Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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19. Sonntag nach Trinitatis, 29. Oktober 2000
Predigt über Jakobus 5,13-16, verfaßt von Hans Joachim Schliep

Vorbemerkung zur Predigt

"Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen. Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden. Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist."

Liebe Gemeinde!

Besuch im Krankenhaus. Die Frau hatte Krebs. Die Lunge. Schon als junges Mädchen hatte sie geraucht. Damals, nach dem Krieg, in der Besatzungszeit, die amerikanischen Zigaretten ohne Filter, den Ami-Soldaten abgeluchst, wenn es sein musste, für ein paar Küsse (wie ich später von jemandem erfuhr, der sie gut und lange kannte). "Herr Pastor", sagt sie und quält ihren Körper, bis auf die Knochen abgemagert, aus dem Bett, "beten kann ich nicht, habe ich nie gekonnt. Tun Sie's jetzt auch nicht, bitte nicht. Geben Sie mir ihren Arm. Bringen Sie mich auf den Flur. Und rauchen Sie mit mir eine Zigarette." Und dann standen wir hinten im Flur, am Fenster - und "qualmten eine". Sie in tiefen Lungenzügen. Seit einem Jahr Nichtraucher konnte ich es noch, mit kleinen Hustenanfällen. Eine Woche nach diesem Krankenbesuch habe ich die Frau beerdigt.

Beten ist anders - beten, wie es im Jakobus-Brief gemeint ist. Und wohltuende, lindernde Salbe riecht anders - anders als Zigarettenqualm. Hatte das gemeinsame Rauchen dieser Zigarette doch etwas mit beten zu tun? Ich war dieser Frau, die ich gerade erst kennengelernt, die mich beim Besuch ihrer Zimmernachbarin an ihr Bett gerufen hatte, sehr nahe. Jeder mühsame, schlurfende Schritt zum Fenster hin, jeder Sog an der Zigarette war wie ein gemeinsamer Gang durch Lust und Schmerz - durch diese seltsame Lust, die Menschen auch in widersinnigem Handeln spüren können, und durch den tiefen Schmerz, den das unausgesprochene, aber klare Wissen erzeugt: Dieses Leben ist verbraucht, verraucht. Hier berührt sich etwas. Denn mit jemandem beten heißt, mit diesem Menschen in die Tiefe gehen, dem Schmerz eine Stimme geben. Nicht auf schnelle Lösungen setzen, aber den Sorgen eine Adresse geben, ebenso den Erfahrungen und Einsichten, die man im Kranksein gewinnen kann.

In die Tiefe gehen - und hoch hinaus. "Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen." Das klingt wie eine Gebrauchsanweisung - quadratisch, praktisch, gut. Es ist aber mehr. Es ist eine Ortsbestimmung: Wo ich ganz unten bin und wo ich ganz oben bin, habe ich mich nicht mehr selbst in der Hand. Wo ich die Schwerkraft einer dunklen Erde und wo ich die Leichtigkeit eines lichten Himmels spüre, wirken Kräfte an mir, die mir über sind. Wie beim Beten, diesem elementaren Lebensausdruck, der mit dem Einatmen beginnt. Wie beim Singen, der Schwester des Betens. Gott begegnet, wo wir Glück und Leid, Lust und Schmerz, Mut und Verzweiflung wahrnehmen. Und im Beten und Singen sind wir beteiligt an den Erfahrungen, die uns ergreifen und überwältigen. Wir verstummen nicht. "Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen." Ein guter Rat.

