Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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14. Sonntag nach Trinitatis, 24. September 2000
Predigt über 1. Thessalonicher 1, 2-10,
verfaßt von Henry von Bose

Entscheidungen für die Predigt

Liebe Gemeinde,

mit diesem Abschnitt beginnt ein sehr persönlich gehaltener Brief, den der Apostel Paulus an die Gemeinde in Thessalonich geschrieben hat. Dieser Brief ist der älteste Teil des Neuen Testaments. Heutige Leserinnen und Leser lernen hier wie die damals in Paulus einen herzlich zugewandten Mann kennen. Er schreibt voller Wärme. Auch heute noch ist seine starke Verbundenheit mit den Menschen der kleinen Gemeinde dort in Nordgriechenland zu spüren. Ihm liegen ihre Erfahrungen mit dem Glauben an Gott am Herzen. Deshalb erinnert er sie an die Anfangszeit, als er zu ihnen gekommen ist und ihnen das Evangelium von Jesus Christus verkündigt hat. Gern wäre er bereits wieder gekommen, ist daran aber gehindert worden. Darum hat er von Athen aus seinen Mitarbeiter Timotheus nach Thessalonich geschickt, um ihre Widerstandskraft gegen verschiedene Bedrängnisse zu stärken. Schon hier, in diesem ersten schriftlichen Zeugnis des Neuen Testaments, wird dabei eine Erfahrung deutlich, die zum Christsein hinzugehört: sie wird heute ebenso gemacht wie damals. Wer andere zu trösten versucht, wer jemandem Mut macht angesichts von etwas Schwerem, das sie oder ihn bedrängt, der sieht auch selbst leichter an das hin, was ihn belastet. Trösten, ermutigen geschieht gegenseitig.

Paulus hat Grund, um die gerechte Würdigung seiner Arbeit hier in Thessalonich durch Christen aus anderen Orten besorgt zu sein. Ihm werden Unregelmäßigkeiten im Umgang mit den Kollekten vorgeworfen. Angeblich soll er Geld, das für die Armen in Jerusalem gesammelt war, für sich selbst verwendet haben. Gegen diesen Vorwurf des Betrugs wehrt er sich, indem er darauf pocht, ehrlich und glaubwürdig zu sein. Die Gemeinde in Thessalonich hat die Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde mit großer Ausdauer ernst genommen und sich davon auch nicht durch umlaufende Gerüchte abbringen lassen. Deshalb ist Paulus den Thessalonichern besonders verbunden, sie haben seine Position gestärkt. Was das für ihn bedeutet, ist daran zu erkennen, auf wie bereitem Raum er in seinem Brief seine Dankbarkeit entfaltet. Weil er aber dermaßen stark von dem Anliegen durchdrungen ist, den Glauben zu verkündigen und die vom Glauben geprägte Lebensweise nachzuzeichnen, liegt ihm daran, in der Art seines Dankes das Verständnis des Glaubens bei den Thessalonichern zu vertiefen. Er dankt nicht ihnen, sondern Gott.

Seinen Leserinnen und Lesern, den Gemeindegliedern, die bei der Verlesung des Briefes zuhören, wird dadurch noch einmal ihre Verbundenheit mit dem Apostel genauso wie seine mit ihnen deutlich. Es geht ihnen allen gemeinsam gleich. Gott hat sie erwählt, jede und jeden einzelnen in der Gemeinde nicht anders als den Apostel. Gott hat sie befähigt, sein Wort aufzunehmen, von ihm bekehrt zu werden und ihm, dem lebendigen und wahren Gott zu dienen. So ist ihnen allen Gottes Liebe zur Erfahrung geworden.

Die einzelnen lassen den Glauben wirksam werden, wenn sie Gottes Willen wahrnehmen und befolgen; sie scheuen die Mühe der Liebe nicht, die sorgfältige und zeitaufwendige Zuwendung zu Notleidenden macht; sie bewähren standhafte Ausdauer in der Hoffnung auf die Wiederkunft des Herrn Jesus Christus und sind darin frei von Angst vor Gott: bei alledem wissen sie, dass der Glaube im Alltag nur so zu leben ist, wie er in ihnen begonnen hat – in der Kraft des heiligen Geistes. Dass diese Kraft in Thessalonich erlebt wird, dafür dankt Paulus Gott allezeit, immer wieder. Von diesem Dank schreibt er der Gemeinde und zeigt ihr damit, dass danken zur Sprache des Glaubens gehört. Glauben, lieben und auf Jesus Christus hoffen können, das tun Menschen nicht aus ihrer eigenen Kraft, das bewirken nicht sie selbst, dazu werden sie durch den heiligen Geist befreit, erwählt. Der Geist Gottes und Jesu Christi wirkt es an ihnen. In der Sprache des Glaubens danken Menschen deshalb, wenn es ihnen um die Erfahrung des Wirkens Gottes geht.

