Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
(Tipps zum Speichern und Drucken: Hier klicken)

Trinitatis
18.6.2000
Epheser 1, 3-14

Gertrud Yde Iversen, Dänemark

Liebe Gemeinde!

Der Epheserbrief ist eine merkwürdige Schrift. Worum geht es hier eigentlich? Sie handelt von der Einheit von Juden und Heiden im Leib Christi, von Christus als dem Haupt der Kirche, vom Leben in der Kirche als einem Wachsen hin zur Einheit und Fülle. In Wirklichkeit aber ist der Epheserbrief in erster Linie eine Schrift über das alles entscheidende Geschehen in Christus und darüber, wie dieses das Leben total verändert für die, die an ihn glauben.

Und dann wird die Schrift mit diesem gewaltigen Lobpreis für das Heil eingeleitet, das Gott denen bereitet hat, die an Christus glauben. Ein Lobpreis, der groß angelegt ist in einer Perspektive, die alles im Himmel und auf Erden umfaßt, vom Anfang bis zum Ende, von Gott zu den Menschen. Und er ist in einer überschwänglichen Sprache abgefaßt. Im Griechischen ist der ganze Abschnitt nur ein einziger Satz, eine meditierende liturgische Prachtsprache mit langen verschrobenen Passagen. Überschwänglich, aber auch innerlich und fromm spricht der Text von dem Segen, der uns, die wir an Christus glauben, zuteil geworden ist. Ein überschwänglicher Dank und überströmende Dankbarkeit, eine überwältigende Überzeugung, eine umfassende Deutung der Wirklichkeit. Das Letztere ist kein unwesentliches Motiv in diesem Text. Vielleicht in den Augen unserer Zeit das Wichtigste. Natürlich ist es nicht gleichgültig, daß die Sprache prächtig und die Perspektive weit ist, aber die Deutung der Wirklichkeit in ihrem Zusammenhang, die in dem Lobpreis ihren Ausdruck findet, wird in unserer postmodernen Zeit immer mehr zu einer lebenswichtigen Stimme.

I

Es ist gar nicht so schwer zu erfassen, was gesagt wird. Alles greift ineinander. Aber man kann die allerersten Zeilen als Überschrift über den ganzen Lobpreis sehen: " Gelobt sei Gott ...., der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus". Aller geistlicher Segen. Das ist viel. In diesem Sinne besteht natürlich ein guter Grund zu dem gewaltigen Lobpreis. Segen bedeutet eigentlich Schutz und Zustimmung. Das ist wichtig auch für das, was hier gesagt wird: Gott hat sein Volk erwählt, es zur Kindschaft berufen und diesen Bund durch den Heiligen Geist der Verheißung in der christlichen Taufe besiegelt.

Zugleich handelt es sich um einen Lobpreis des "dennoch". Der Autor des Epheserbriefs ist ein Mensch, der im Gefängnis sitzt. Er hat zu irgendeinem Zeitpunkt in seinem Leben das gefunden, was man den Schlüssel zu seinem Leben nennen könnte. Ein Schlüssel, der das Große mit dem Kleinen verbindet - das, was war, mit dem, was kommt. Es handelt sich um eine befreiende Einsicht in sein Leben und in die Wirklichkeit, eine neue und befreiende Gotteserfahrung, von der er sprechen muß. Deshalb sitzt er im Gefängnis. Nach der Tradition ist dieser Autor der Apostel Paulus, aber es ist mindestens ebenso wahrscheinlich, daß es sich um einen anderen handelt, einen Schüler des Paulus. Wie dem auch sei, es ist also keine Klage, die aus dem Gefängnis kommt, keine Anklage gegen die, die ihn hinter Schloß und Riegel gebracht haben, kein Ruf danach, aus dem Gefängnis herauszukommen. Statt dessen ein Lobpreis an den Gott, der sein Volk befreit hat. Was dieser Mann - ob es nun Paulus selbst war oder nicht - gedacht hat, was er erduldet und gelitten hat, das wissen wir nicht. Eines aber können wir sehen: Der Mann sitzt im Gefängnis, und dennoch lobt er den Gott, der ihn befreit hat. Im Gefängnis und dennoch frei. Die Wirklichkeit der Erfahrung ist also eine, die Wirklichkeit des Glaubens eine andere. Aber damit nicht genug: Dies ist die wahre Wirklichkeit. In allem, was ist und in allem, was die Menschen erfahren können an Gefangenschaft und Tod, wirkt Gott mit seinem Segen. In Christus ist alles versöhnt und befreit, und in ihm soll alles überwunden werden, was jetzt den Menschen nach dem Leben trachtet - alles, was im Himmel ist und auf Erden.

