Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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13. Sonntag nach Trinitatis, 17. September 2000
Predigt über Genesis 4, 1-16 (und 17),
verfaßt von Christoph Müller

Wenn wir die Geschichte nicht von vornherein von uns wegschieben,
beginnen wir meistens, irgendwo und irgendwie mitzuspielen.
Bin ich Kain?
Bin ich Abel?
Oder bin ich Kain und Abel?

Es ist eine Geschichte mit Widerhaken.
Wer sie hört, aufmerksam,
wer sie nicht bereits zu kennen glaubt,
wird mit Widerspruch reagieren,
mit Rückfragen jedenfalls.

Manche Zuhörer und Zuhörerinnen der Erzählung werden vielleicht spüren, dass sie in den beiden Rollen von Abel oder Kain nicht mitspielen wollen. Ist es nicht, so werden sie fragen,
eine Gewaltgeschichte,
die sie, wenn sie schon mitspielen sollten, anders gestalten würden?
Welche Rolle könnte zum Beispiel die Frau von Kain spielen, von der gleich nach dem Ende der gelesenen Geschichte erzählt werden wird –
(in einer wieder überraschenden Weise erzählt werden wird!)
dass sie nämlich mit Kain schläft und die beiden zusammen neues Leben ermöglichen?

Wir werden später auf diese merkwürdige Fortsetzung der Erzählung zurückkommen.
Wenn wir vorerst bei Kain und Abel bleiben,
wenn wir diese Geschichte noch nicht so lesen, dass wir bereits wissen, wie sie ausgehen wird -
wenn wir also hören, wie beide ihre Gabe vor Gott bringen,
aus dem Lebensbereich, der für sie lebenswichtig ist,
und es wird jetzt erzählt,
Gott habe auf Abel und sein Geschenk geschaut,
nicht aber auf dasjenige von Kain:
Weshalb diese gegensätzliche Behandlung der beiden Brüder?
Weshalb wird der eine beachtet, der andere nicht?
Weshalb soll das zählen, was Abel bringt, die Erstlinge der Herde -
und ohne Anerkennung bleiben, was Kain tut und von den Früchten des Feldes gibt?

Die Geschichte wird zu einem Geschichtchen, wenn diese Fragen schon gar nicht gestellt werden,
wenn die Erfahrung schon gar nicht mehr in den Blick kommt,
dass Menschen es tatsächlich so erleben:
andere werden vorgezogen – ich werde zurückgesetzt;
andere werden anerkannt, ich bleibe unbeachtet;
was andere tun, erscheint wertvoll, was ich tue, erscheint minderwertig -
und es gibt keinen ersichtlich Grund, weshalb das so sein müsste:
Ich habe mich nicht weniger bemüht,
ich habe keineswegs weniger gearbeitet,
ich bin keineswegs weniger begabt –
und trotzdem diese Zurücksetzung.

Es ist eine äusserst schwierige Erfahrung,
zurückgesetzt zu werden,
benachteiligt zu sein,
unbeachtet zu bleiben.

Und alles wird noch schwieriger dadurch, dass der Erzähler wie selbstverständlich Gott ins Spiel bringt und die Sache so deutet, als sei dies Gottes Absicht:
den einen grundlos zu bevorzugen und den andern ebenso grundlos zurückzustellen.

Wie kommt der Erzähler zu dieser Deutung?
Was meint er, wenn er berichtet, Gott habe auf Abel und sein Geschenk geschaut –
nicht aber auf Kain und die Gabe, die er Gott bringt?
Weshalb soll vor Gott sein Geschenk weniger zählen?
Der Erzähler hätte seine Geschichte ja auch anders gestalten können.
Er hätte erzählen können,
es sei Kain gewesen, der eine für ihn schwierige Erfahrung so gedeutet habe, dass Gott es sei, der ihn unbeachtet lasse und so willkürlich benachteilige.
Oder: Kain habe von vornherein mörderische Absichten gehegt und er habe Gott mit seinem Geschenk nur täuschen wollen.
Oder: Er habe seinen Bruder in den Schatten stellen und Gott mit einem viel grösseren Geschenk imponieren wollen.
Oder umgekehrt: er habe Gott natürlich nicht das Beste geben wollen, sondern nur Minderwertiges, Abfall sozusagen.

In der vergangenen Jahrhunderten und bis in unsere Tage haben viele Ausleger und Prediger die Geschichte tatsächlich so umgedeutet.
Sie wurde dadurch zu einer Moralgeschichte, die davon berichtet, wohin es zwangsläufig führt, wenn man so verlogen und gemein ist wie Kain;
oder sie wurde zu einer plumpen Belehrung darüber, wie allwissend Gott ist, und wie sündhaft die Menschen sind.

In der Geschichte, wie sie uns vorliegt, ist davon nicht die Rede.

