Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
(Tipps zum Speichern und Drucken: Hier klicken)

18. Sonntag nach Trinitatis, 22. Oktober 2000
Predigt über Jakobus 2,1-13,
verfaßt von Johannes Neukirch

Jakobus 2,1-13: "Haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person. Denn wenn in eure Versammlung ein Mann käme mit einem goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es käme aber auch ein Armer in unsauberer Kleidung und ihr sähet auf den, der herrlich gekleidet ist, und sprächet zu ihm: Setze du dich hierher auf den guten Platz! und sprächet zu dem Armen: Stell du dich dorthin! oder Setze dich unten zu meinen Füßen!, ist's recht, daß ihr solche Unterschiede bei euch macht und urteilt mit bösen Gedanken?

Hört zu, meine lieben Brüder! Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn lieb haben? Ihr aber habt dem Armen Unehre angetan. Sind es nicht die Reichen, die Gewalt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen? Verlästern sie nicht den guten Namen, der über euch genannt ist? Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift (3. Mose 19,18): "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst", so tut ihr recht; wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter. Denn wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig. Denn der gesagt hat (2. Mose 20,13.14): "Du sollst nicht ehebrechen", der hat auch gesagt: "Du sollst nicht töten." Wenn du nun nicht die Ehe brichst, tötest aber, bist du ein Übertreter des Gesetzes. Redet so und handelt so wie Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen. Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht."

Liebe Gemeinde,

eine Mahnung, eine moralische Standpauke, warum auch nicht. Der Jakobusbrief ist voll davon. In ihm geht es weniger um die Person Jesu, es ist überhaupt nicht wie sonst von Tod und Auferstehung die Rede, dafür um so mehr vom praktischen Verhalten der Christen. Jakobus geht es vor allen Dingen um das soziale Verhalten, er droht den Reichen und mahnt, barmherzig zu sein. Er mahnt nicht nur, er droht sogar mit dem Gericht: "Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat."

Na schön, mal abgesehen von dieser problematischen Drohung ist das ist ja nicht falsch und hat damals wie heute seinen berechtigten Platz. Das Beispiel, das Jakobus bringt, ist allerdings eher harmlos. Ein Reicher, erkennbar an seinem Schmuck und an seiner Kleidung, wird bei einer Versammlung an einen bevorzugten Platz gesetzt. Wenn wir heute die Ermahnung des Jakobus hören, denken wir wahrscheinlich an viel schlimmere Dinge. An Menschen, die wegen ihrer Hautfarbe oder wegen ihrer Religion nicht nur benachteiligt, sondern geschlagen, getreten, umgebracht werden. Anderen Menschen „ohne Ansehen der Person“ zu begegnen ist nach wie vor eine sehr sehr wichtige Forderung.

Gerade aber weil das Beispiel des Jakobus eher harmlos ist, sagt es viel aus. Bei den drastischen Beispielen, die ich eben genannt habe, können wir leicht sagen: Das machen wir ja nicht. Wir schlagen niemanden. Die Geschichte mit dem Reichen, der den besseren Platz bekommt, die spiegelt dagegen unseren Alltag wieder. Denn im Alltag achten wir selbstverständlich darauf, mit wem wir es zu tun haben. Oder würden Sie in einem Geschäft einkaufen, in dem die Verkäufer in Lumpen gekleidet sind? Würden Sie einen armen Schlucker zum Bürgermeister wählen? Wären Sie nicht irritiert, wenn der Pastor oder die Pastorin in "unsauberer Kleidung" vor Ihnen stehen würde? Es geht meistens gar nicht anders: Wir machen uns ein Bild von den Menschen, mit denen wir es zu tun haben. Und das wird von vielen Faktoren bestimmt - wie jemand aussieht, was er oder sie für Kleidung trägt, wie jemand redet etc.

Genau so gut kennen wir allerdings auch die Probleme, die mit dem "Ansehen der Person" aufgrund von Kleidung verbunden sind. Ein kleines Beispiel: Jugendliche bekommen es oft zu spüren, wenn sie nicht mit den "richtigen" Klamotten in der Schule auftauchen, wenn die Turnschuhe vom Aldi und nicht von Nike sind.

Einen Bereich gibt es, in dem das "Ansehen der Person" ausdrücklich untersagt ist, obwohl es auch dort nicht ganz vermeidbar ist - und das ist vor Gericht. Vor vielen Gerichtsgebäuden steht eine Statue der Justitia, das ist die altrömische Göttin des Rechts, die mit verbundenen Augen dargestellt wird. Das soll zeigen, dass das Recht ohne Ansehen der Person gesprochen wird. Und in dem Eid, den jeder Richter und jede Richterin schwören muss, heißt es: "Ich schwöre ... nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen..." Da hat sich also die Mahnung des Jakobus, die ähnlich bei den Propheten des Alten Testaments zu finden ist, niedergeschlagen.