II

Wie hören wir diesen Lobpreis? Was tun wir, wenn wir die Lobgesänge anderer hören? Erfüllt uns ein Wundern, Neid, sind wir überwältigt, fühlen wir Dankbarkeit? Denken wir: Wie kann der im Gefängnis sitzen und dennoch mit einem Lobpreis Gottes reagieren? Denken wir: Wenn ich doch nur auch so im Glauben gefestigt wäre und in dieser Stimmlage Gott preisen könnte? Oder ist all dieser Lobpreis zu überwältigend und nicht besonders glaubwürdig, wenn man daran denkt, wie die Welt aussieht? Oder vielleicht reagieren wir mit Dankbarkeit darüber, daß hier trotz allen Elends und aller Not in der Welt die Stimme eines Menschen laut wird, der es wagt, diese großen Worte in den Mund zu nehmen, und das große Heilswerk Gottes zu besingen, der es wagt, die vielen Bruchstücke der Wirklichkeit als ein Ganzes zu deuten?

Ich glaube, es kommt darauf an, wie wir uns selbst als ein Teil des kleinen Wortes mit der großen Bedeutung sehen - ich meine das Wort uns. Es fällt auf, daß diese Formulierung sich durch den ganzen Lobpreis hindurchzieht: Christus hat uns gesegnet. Der Autor des Lobpreises redet nicht nur von sich selber, über mich, sondern von uns, das heißt von denen, die an Christus glauben. Es geht also nicht darum, was allein für ihn wahr ist. Der sogenannte Schlüssel, den er gefunden hat, um die Wirklichkeit der Welt zu erschließen, ist nicht allein dadurch gefunden, daß Gott sich ihm in seinem eigenen Leben gezeigt hat, sondern vielleicht auch in dem Leben, das er bei den anderen gesehen hat. So war es jedenfalls bei Paulus. Das sehen wir in seinen Briefen. Immer wieder dankt Paulus Gott für seine Gemeinden, für ihre Standhaftigkeit in dem Glauben an Christus, den er ihnen beigebracht hat. Das tut er nicht nur, um sich selbst zu loben, sondern auch, weil ihre Festigkeit im Glauben für ihn ein Zeichen der Hoffnung ist. Wenn Paulus Gott in seinen Briefen dankt, dann nicht nur für den Glauben, den er selbst empfangen hat, sondern auch für den Glauben der anderen.

Das ist ein Aspekt, den wir gewöhnlich nicht beachten. Jedenfalls nicht in Dänemark, wo ich lebe. Wir leben in einer individualistischen Zeit, wo sich vieles in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Freizeit darum dreht, wie ich, der einzelne, am besten meine Fähigkeiten entfalte. Dies gilt auch in religiösen Fragen bei Kindern wie bei Erwachsenen. Ob Gott eine Bedeutung hat, hängt davon ab, ob er "für mich" etwas bedeutet. Wir sitzen sonntags in der Kirche und hören die Erzählungen des Evangeliums und denken daran, ob das, was dort geschieht auch "mit mir" passieren könnte, und wir setzen uns sogleich an die Stelle der trauernden Witwe, des toten Sohnes, der weinenden Sünderin oder des Gelähmten. Dann hofft man, daß das, was ihnen widerfuhr, auch für mich geschieht. Dies kann natürlich eine wichtige Seite des persönlichen Gottesverhältnisses und Frömmigkeitslebens sein. So weit, so gut. Aber das ist nicht die einzige Dimension. Es gibt auch eine andere, und an die erinnert uns der Predigttext dieses Sonntags. Hier werden wir Zuhörer des Lobpreises eines anderen Menschen, und wir sollen nicht in erster Linie seine Worte zu den unsrigen machen, sondern seine Worte hören und uns über die Freude freuen, die seine ist und vielleicht dadurch die unsrige werden kann.