Was also meint der Erzähler, wenn er berichtet, Gott habe auf Abel und sein Geschenk geschaut –
nicht aber auf Kain und die Gabe, die er Gott bringt?
Weshalb soll vor Gott sein Geschenk weniger zählen?
Was für ein Bild von Gott zeichnet er mit diesem Urteil?

Es ist jedenfalls nicht das Bild des „lieben Gottes“,
der immer so lieb ist, zu allen immer so verständnisvoll,
gerecht natürlich auch: lieb zu den Lieben,
gerecht gegenüber den Bösen.

Hier wird dies nicht erzählt.
Die Handlungsweise Gottes ist unverständlich, uneinsichtig.

Wahrscheinlich gibt es Hörer und HörerInnen der Geschichte, die sich eben deshalb in der Erzählung wiederfinden.
Haben sie selber nicht Gott genau so erfahren:
unverständlich,
in seinem Handeln völlig uneinsichtig?
Ungerecht, willkürlich?

Ist es nicht ein Gottesbild, das sich in bestimmten schlimmen Situationen aufdrängt,
wenn man Gott nicht daraus heraushalten will?
Auch Hiob kann sich in seinen finstersten Erfahrungen zeitweilig nicht mehr anders wahrnehmen denn als Zielscheibe, auf die Gott, der Feind, der erbarmungslose Schütze, seine Pfeile abschiesst.
Was hilft einem Menschen in solcher Verzweiflung?

Belehrungen und Ratschläge gehen ins Leere.
Sie gehen auch bei Kain ins Leere.
Was könnte ihn befreien?

Die Geschichte erzählt es nicht.
Sie behält auch hier ihre Widerhaken, wenn sie zwar sagt,
Kain sei nicht zum Morden verurteilt,
wenn sie die Möglichkeit seiner eigenen Entscheidung nicht bestreitet,
dann aber doch berichtet,
in atemberaubender Schnelligkeit,
wie der Mord geschieht, der unaufhaltbar erscheint.

Mit dem Brudermord droht Kain auch sich selber zu verlieren,
sein Lebensrecht, seine Würde,
auch die Erde, auf der er leben könnte.
Die Erde verbündet sich mit dem vergossenen Blut gegen ihn –
So kann sie nicht die Erde sein, die Kains Schritte noch tragen könnte,
die Erde, aus der er (wie es ganz am Anfang der Schöpfungsgeschichten vom Menschen hiess) genommen ist
und zu der er zurückkehren wird.

Und wie sollte er noch an seine Würde glauben können, wenn er das leugnet, was seine eigenen Hände getan und seine Augen gesehen haben?

Wie sollte er seine völlige Isolation noch durchbrechen können, wenn er alle Verantwortung gegenüber seinem Bruder abweist?

Das ist auch eine Gotteserfahrung, von der der Erzähler weiss, und die er in seiner Geschichte gestaltet:
Gott als Frage (nicht zuerst als Antwort),
Gott als Frage, unbestechlich,

Gott auch als Spiegel, in dem er eine bedrängende menschliche Erfahrung ohne Beschönigung wahrnimmt:
Sich in bestimmten Situationen auf der Erde heimatlos zu fühlen,
würdelos vor sich selber,
isoliert vor den anderen,
geradezu von Gott verflucht.

Wieder alles andere als die Erfahrung des „lieben Gottes“.

Was geschehen ist, kann nicht sanft zugedeckt werden.
Was geschah, ist und bleibt ein Mord.
Hier wird auch in der Bibel zum ersten Mal von „Sünde“ gesprochen.
Der „Sündenfall“ geschieht nach diesen Erzählungen auf den ersten Seiten der Bibel als Mord.
Dort geraten Menschen ins Netz der Sünde, wo Gewalt angewendet wird,
Gewalt von Menschen gegenüber anderen Menschen –
Und diese Gewalt, so wird hellsichtig erzählt, trifft auch die Erde.

Das wäre ja eine erstaunlich klare und konkrete Definition von Sünde gewesen.
Sie ist auch (trotz aller späteren Verdrehungen und Abstraktionen) nicht ganz verloren gegangen:
Bei vielen Propheten nicht –
und Jesus nimmt sie auf, wenn er in seinen Seligpreisungen diejenigen glücklich preist, die keine Gewalt anwenden,
und wenn er dies selber lebt:
durchaus nicht einfach als der „liebe Jesus“,
vielmehr in bestimmten Situationen auch aggressiv und hart,
aber nicht mit Gewalt, die Leben vernichtet,
und nie mit der lebensverachtenden Überzeugung, jeder Mensch sei von Grund auf böse und könne deshalb gar nicht anders als böse sein.

Das ist auch in unserer Geschichte nicht anders.
Es wird nicht erzählt, dass Kain morden musste.
Nichts wird davon gesagt,
er sei von Grund auf schlecht und könne gar nicht anders als schlecht sein und schlecht bleiben.