An diesem Eid unserer Justiz wird deutlich, dass der Grundsatz "Ohne Ansehen der Person" extrem wichtig ist. Wir müssen uns nur vorstellen, was los wäre, wenn dieser Grundsatz nicht gelten würde! Dann würde derjenige Recht bekommen, der mehr bezahlen könnte oder der ein höheres Ansehen oder mehr Macht hätte. So etwas soll zwar hin und wieder auch vorkommen - das ändert aber nichts an der Bedeutung dieses Satzes.

Die Situation vor Gericht ist nun aber eine Ausnahmesituation. Im Alltag spielt das Ansehen der Person, wie ich ja vorhin gesagt habe, trotzdem eine große Rolle. So wie uns nun Jakobus ermahnt, sagt er aber: Als Christen seid ihr jeden Tag, rund um die Uhr, in einer Ausnahmesituation! "Hört zu, meine lieben Brüder" - ich ergänze: "und meine lieben Schwestern", sagt Jakobus, "Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn lieb haben?" Und er erinnert an das Gebot "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst". Wenn wir das wirklich ernst nehmen, dass Gott die Armen erwählt hat, dass wir den Nächsten lieben sollen wie uns selbst, dann können wir nicht mehr unterscheiden zwischen dem Alltag und einer Ausnahmesituation. Genau das ist auch die große Sorge, die Jakobus hat, dass die christliche Gemeinde sich manchmal an den Maßstäben der Welt orientiert und allzu schnell vergisst, welche radikalen Forderungen Jesus gestellt hat. Deshalb sagt Jakobus: " Denn wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig." Da werden keine Ausnahmen zugelassen. Entweder, so Jakobus, leben wir nach dem Willen Jesu und erfüllen dadurch das Gesetz oder nicht. Wir können verschiedene Gesetze halten - wenn wir aber auch nur eines übertreten, werden wir zu Sündern. Ich zitiere wieder Jakobus: "Redet so und handelt so wie Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen. Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat."

Ich habe vorhin schon gesagt, dass Jakobus hier richtig drohend wird, wenn er vom "unbarmherzigen Gericht" spricht. Drohungen bringen jedoch genau so wenig wie radikale Forderungen. Sie überfordern uns und erzeugen nur trotzige Abwehr.

Andererseits verstehe ich den Zorn des Jakobus, wenn er sieht, dass das, was Jesus gesagt und getan hat, wirkungslos bleibt und sich die Christen genau so verhalten wie alle anderen auch. Man kann nicht Gott dienen und dem Mammon sagt Jesus beispielsweise im Evangelium des Matthäus.

Diese Kompromisslosigkeit bei Jesus, die wir bei Jakobus wieder finden, zeigt uns deutlich unsere Grenzen. Auch wenn wir uns noch so bemühen - wir schaffen es einfach nicht, in allen Situationen alle Menschen "ohne Ansehen der Person" zu behandeln.

Zum Glück sind wir bei dem Problem, dass wir das Gesetz nicht hundertprozentig erfüllen können, in guter Gesellschaft. Der Apostel Paulus hat genau so wie wir gefragt: "Wer kann das Gesetz erfüllen, wer schafft das?" Und er war verzweifelt, weil er es nicht geschafft hat, sündlos zu bleiben. Das ist aber nicht das letzte Wort in dieser Sache.

Paulus hat gemerkt: Wenn ich mich an Jesus Christus halte, werde ich auch als Sünder akzeptiert. Dass ich das Gesetz nicht hundertprozentig erfüllen kann, darf mich weder in die Verzweiflung noch in falsche Kompromisse treiben - es soll mich in die Arme Jesu treiben, der für unsere Sünden am Kreuz gestorben ist! Das ist der Sinn dieser kompromisslosen Forderungen von Jesus: Wir sollen auf seine Barmherzigkeit vertrauen, damit wir selbst barmherzig sein können.

„Eine Mahnung, eine moralische Standpauke, warum auch nicht“ – sagte ich anfangs. Nun ist daraus sehr viel mehr geworden. Die Mahnung des Jakobus soll uns in die Arme Jesu treiben, nur dann wird sie bei uns tatsächlich wirksam. Schritt für Schritt schaffen wir es dann, anderen Menschen „ohne Ansehen der Person“ zu begegnen.

Amen.

Pastor Dr. Johannes Neukirch, Hannover
E-Mail: johannes.neukirch@evlka.de


(zurück zum Seitenanfang)