Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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18. Sonntag nach Trinitatis, 22. Oktober 2000
Predigt über Jakobus 2,1-13,
verfaßt von Paul Kluge

Liebe Gemeinde!

Sie hatten eine längere Dienstreise hinter sich. Gemeinsam mit einer kleinen Kommission hatte Jakobus die Gemeinden in der Diaspora visitiert. Kleine Gemeinden waren es zumeist, die in andersgläubiger, in überwiegend heidnischer Umgebung lebten. Auf dem ersten Teil der Rückreise hatten die Mitglieder der Visitationskommission nur wenig geredet, teils auch geschlafen. Ein Dutzend Gemeinden hintereinander zu visitieren, war anstrengend: Berichte entgegennehmen, Bücher überprüfen, und immer wieder an Presbyteriumssitzungen und an Gottesdiensten teilnehmen. Im Kopf des Jakobus rotierten Gedanken und Erinnerungen: Ein- oder zweimal während der Visitationsreise hätte er am liebsten den Gottesdienstraum unter lautem Protest verlassen: Kläglicher Gesang, und die Prediger konnten weder sprechen noch reden noch hatten sie etwas zu sagen. Kein Wunder, daß diese Gemeinden schrumpften. Dann hatte er Gottesdienste erlebt, die unter die Kategorie „gut gemeint“ fielen: Man hatte sich angestrengt, aus Anlaß der Visitation etwas besonderes auf die Beine zu stellen - doch für ihn war es anstrengend gewesen, gutwillig zu bleiben. Einige hatte er auch erlebt, die eine Liturgie mit allem drum und dran zelebrierten; eine Diakoniekasse aber hatten sie nicht.

Doch es gab auch Erfreuliches: Gemeinden, die fest in ihrem Glauben standen, ein klares, unverwechselbares Profil hatten; Gemeinden, in denen nicht nur Prediger und Älteste, sondern auch Gemeindeglieder aktiv missionierten und neue Mitglieder warben, Gemeinden, die wuchsen und zunehmend an Einfluß und Ansehen in ihrem Ort gewannen. Das kam schon dadurch, daß man auf sie aufmerksam wurde, daß sie bekannt waren und man deshalb auch mit ihnen rechnete.

Das alles würde Jakobus in seinem Visitationsbescheid erwähnen müssen, und er wollte einen für alle schreiben, wollte die Gemeinden auf einander hinweisen, damit sie voneinander lernten. Insgeheim hoffte er, daß sie in einen gesunden Wettlauf gerieten um schöne Gottesdienste, um gute Prediger und Älteste, vor allem aber um neue Mitglieder. Denn die waren aus mindestens zwei Gründen nötig: Einmal aus dem ganz praktischen Grund des Weiterbestehens und des Spendenaufkommens. Dann aber auch und vor allem, weil die Botschaft von Gottes Liebe und der Erlösung durch Jesus Christus allen Menschen gleich gilt. Darum sollten, ja, mußten doch alle Menschen davon erfahren. Und die Gemeinden sollten, sie mußten der Ort sein, wo die Menschen diese Liebe Gottes erleben können sollten.

Leider war das nicht überall der Fall. Manche Gemeinde hatte sich abgekapselt und führte ein stilles Leben im Verborgenen. Man war sich selbst genug, kannte und mochte sich, freute sich, dazuzugehören - und das war’s. Kein Gedanke an die Zukunft der Gemeinde, der Kirche. In solchen Gemeinden hätte Jakobus jeden einzeln schütteln, wachrütteln mögen, denn sie waren dabei, Gottes Angebot an alle Menschen zu einer Spezialität für einige wenige Auserwählte zu machen.

Andere Gemeinden - auch sie gehörten zu den wachsenden, aber sie entwickelten sich zu wilden Trieben - gingen gezielt auf bedeutende örtliche Persönlichkeiten zu, umwarben und hofierten sie, räumten ihnen Ehrenplätze ein und sonnten sich in ihrem Glanz. „Jede Gemeinde“, dachte er, „soll doch eine Sonne sein, durch die das Licht des Lebens in die Finsternis der Welt scheint. Und jeder einzelne Christ auch. Doch manche sind wie Monde, die nur das Licht anderer spiegeln und sich dann für große Leuchten halten. Sie knicksen und dienern vor den Größen der Welt - und merken gar nicht, wie lächerlich und - vor allem - unglaubwürdig sie dadurch wirken. Denen muß ich einen besonderen Abschnitt in meinem Bescheid widmen:“ Und wie es so seine Art war, fing Jakobus gleich an, in Gedanken zu formulieren:, was er dann später aufschrieb

