Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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15. Sonntag nach Trinitatis / Erntedank, 1. Oktober 2000
Predigt über 1. Timotheus 4, 4–5,
verfaßt von Hans–Gottlieb Wesenick

Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.

Liebe Gemeinde,

wir feiern heute Erntedankfest. Viele von Ihnen sind mit dankerfülltem Herzen hierher gekommen. Aber nicht alle sind in gleichem Maße dankbar gestimmt. Bei manchen stehen unüberhörbar Fragen nach dem Sinn dessen im Vordergrund, was gerade sie erlebt haben und was sie bedrückt. Ihnen fällt es schwer, dem standzuhalten, was ihren Lebensweg verändert hat oder möglicherweise demnächst verändern könnte. Das kann schmerzhaft sein. Das kann Angst machen. Aber ausgehaltene Angst und durchlebter Schmerz sind nicht nur Auswege aus stark empfundener Sinnlosigkeit eines Menschenlebens, sondern sie können auch zu Meilensteinen auf dem Weg in die Dankbarkeit werden. Danken können braucht Zeit. Die wollen wir uns gegenseitig einräumen.

Denn – ich spreche es noch einmal deutlich aus – heute ist Erntedankfest. Wir wollen also versuchen, diesen Tag anzunehmen und zu bedenken, denn damit sind wir Gott auf der Spur. Ein Theologe unserer Tage hat das einmal so formuliert: „Auf den Gesang eines Vogels will ich hören. Auf kleine alltägliche Dinge will ich achten: auf hungrige Tiere im Winter, auf Pflanzen und auf Blumen, auf die Luft, von der ich lebe, auf das Wasser, das immer für mich da ist. Ich möchte bescheidener sein und lernen, mit anderen zu teilen: Brot und Wein, die Früchte der Erde, mein Leben.“

Zu solch einem Entschluß möchte das Erntedankfest auch uns führen. Es erinnert uns daran, daß es an jedem Tag des Jahres immer auf’s neue viele Gründe zum Danken gibt:

  • zum Danken für unser tägliches Brot und alles, was damit zusammenhängt – daß wir das alles tatsächlich Tag für Tag bekommen und empfangen und genießen dürfen;
  • zum Danken für die Menschen, denen wir wiederum das tägliche Brot verdanken, von denen wir es empfangen, die es durch ihre Arbeit gewonnen, zubereitet, verteilt haben.

Denken wir darüber nur einen kurzen Augenblick lang nach, dann haben wir diese Menschen sofort vor Augen: die Landwirte, deren Beruf es ist, zu säen und zu pflanzen, zu pflegen und zu ernten, was auf den Feldern wachsen kann, die Geflügel, Schweine und Rinder aufziehen und füttern, von deren Fleisch wir leben. Vor Augen haben wir auch all die Menschen in den Genossenschaften und Handelsorganisationen, die für die Sammlung und Verteilung dieser Lebensmittel sorgen, ferner all die Menschen auf Märkten und in den Geschäften, bei denen wir kaufen, was wir brauchen. Wir denken an die Schlachter und Bäcker, an die Arbeiter in den Molkereien und Lebensmittelfabriken, an die Fahrer der Lieferwagen, und wir denken an unsere Hausfrauen, an unsere Mütter, an die Mitarbeiter in den Großküchen und Gaststätten, an all die Menschen, die einkaufen, nach Hause schleppen, zubereiten und austeilen, was wir Tag für Tag als unser tägliches Brot verzehren. Sie und noch viel mehr Menschen, die ich hier nicht alle nennen kann, lassen durch ihre Hände die guten Gaben Gottes gehen, von denen wir Tag für Tag nehmen – ganz selbstverständlich.

Heute wird hier am Altar – ebenso wie in vielen anderen Kirchen – in überreicher Fülle beispielhaft ausgebreitet, was uns an solch täglichem Brot in diesem Jahr wieder zugewachsen ist. Wenn wir das betrachten und uns daran freuen, dann haben wir konkret vor Augen, wofür wir Gott unseren Dank sagen wollen und können. Denn das müssen wir doch alle mit Dankbarkeit feststellen: es ist, alles in allem, ein gutes Jahr geworden. Gewiß, gegen Ende des Frühjahrs war es sehr trocken, und in der normalen Erntezeit gab es viele Regentage. Nicht alles Getreide konnte zu bester Qualität reifen. Einiges mußte vor der Zeit eingebracht oder aufwendig nachgetrocknet werden. Aber die Hackfrüchte sind gut, Kartoffeln gibt es reichlich in guter Qualität. Ihre Preise sind nicht in den Keller gerutscht, und auch die Schweine bringen wieder Geld. Die Beerenobsternte war vorzüglich, und auch die Obstbäume hängen voller Früchte. Ja, es ist ein gutes Erntejahr.