III

Der Autor des Epheserbriefes sitzt im Gefängnis. Dennoch sieht er die Welt als in Christus befreit - für die, die an ihn glauben. Das ist wie eine Einsicht in den rechten Zusammenhang der Wirklichkeit trotz all dem, was einem sonst in dem Leben, das man gelebt hat widerfahren ist. Sein Lobpreis ist ein Dank, aber auch eine Erzählung vom Heilsplan Gottes. Er ist eine Erzählung, die Christus zur Hauptperson hat und alles zwischen Gott und Menschen umfaßt, von der Schöpfung bis zur endgültigen Erlösung. Gerade in seiner großen umfassenden Weltsicht kann dieser Lobpreis für einen Hörer der Jahres 2000 fern klingen. Nicht daß das Interesse an einer Deutung der Wirklichkeit in unserer Zeit gering wäre. Es ist groß und es gibt viele Angebote. Die Welt und das Leben werden in ihrer Mannigfaltigkeit gedeutet, und die eine Deutung mag so gut sein wie die andere. Man sucht Grenzen, um sie zu sprengen, aber trotz der Mannigfaltigkeit und der Erprobung von Grenzen ist der Mensch des Jahres 2000 bei einem allzu engen Ausschnitt der Wirklichkeit angelangt. Dies gilt an sich für alle, auch für die Christen. Die Lage, in der wir uns befinden, hat natürlich eine lange Geschichte hinter sich, und wir können nicht hinter die Zeit der Aufklärung oder der Renaissance, die Naturwissenschaft und die Industrialisierung zurück, die eine Trennung zwischen Geist und Leib setzten und den Menschen in einer Welt zurücklassen, die er zwar messen, aber nicht mehr wahrnehmen kann, ohne sich gegenüber Gott und sich selbst fremd zu fühlen. Hier sind wir nun im 21. Jahrhundert Menschen, die machtvoll und frei sind, aber auch nur mit einem schmalen Streifen der Wirklichkeit, weil wir nur auf unsere eigene Wirklichkeit verwiesen sind. Und nun werden wir also Zuhörer dieses Lobpreises von Gottes Segen in den Himmeln in Christus, in dem das Getrennte wieder vereint wird. Hier redet einer wie ein Richter, der seine Geschichte gelesen hat und nun das Urteil fällt über die Welt, so wie diese ihr Urteil über ihn gefällt und ihn ins Gefängnis geworfen hat. Das Urteil ist gefällt. Er erzählt eine andere Geschichte von Gottes Verhältnis zur Welt, die nun verurteilt ist zur endgültigen Erlösung in Christus. Er überblickt die Geschichte und sammelt ihre Vergangenheit und Zukunft in einem einzigen Namen; eine Zukunft, die auch uns erreicht und über uns hinausweist und die uns darum umschließt.

Mit der Stimme des Lobpreises im Ohr haben wir also bereits ein gutes Stück zu unserem ansonsten dünnen Streifen Wirklichkeit hinzugefügt. Das zu sehen erfordert Glauben. So wie die Einsicht des Lobgesanges auf den Heilsplan Gottes auf der Einsicht des Autors beruht. Glaube daran, daß die Wirklichkeit die Versöhnung der Welt mit dem Menschen ist. Christus-Glaube nennt Paulus das - und Hoffnung darauf, daß es wirklich so sein möge. Amen.

Dr. Gertrud Yde Iversen
Fasanvej 21
DK-6240-Løgumkloster
Dänemark
e-mail: gyi@mail.tele.dk
Tel.: ++ 45 - 74 74 55 99


(zurück zum Seitenanfang)