Es wird nichts beschönigt und entschuldigt.
Aber Kain wird ein Zeichen bekommen.
Das Zeichen ist nicht ein Schandmal (wie spätere Ausleger es wiederum völlig verdrehten),
es ist vielmehr ein Schutzzeichen:
er soll trotz allem leben können,
er soll nicht nur Mörder sein müssen.

Wer ist Kain?
Fühle ich mich nicht Kain manchmal nahe, auch wenn ich niemanden umgebracht habe?
Kenne ich nicht auch diese bittere, schwer erträgliche Erfahrung:
Andere in ihren Lebensmöglichkeiten beschnitten,
Anderen einen Teil ihres Lebens weggenommen zu haben,
bei andern Menschen etwas zerstört zu haben, das nicht wieder gut zu machen ist?
Gewalttätigkeit kann ja manchmal sehr subtil sein, unauffällig und deshalb nicht weniger grausam.
Ein Wort wirkte erstickend,
mit einer bestimmten Handlungsweise habe ich einen andern tief verletzt,
ein Stück Erde ist verschmutzt, schreit zum Himmel,
auch wenn ich dies alles zuerst nicht wahrhaben wollte.
Und jetzt?

Was geschehen ist, wird in unserer Geschichte nicht beschönigt,
nicht entschuldigt,
nicht einfach zugedeckt.

Aber die Geschichte endet hier nicht.
Kain erhält ein Schutzzeichen.
Der Erzähler bringt, wieder überraschend, eine Erfahrung Gottes als schützende Kraft ein:
Gott als überraschende Erfahrung eines Freiraums, der ihn vor der definitiven Verurteilung bewahrt,
vor der Verurteilung auch durch sich selber.

Ich kann mich selber wieder anders sehen lernen,
anders wahrnehmen:
Ja:
Ich bin ein Mörder,
Abel wird nicht mehr lebendig.
Und :
ich bin nicht nur der Mörder,
ich bleibe Gottes Geschöpf,
der Glanz der Gottebenbildlichkeit ist nicht verloren,
ich bleibe ein Mensch,
kostbar,
mit Würde begabt,
beziehungsfähig,
ich kann etwas bauen, aufbauen, neu gründen.

Wie es in der Fortsertzung heisst:

„Kain erkannte seine Frau, sie wurde schwanger und gebar Henoch. Kain wurde Gründer einer Stadt und benannte sie nach seinem Sohn Henoch...“

Das wird nun Kains Gotteserfahrung:
Ich werde geschützt vor definitiver Verurteilung nach der Weise: so bist du, so bleibst du, so war das gestern, so ist das heute und für immer.
Nein:
Als Kain sehe ich neue Perspektiven,
ich muss nicht vertuschen, was war,
ich kann hinsehen,
wahrnehmen, was war,
und eben so sehe ich auch Anderes:
Starkes,
Kreatives,
Kostbares.

Und Gott wird im Vertrauen erfahrbar,
mich wieder so, mit meiner unverlierbaren Würde, wahrnehmen zu können.

Kain kann sich wieder mit seiner unverlierbaren Würde wahrnehmen.
Und, so lese ich die Fortsetzung der Geschichte, Kain sieht auch die Würde seiner Frau,
nimmt sie wahr als seine Gefährtin.
Und offenbar geschieht dies auch umgekehrt.
Seine Gefährtin legt ihn nicht darauf fest, Mörder zu sein und zu bleiben.
Die Gewaltgeschichte erfährt eine neue Wendung:
Vitale, lebensschaffende Beziehungen kommen ins Spiel -
und ein Kind wird geboren.

Die Geschichte ist damit nicht zu Ende.
Es ist kein Happy End.
Die Geschichte wird weitergehen,
die Gewalt wird ihre Macht in vielfältigster Weise demonstrieren,
mit Morden ohne Zahl, und
die Menschenverachtung wird Triumphe feiern.

Deshalb ist es mir wichtig, die Kainsgeschichte weiter und wieder zu erzählen,
als Geschichte widerständiger, gegensätzlicher und eben so auch lebensvoller Gotteserfahrungen,
als Geschichte der Enttäuschung, der grundlosen Verletzung,
der mörderischen Aggression
und als Geschichte vom Kainszeichen,
vom Dennoch,
von Schutz und Bewahrung;
und von unwahrscheinlichen neuen Anfängen
mit Menschen, die einander ihre von Gott geschenkte Würde trotz allem wieder zu erfahren geben –
und mit der Erde, die mich trotzdem trägt.

Prof. Dr. Christoph Müller
Dekan der Evang.-theol.Fakultät Universität Bern
Länggassstrasse 51, CH 3000 Bern 9
Tel.: ++41 (0)31 631 80 45
Fax: ++41 (0)31 631 48 33
E-mail: christoph.mueller@theol.unibe.ch
http://www.cx.unibe.ch/theol/evang/dekan.htm


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