Und ich hoffe, wir begreifen alle, daß und wie wieder einmal für uns gesorgt ist von dem Schöpfer und Geber all dieser Gaben und durch ihn von all den Menschen, die mit ihrer Arbeit an diesem Segen beteiligt sind. Da können wir doch wirklich nichts anderes tun als Gott mit Herzen, Mund und Händen zu danken – auch und gerade dann, wenn wir wissen, daß moderne Landwirtschaft keine Idylle ist, sondern ihre handfesten Probleme hat. Die sollen nicht beiseite geschoben oder verharmlost werden, nein, gewiß nicht. Aber ich meine, am Erntedankfest stehen nicht sie im Mittelpunkt, sondern heute ist unser Hauptthema der Dank, zu dem wir trotzdem allen Anlaß haben.

Freilich ist dies Wörtchen „Danke!“ auch ein recht schweres Wort. Es geht dabei ja nicht nur um das „Danke!“–Sagen, sondern auch immer zugleich um das „Danke!“–Denken und das „Danke!“–Fühlen. Solche den ganzen Menschen erfüllende Dankbarkeit ist offenbar eine schwere Kunst geworden, und viele haben sie fast verlernt. Dabei ist es doch so: wenn wir die Dankbarkeit verlernt haben, dann nehmen wir unserem Leben jede Freude und Farbe. Es erscheint uns dann nur noch grau in grau, als ewiges Einerlei, als Schuften und Rackern für nichts und wieder nichts.

Demgegenüber möchte uns das Bibelwort aus dem 1. Timotheusbrief jedenfalls eine andere Art zeigen, zu leben und zu danken: „Alles was Gott geschaffen hat ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird.“

Fantasie und Liebe, Augen, Ohren und alle Sinne zu wecken für das scheinbar Selbstverständliche, das so Alltägliche, das kann unser Leben bunter, schöner, reicher und glücklicher machen, auch wenn es äußerlich zu den immer gleichen und zuweilen sogar zu bescheideneren Bedingungen verläuft als zuvor einmal. Aber wenn wir versuchen, künftig bei dem, wovon wir täglich leben, bewußt auf das zu achten, was im Grund großartig und ein unwahrscheinliches Geschenk unseres Gottes an jeden von uns persönlich ist, dann können wir die Dankbarkeit auch wieder lernen. An solcher Dankbarkeit nämlich kann unsere Seele aufatmen. Da können ihr Kräfte zufließen, mit denen sie auch die schweren und bitteren Tage zu bestehen vermag, jene Tage, die Enttäuschungen und Fehlschläge bringen und uns deshalb zuweilen Mut und Zuversicht zu rauben drohen. Nein, wer danken kann, der stöhnt weniger. Wer danken kann, dem werden Lasten leichter.

„Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut“ – wenn es dankbar empfangen wird. Unsere Bereitschaft zur Dankbarkeit kann zum Maßstab für unser Leben und seine Qualität werden:

  • Nicht was wir arbeiten und wie groß unsere Erfolge dabei sind, sondern ob wir dankbar für unsere Arbeit und unsere Erfolge sind, ist für unser Glück entscheidend.
  • Nicht wie gesund und leistungsfähig wir sind und was wir damit zuwege bringen, sondern ob wir dankbar sind für unsere Gesundheit und Leistungsfähigkeit, die Gott uns schenkt, ist für unser Glück entscheidend.
  • Nicht wie tüchtig unsere Kinder sind, welche Zensuren sie nach Hause bringen und wozu, ist entscheidend, sondern daß sie unbeschwert leben und lernen können und ob wir Gott dafür danken, daß er uns diese Kinder anvertraut hat.
  • Nicht wie groß und wie gut die Ernte ist, die wir in diesem Jahr eingebracht haben, sondern wie groß unsere Dankbarkeit gegenüber dem Geber dieser guten Gaben ist, hat die größte Bedeutung.
  • Nicht was auf dem Tisch steht, an dem wir essen und trinken, ist wesentlich, sondern mit welcher Einstellung wir uns miteinander zu Tisch setzen: Können wir dankbar sein und uns freuen, daß wir wieder einmal satt werden dürfen? Dankbar, daß wir beieinander sein können um diesen Tisch herum, miteinander reden, uns aussprechen können? Dankbar also auch für die Menschen, die Gott uns in Familie und Freundschaft mit auf den Weg geschickt hat? Viele Mitmenschen müssen jede Mahlzeit tagaus tagein allein einnehmen, ohne familiäre Gemeinschaft, ohne Gesprächspartner.

„Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut. Und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird! Denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.“

„Geheiligt“ – das meint: gut, wertvoll, Leben schaffend und erhaltend, von Gott gesegnet und darum heilsam, wohltuend, hilfreich. Mit viel so „Geheiligtem“ beschenkt uns Gott Tag für Tag. Aber verstehen und genießen können wir’s erst, wenn wir es als sein gutes Reden und Tun „mit Danksagung“ entdecken und empfangen. Darum ist es wichtig, daß wir die Kunst des Dankens wieder lernen, diese schwere, manchem peinliche, manchem entbehrliche, von manchem vergessene Kunst. Stück für Stück müssen wir sie neu lernen, vielleicht zunächst nur im Stillen, vielleicht eines Tages doch wieder mit gefalteten Händen, wenn wir uns zu Tisch setzen und entschlossen wieder mit dem Tischgebet beginnen, das lange Zeit vergessen oder verdrängt war.

„Auf den Gesang eines Vogels will ich hören. Auf kleine alltägliche Dinge will ich achten: auf hungrige Tiere im Winter, auf Pflanzen und Blumen; auf die Luft, von der ich lebe, auf das Wasser, das immer für mich da ist. Ich möchte bescheidener sein und lernen, mit anderen zu teilen: Brot und Wein, die Früchte der Erde, mein Leben.“

„Teilen“, liebe Gemeinde, das ist das Zweite, wozu uns das Erntedankfest auffordert. „Danken“ und „Teilen“ gehören zusammen. Beides möchte unser Leben bunter und reicher machen, Vieles teilen wir ohnehin, auch ohne daran zu denken: die Luft zum Atmen, die wärmende Sonne, das Wasser, das wir trinken oder mit dem wir uns erfrischen. Aber es käme wohl darauf an, daß wir bewußter teilen als bisher: daß wir Verantwortung mit dafür übernehmen, daß Wasser, Luft, Erde, Pflanzen, Tiere auch künftig leben und Leben schenken und erhalten können, daß auch die Generationen nach uns Gottes Schöpfung als „gute Schöpfung“ erfahren dürfen. Auch mit ihnen nämlich haben wir zu teilen, wenn wir heute mit gutem Gewissen das Unsere genießen wollen. Die Welt und all ihre Möglichkeiten, eben Gottes gute Schöpfung, empfangen wir aus seiner Hand. Wir dürfen sie gestalten und nutzen, wir dürfen sogar, wie es in der Bibel heißt, über sie herrschen. Aber sie ist uns nicht ausgeliefert. Sie ist uns anvertraut, um sie zu bewahren. Darum ist es Gottes Wille, daß wir verantwortlich mit dem umgehen, was er geschaffen hat, behutsam, partnerschaftlich, ja brüderlich – nicht als Eroberer und Ausbeuter.

Gott möchte auch, daß wir mit denen teilen, die als nahe wie als sehr ferne „Nächste“ nicht genug tägliches Brot haben. Er möchte, daß wir aus einem Teil unseres Brotes ein Stück Brot für die Welt machen. Denn wer empfangen hat, kann auch geben, und noch niemand hat sich arm gegeben.

Immer, wenn wir Brot teilen, geraten wir ja in die Gemeinschaft und den Segen dessen, der selber dieses Brot mit Danksagung empfangen, gebrochen und mit seinem Segen weitergegeben hat, Jesus Christus. Von ihm wollen wir lernen, mit ihm wollen wir leben, wenn wir das versuchen: „Ich möchte bescheidener sein und lerne, mit anderen zu teilen: Brot und Wein, die Früchte der Erde, mein Leben.“ Dazu wolle Gott uns seinen Segen geben.

Amen.

Pastor i. R. Hans–Gottlieb Wesenick
Stauffenbergring 33, 37075 Göttingen
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