Jak 2, 1 - 13

Mit seinen Worten zufrieden, schlief er ein. Als er wieder wach wurde, regte sich gerade jemand auf: „Wenn vor Gott alle Menschen gleich sind, dann doch wohl auch untereinander!“, und Jakobus, dem es peinlich war, daß er geschlafen hatte, reagierte gleich: „Ja, ja, das meine ich auch.“ Der andere redete heftig gestikulierend weiter: „Manche Gemeinden entwickelten sich zu einer Zwei- oder auch Mehrklassengesellschaft. Aber anders als noch bei Paulus nicht aus Juden und Griechen, sondern aus Armen und Reichen, aus Gebildeten und Ungebildeten, aus Prominenten und Fußvolk. Die einen sitzen im Gottesdienst auf besonderen Sesseln, die anderen hocken auf den Stufen. Aber es gibt kein oben und unten zwischen Christen. Gott allein ist ‘oben’, und folglich sind wir alle unten!“ Der Redner hatte so heftig gestikuliert, daß es just in diesem Moment von seinem Platz auf den Boden rutschte. „Und du bist jetzt ganz unten!“ frotzelte jemand, und alle lachten. Dann halfen sie ihm wieder auf seinen Platz; kein leichtes Unterfangen bei seiner Leibesfülle. „Das kann uns ein Beispiel sein,“ meinte Jakobus, „ein Beispiel dafür, daß wir alle auf die gleiche Ebene gehören. Denen, die gefallen sind, helfen wir auf, und die sich über andere erheben, holen wir auf den Boden der Realität zurück.“ Ein Kommissionsmitglied, ein hochgebildeter und angesehener Lehrer, zudem Mitglied im Rat der Stadt, räusperte sich vernehmlich. Dann fragte er: „Und was ist mit den Unterschieden, die nun einmal da sind? Es gibt Reichere und Ärmere in den Gemeinden, Gebildetere und Ungebildetere; es gibt Menschen mit mehr und welche mit weniger Einfluß. Soll man auf das, was manche an mehr haben, verzichten?“ Einen Augenblick lang war es recht still in der Runde, denn jeder dachte an das Geld der Reichen, das sie dringend benötigten, dachte an das Wissen der Gebildeten, das ihnen allen zu Gute kam, an die Möglichkeiten der Einflußreichen, von denen sie alle profitierten. „Diese Leute sind wichtig, und deshalb muß man sie pflegen,“ dachten sie. Wieder räusperte sich der Lehrer vernehmlich, dann fragte er weiter: „Oder sollen die, die mehr haben, ihr Mehr für andere Menschen einsetzen, für die Gemeinde z. B., und auch für andere, die weniger haben? Soll nicht der, der zwei Mäntel hat, einen dem geben, der keinen hat, wie geschrieben steht? Ein Mantel genügt doch wohl.“ Dem stimmten alle sofort zu, obwohl sie alle mehr als einen Mantel besaßen. Aber im Prinzip war das richtig.

Einer in der Runde hatte bisher geschwiegen, wie er meistens in Diskussionen schwieg. Denn als Bauer fühlte er sich den anderen an Einfluß, Bildung und Geld unterlegen. Doch nun fragte er, ob er auch mal was sagen dürfte. Alle horchten auf, und das machte ihn verlegen. Nach einigem Gestammel sagte er schließlich: „Wenn vor Gott alle Menschen gleich sind - das heißt doch wohl, daß wir uns dann als gleichwertig achten sollen. Ob einer studiert hat oder nicht lesen und schreiben kann wie ich. Wir sollen unseren Nächsten lieben, darauf kommt es an. Wir sollen Gottes Gebot halten. Das ist sozusagen ein Gesetz mit zehn Paragraphen. Wer gegen einen Paragraphen verstößt, verstößt gegen das ganze Gesetz. So einfach ist das. Den Nächsten lieben, egal, wer der ist, das meint doch: ihn achten. Ob der nun aus der Gosse kommt oder im Stadtrat sitzt oder der Kaiser von China ist, das ist doch egal. Mein ich jedenfalls.“

Die anderen waren erst einmal still, sie hatten dem nichts hinzuzufügen. Er hatte ja Recht, denn Geld und Bildung und Einfluß sollten unter Christen keine Unterschiede herstellen. „Wer aber mehr hat,“ meldete Jakobus sich zu Wort, „der soll es für die einsetzen, die weniger haben. Eben. damit es kein unterschiedliches Ansehen von Menschen gibt. Wer in der Welt Rang und Namen hat, kann im Gottesdienst gern in der letzten Reihe sitzen. Und der, den keiner kennt, darf ebenso gern ganz vorn sitzen. Wir brauchen keine Rangordnung.“

„Aber die, die mehr haben,“ rief der Bauer, „damit die anderen was davon abkriegen.“

Amen

Gebet: Ach Gott, was sind die Menschen dumm: Eine goldene Uhr macht mehr Eindruck als ein goldenes Herz, ein feiner Zwirn weckt mehr Vertrauen als buntes Haar und ein Titel bringt mehr Einfluß als Herzensgüte. Wer Wohlstand zeigt, so meinen sie, sei auch wohl anständig. Und immer wieder fallen sie auf diese Verwechslung herein. Ach Gott, was sind wir Menschen dumm.

Dumm sein ist aber nicht schlimm, sondern dumm bleiben. So bitten wir dich um Augen, die sich nicht blenden lassen, um Ohren, die sich nicht schmeicheln lassen, um Verstand, der sich nicht beirren läßt: Wir bitten um Weisheit des Herzens, das in jedem Menschen den Menschen sieht: Vor dir ein Sünder und deiner Gnade bedürftig, vor uns eine Schwester oder ein Bruder und unserer Zuwendung bedürftig; das in jedem Menschen den Menschen sieht, der von Erde genommen ist und wieder zu Erde wird, und der doch dein Ebenbild ist, ob in Markenkleidung oder in Lumpen, ob hochintelligent oder strohdumm. Gott, mach uns Mut zu einem Leben, durch das wir andere für dich gewinnen.

Lieder: Wohl denen, die da wandeln, EG 295; In Gottes Namen fang ich an (Wochenlied) EG 494; So jemand spricht, EG 412; Ein wahrer Glaube Gotts Zorn stillt, EG 413

Paul Kluge
Provinzialpfarrer im Diakonischen Werk in der Kirchenprovinz Sachsen
E-Mail: Paul.Kluge@t-online.de


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