Damals schreibt Paulus es den Thessalonichern in seinem sehr persönlichen Brief. Wie wahr es ist, erschließt sich seitdem den Menschen in der Kraft des heiligen Geistes nicht anders als den Christen damals. Das Geschehen gleicht sich stets. Der heilige Geist führt Gottes Erwählung der einzelnen Menschen aus; er bringt die Kraft zur Bekehrung und zum anhaltenden Glauben, Lieben und Hoffen durch die Verkündigung einzelner in die Gemeinden. Das ausgelegte Wort Gottes trifft Menschen, sie können es in der Kraft des Geistes aufnehmen und gewinnen dadurch selbst die Ausstrahlung, die auf andere wirkt; denen werden sie zum Vorbild. So beschreibt Paulus es am Beispiel der Thessalonicher. Ihre vorbildliche Ausstrahlung prägt die Gemeinden, nah und fern in der Ökumene, die davon hören, mit, die ahmen sie nach. So wirkt der Geist im Weitergeben und Weiterwirken vom einen zum andern. Das geschieht ganz wunderbar und ist wirklich ein Wunder. So ist es damals gewesen und so ist es noch heute. Wo sich einzelne zum Glauben erwählt wissen dürfen und zur Gemeinde zugehörig, erleben sie dasselbe wie die Menschen vor annähernd 2000 Jahren. Sie teilen dieselbe Dankbarkeit mit ihnen. Und sie wissen sich heute wie die Christen in Thessalonich damals gesegnet, Gott danken zu können. Ein alter Hausspruch im graubündischen Chur sagt es so: „Dem, den Gott liebt, er auch ein Herz zum Danken gibt.“

Liebe Gemeinde, die Freude, Gott danken zu können, gehört mit einer tiefenscharfen Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit der Menschen in der Gemeinde zusammen. In der Verantwortung des Seelsorgers nimmt Paulus die Bedrängnisse der Gemeinde in Thessalonich ernst. Erwählt zu sein, bedeutet zu keiner Zeit, bewahrt zu sein vor den Gefahren des Scheiterns mit der eigenen Verantwortung und den Zumutungen, wenn im Umfeld der Gemeinden ihre Lebensäußerungen missverstanden oder bewusst verachtet werden. Die jüdische Gemeinde in Thessalonich hat es keineswegs mit Wohlwollen gesehen, dass nach den drei Auftritten des Apostels in ihrer Synagoge einige Gemeindeglieder zusammen mit etlichen Griechen Christen wurden. Es kam zu einem Aufruhr, hören wir in der Apostelgeschichte (17,1-9), und die junge christliche Gemeinde blieb lange Diffamierungen ausgesetzt, sie musste auf die soziale Anerkennung und Integration in der großen Hafenstadt verzichten. Diese leidvolle Erfahrung erhellt den Hintergrund, vor dem Paulus schreibt: „Ihr habt das Wort aufgenommen in großer Bedrängnis mit Freuden im heiligen Geist!“ (V. 6). Im 3. Kapitel seines Briefes erinnert Paulus daran, dass er Timotheus zu ihnen gesandt hat, um sie zu stärken, „damit nicht jemand wankend würde in diesen Bedrängnissen“ (V. 2+3).

Paulus schreibt wohlabgewogen und wieder im Blick auf die Mitte der Glaubenserfahrung: „in großer Bedrängnis mit Freuden im heiligen Geist“. Wo Menschen standhalten im Glauben und sich gegenseitig in der Hoffnung bestärken zum Aushalten, zum Widerstehen und zum Beharren bei den Geboten Gottes, die Menschen und die Schwachen zumal zu lieben, - da ist der heilige Geist geradeso am Werk wie in der Freude der einzelnen, Gott danken und dienen zu können. Bedrängnis und Freude schließen einander nicht aus: sie sind oft wie die Innen- und Außenseite derselben Wirklichkeit.

