern" (J. Gnilka). Die Parallelen zur heutigen Zeit sind offenkundig.

Mahnung zur Einheit in Christus

So mündet der erste eher theoretische und hymnische Abschnitt des Epheserbriefes im zweiten Teil in eine Paraklese mit Mahnungen und praktischen Anweisungen in die damalige Stunde der werdenden Kirche. Wer nun eine klare Ämterstruktur und eine normative für alle Zeiten gültige Kirchenordnung erwartete, würde dem Text Gewalt antun müssen. Nicht auf die Organisation kommt es in erster Linie an, sondern auf das Anliegen, in dessen Dienst die Aemter und Strukturen stehen, auf die Aufgaben, auf die Funktion, würden wir heute auch sagen.

Es geht darum, "die Heiligen für die Erfüllung ihres Dienstes zu rüsten, für den Aufbau des Leibes Christi. So sollen wir alle zur Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, damit wir zum vollkommenen Menschen werden und Christus in seiner vollendeten Gestalt darstellen" (4,12f).

Zugegeben, diese Sprache klingt reichlich fremd; sie gehört in die damalige Kirchenstunde. Aber auch für heute wird doch offenkundig, um was es geht: nicht um ein Modell des kirchlichen Systems, sondern um die Verwirklichung der Kirche als Leib Christi. Kirche soll in allen ihren Mitgliedern leibhaftig Christus ähnlich werden. Dadurch findet der Mensch zur Erfüllung seiner Berufung. Und indem er diese lebt, nimmt Christus in dieser Welt Gestalt an.

Somit geht es auch heute in den verschiedenen Lebenskontexten um die christliche Dimension von Kirche, nämlich darum, dass Kirche als solche erfahren werden kann, wo Menschen sich miteinander auf den Weg und auf die Botschaft Jesu von Nazaret einlassen. Kirche wird zum Leib Christi, wenn sie sich ins Leben hinein verleiblicht und damit zum Ort wird, wo in unserem persönlichen Alltag und in der gesellschaftlichen Umwelt von jener neuen und grösseren Liebe und Hoffnung etwas gelebt und erfahren wird, von denen die biblischen Urkunden des Glaubens erzählen. Kirche wird demzufolge durch menschliche Beziehungen und durch unser Tun zum anschaulichen Hinweis auf das, was im Evangelium mit Reich Gottes gemeint ist und der Epheserbrief "Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes" nennt. So sind alle am Aufbau der Kirche als lebendige Steine beteiligt. Und für den Bauplatz Kirche braucht es Dienste und eine Kirchenordnung, die sich den Anforderungen der jeweiligen Zeit — allerdings dem Auftrag entsprechend — anzupassen haben. Aber es ist letztlich Christus, der den Sinn dieser Dienste ausmacht, er gibt "den einen das Apostelamt", er setzt "andere zu Propheten ein, zu Evangelisten, Hirten und Lehrern" (4,11). Diese Begabungen und Gaben finden ihren Sinn in ihren Aufgaben und nicht einer Über- und Unterordnung oder in Bestimmungen, die manche zum vornherein manche ausschliessen.

Wachsen im Tun der Liebe

In diesem Zusammenhang wird betont, dass es auf die Liebe ankommt, die sich im Tun und Leben der Wahrheit erfüllt: "Wir wollen uns, von der Liebe geleitet, an die Wahrheit halten und in allem wachsen, bis wir ihn erreicht haben. Er, Christus, ist das Haupt… Jedes trägt mit der Kraft, die ihm zugemessen ist. So wächst der Leib und wird in Liebe aufgebaut" (4,15f). Wenn immer das Boot der Kirche hoher Brandung ausgesetzt ist oder an Bord selber Konflikte drohen, so kommt es auf den Kompass an, der sich an Jesus Christus orientiert und in seinem Geiste handelt. Das Tun der Wahrheit aus dieser Berufung heraus wird als das Mittel in der Auseinandersetzung und in der Konfrontation mit Irrlehren herausgestrichen.

Dabei gewinnen wir einen fast barmherzigen Hinweis, der den Gesetzen des Lebens und dem Reifen des Menschen gerecht wird. Es ist mehrmals vom Wachsen, also von Werden und Reifen, von Entfaltung und Entwicklungsphasen die Rede. Christsein ist ein Weg der Hoffnung im Vertrauen auf den Weg und die Botschaft Jesu von Nazaret, kein theoretisches Ideal oder Wunschbild, das nur überfordert und dadurch entmutigen kann. Praktisches Christsein hat mit konkreten Menschen zu tun, mit Lebensprozessen und mit der persönlichen Erreichbarkeit, es geht um die Beziehungsfähigkeit zu sich und den Anderen und zur Realität. Da ergeben sich nicht auf Anhieb idealistische Erfolgskategorien und moralische Höchstleistungen. Das Leben auch der Christinnen und Christen ist geprägt von den Gesetzen des Reifens und des Freiheitswagnisses, der Persönlichkeitsprozesse mit all den möglichen Fortschritten und Rückschritten, mit Mut und Angst, mit Zweifel und Wagnis, mit Suchen und Warten, Gelingen und Scheitern, mit Erfahrungen der seligen Freude am geschenkten Glauben und der abgrundtiefen Gottesferne und Not mit der Gottesfrage… wie eben das Leben so spielt. Die Realitäten und Herausforderungen des Lebens werden nicht geschenkt und nicht erlassen. Der "alte Mensch" (4,22) ist nun einmal nicht so leicht abzulegen. Aber der "neue Mensch" (4,24) wird zum "Bild Gottes", wenn er sein konkretes Leben immer wieder am Glauben an Jesus Christus auszurichten versucht und daraus Kraft gewinnt, konkrete Hoffnungsschritte im Alltag zu wagen.

Damit sind zwar für die praktischen Probleme um Dienste, Ämter und Strukturen der Kirchenordnung und für das ökumenische Miteinander der Kirchen nicht Patentrezepte gewonnen; aber es ist der entscheidende Kompass für die Lösung der Probleme ins Spiel gebracht.

Prof. Dr. Leo Karrer
Departement für Praktische Theologische Fakultät
Universität Freiburg i. Ue.
Miséricorde
CH - 1700 Fribourg
E-Mail: Leo.Karrer@unifr.ch


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