Beispiele für die Bedrängnisse einer Gemeinde lassen sich leicht finden. Ein Blick etwa auf die wechselvolle Geschichte Thessalonichs macht sie anschaulich. Als Paulus zum ersten Mal dort ankommt, ist die nach einer Halbschwester Alexanders des Großen benannte Stadt bereits 400 Jahre alt. Sie liegt an einer der wichtigsten Handelsstraßen des römischen Reiches, der Via Egnatia. Der römische Kaiser Galerius machte die Stadt anfangs des 4. Jahrhunderts zur Hauptstadt des Römischen Reichs, ehe Konstantin ihr diesen Rang wenig später wieder nimmt. Der bis heute als Schutzpatron der Stadt verehrte Dimitrios ist in der Zeit schon als Märtyrer gestorben: der dort geborene römische Offizier hat heimlich das Evangelium gepredigt. Über seinem Grab wird hundert Jahre darauf eine fünfschiffige Basilika errichtet. Diese nutzen 1000 Jahre später Türken als Moschee. Zuvor haben sich in einer elfhundertjährigen Geschichte byzantinische und römisch-katholische Herrscher keineswegs friedlich abgewechselt. Nach einem kulturell „Goldenen Zeitalter“ im 14. Jahrhundert mit zahlreichen neuen Kirchenbauten gliedern 1430 osmanische Herrscher die Stadt für 482 Jahre ihrem Reich ein. Die Kultur der Stadt prägen dann vom Ende des 15. Jahrhunderts an schon bald jüdische Bürger, ashkenasische aus Bayern und Ungarn, mehr aber noch sephardische aus Spanien und Italien, die vor christlichen Herrschern auf der Flucht sind und vom Sultan in der seit der Eroberung fast menschenleeren Stadt Asyl geboten bekommen. Sie entwickeln Thesalonich zu einer blühenden Wirtschafts- und Kulturmetropole, die in der jüdischen Welt bald „Mutter Israels“ genannt wird. Nach einer Auswanderungswelle nach Palästina 1917 leben noch 50 000 Juden in der Stadt, als 1943 die Deportationen in Viehwagen in die deutschen Konzentrationslager beginnen. 45 560 jüdische Menschen sind nach Birkenau deportiert worden. Nur 10 000 Juden aus Thessaloniki überleben den Holocaust, 2000 kehren in die Stadt zurück.

In diesen Jahrhunderten: wieviel Bedrängnissen von außen und von innen müssen mal an Zahl verschwindend kleine, mal mächtig große Gemeinden in Thessalonich standzuhalten gehabt haben. Wo immer sie dem lebendigen und wahren Gott zu dienen vermochten, an Glaube, Liebe und Hoffnung festhalten konnten, - es war für sie Erfahrung des heiligen Geistes.

Heute wirkt Thessaloniki wie eine normale, weithin säkularisierte Großstadt. Die orthodoxen Kirchen sind an Festtagen übervoll, zu den übrigen Gottesdiensten spärlich besucht. Die kleine deutschsprachige evangelische Gemeinde nimmt sich beispielhaft besonders der deutschen Ehefrauen rückgewanderter Griechen, der ehemaligen sogenannten Gastarbeiter, Arbeitsmigranten an; viele der Frauen sind geschieden, können nicht in ihre ursprüngliche Heimat zurück und leben allein – ein wahrhaft bedrängtes Leben. Sie haben hier in der Gemeinde mit ihrer großen Bindekraft Hilfe beim Bewahren ihrer Identität. Schwer nachzuvollziehen ist die Sprödigkeit der orthodoxen Gemeinden der evangelischen Gemeinde gegenüber. Kaum zu verstehen ist aber auch, wie wenig von ihnen wahrgenommen wird, mit welch großen sozialen Problemen zurückgekehrte Arbeitsmigranten zu kämpfen haben, die oft Jahrzehnte im Ausland gelebt haben.

Gemeinden, die sich schwer tun, die Bedrängnisse der Gemeindeglieder zu erkennen und gelten zu lassen – sie liegen in Thessaloniki an der Meeresbucht, jenseits derer der Olymp aufsteigt, damals nach den Vorstellungen der antiken Welt Wohnort der Götter. Dort hat Paulus gestanden, es ist ein Anblick, der kaum vergessen wird. „Sich von den Abgöttern bekehren, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott“, das vermochten in der Kraft des heiligen Geistes die ersten Christen in Thessalonich damals.

Das Bild vom fernen schneebedeckten Olymp als Wohnort der Götter kann in zweierlei Hinsicht erinnert werden. Einmal kann es die Frage wach halten, ob die Sehnsucht nach persönlichen Höhenflügen das Herz so ausfüllt, dass der Geist Gottes es schwer hat, sich Raum in mir zu schaffen. „Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz“, hat Jesus gesagt (Mt 6,21), und bei den Chassidim heißt es: Wer seiner selbst voll ist, in dem hat Gott keinen Raum. Der faszinierende Berg wird hier zum Sinnbild für Unbescheidenheit und die Gefahr, den Bedrängnissen anderer gegenüber verschlossen zu sein.

(Hierher passt ein aktueller ortsnaher Bezug zur am Sonntag beginnenden Woche der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, landeskirchlicher Aufruf o. ä.)

Die andere Sicht auf den hohen Berg ist ein Bild für die beklemmende Angst, nicht über die Probleme hinauszublicken, nicht zu schaffen und damit fertig zu werden, was sich so hoch auftürmt.

Eine Bedrängnis, deren Urheber ein Mensch sich selbst in seiner Not und Krankheit ist, wird in diesem Jahr in den Kirchengemeinden aufzunehmen gebeten. 2000 ist vom Vorstand der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren zum „Jahr der Angehörigen Suchtkranker“ erklärt worden. In jeder Gemeinde leben Alkoholkranke. 4 Millionen sind es in Deutschland, ihre Angehörigen werden auf 8 Millionen geschätzt, jede 10. Familie ist von Alkoholproblemen betroffen. Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe sorgen in Orts- und Landesverbänden mit ihrem diakonischen Selbstverständnis durch Besuchsdienste, vielfältige persönliche Kontakte und Hausbibelkreise für Zusammenhalt unter diesen Familien. Sie stützen sich gegenseitig und helfen einander, das lebensbestimmende Krankheitsbild Alkoholabhängigkeit in einer gesunden Lebensführung zu integrieren. In einem Freundeskreis wird erlebbar, wie bewusst Bedrängnis und Freude zusammengehalten werden können, aber auch wie Dienst an Gott und gegenseitige Begleitung zusammengehören, damit sich nicht wieder ein unüberwindbarer Berg vor einem einzelnen erhebt.

Der Olymp jenseits des Meeres von Thessaloniki: wofür er auch ein Bild ist, es tut jedenfalls gut, dem Seelsorger der antiken Christengemeinde zu folgen. Paulus schreibt am Ende seines Briefes: „Wir ermahnen euch aber, liebe Brüder: Weist die Unordentlichen zurecht, tröstet die Kleinmütigen, tragt die Schwachen, seid geduldig gegen jedermann.“

Amen.

Entscheidungen für die Predigt:

Die Frage, wie jemand Christ wird und bleibt, wird in unseren Gemeinden und kirchlichen Werken nicht selten gestellt. Sie ist natürlich bereits eine Frage der ersten urchristlichen Gemeinden und wird in der Theologie des dritten Artikels beantwortet. Dass eine Bekehrung (V. 9) ihre Bedingung der Möglichkeit in der Erwählung (V. 4) hat und Gottes wunderbares Werk ist, scheint als befreiendes Evangelium weiterhin wenig bewusst zu sein. – Der zweite Schwerpunkt des Textes und das zweite Predigtthema mit dem Verhältnis von Freude und Dank hier und Bedrängnis dort ist für mich V. 6 b.

Meine Liebe zu Thessaloniki verdanke ich regelmäßigen Besuchen bei dem vom Diakonischen Werk Württemberg geförderten kleinen Rückkehrerberatungszentrum. Wem der historische Passus zu lang ist, lässt ihn am besten weg.

Zu achten ist auf einen Einschub zur Interkulturellen Woche.

Henry von Bose, Kirchenrat
Klopstockweg 13, 72076 Tübingen
e-mail: vonBose.H@diakonie-wuerttemberg.de


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