Seit gut einem Jahr bin ich Pastor in einem Neubaugebiet. Nach sieben Jahren Pfarramt und siebzehn Jahren Leitungsaufgaben in der Landeskirche wieder Pastor in einer Gemeinde, die sich erst noch bildet: Was fällt mir auf im Vergleich zur Zeit des ersten Pfarramts? Keineswegs nur, aber auch dieses: Menschen wollen Menschen, die zu ihnen kommen und mit ihnen gehen. In der letzten Woche habe ich die Frage dreimal gehört, nicht von alten, sondern von Menschen in der Lebensmitte: "Haben Sie jemanden, der/die zu mir kommen, der/die mich begleiten kann? Ich traue mich nicht aus dem Haus. Ich kann nicht allein in der Straßenbahn fahren. Kann mich jemand zum Arzt bringen?" Brauchen wir, über die Besuchsdienste hinaus, in unseren Gemeinden spezielle Begleitdienste? Und wer übernimmt, außer in der Fürbitte im Gottesdienst, den Dienst des Betens für andere?

In der Gemeinde des Jakobus gab es offenbar solche Dienste. Sie wurden von den Ältesten wahrgenommen. Andere zu besuchen, mit ihnen und für sie zu beten, gehört von Anfang an zu den besonderen, aber selbstverständlichen und unverzichtbaren Aufgaben in einer Gemeinde, wurzelnd in alter jüdischer Praxis. Die Gemeinde als der Ort, "an dem der kranken Glieder gedacht, der Umgang mit ihnen vorbereitet und das Gebet für sie geübt wird." (Jürgen Ziemer) Das kann auch so geschehen, dass für die Kranken in der Gemeinde eine Kerze in der Kirche entzündet wird.

"Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn." Das ist keine Anweisung, erst auf einen Ruf zu warten, bis man jemanden besucht. Es ist der Rat an eine/n Kranke/n, von sich aus um einen Besuch zu bitten, von sich aus es Jesus nachzumachen: Komm' doch - und bleibe hier und wache mit mir. Auch bei einem kranken Menschen wird mit Kräften gerechnet, die rufen lassen. Wer krank ist, braucht Hilfe, ist aber nicht hilflos, wird nicht wie ein/e Hilflose/r behandelt. Der Wille, die Würde, die Selbstständigkeit eine/s Kranke/n werden geachtet.

Und die Lebenskräfte des/der Kranken werden gestärkt. Wo im Kranksein das Leben aus dem Blick zu geraten, ja, wo Gott, die Quelle und Kraft allen Lebens, zu entschwinden droht, bekommt ein/eine Kranke/r wieder zu spüren, was Leben ist. Beten heißt: Lebensworte sprechen, Lebensworte hören. Keine Medizin, die da einfach verabreicht wird, sondern eine Erinnerung an die Lebenskräfte, die bisher gewirkt haben, und eine Appellation an den, in dem so unendlich viel Leben ist, dass er allein über Leben und Tod verfügen kann. Der "Name des Herrn", dieses unverwechselbare, unüberbietbare Wort des Lebens, wird aufgeboten gegen alles, was das Leben gefährdet und beeinträchtigt. Beten heißt: die Gegenwart Gottes wahrnehmen - auch da, wo die Wasser tief sind und die schweren Ruder gehen.

Das Salböl ist spürbarer, fühlbarer Trost, weniger zum Heilen als viel mehr zum Lindern der Schmerzen, kein Wundermittel, sondern Ausdruck der persönlichen Zuwendung. Es tut einfach gut, gesalbt zu werden: Der erfrischende Duft bringt den Geruch des Lebens zurück. Wo zuviel Hitze ist, wird es kühler. Wo schrundige, absterbende Haut gefühllos wird, wird sie berührt und belebt. Da denke niemand an eine "letzte Ölung". Es geht nicht um Bereitung zum Sterben, sondern um Heilung und Leben! Die Ölsalbung in der frühen Christenheit ist kein Sterbesakrament, sondern ein Lebenszeichen! Schon im Judentum symbolisiert "Lebensöl" wie "Lebenswasser" die Erhaltung des Lebens. Mag jede Krankheit auch schon eine Art "Höflichkeitsbesuch des Todes" sein, im Lebenswort und im Lebensöl sagt ein Mensch zu einem anderen Menschen: "Du sollst leben. Und was ich vermag, will ich tun, damit du leben kannst. Im Namen Gottes, der alles Leben schuf." So bleibt ein Mensch, auch wenn er/sie krank ist, verbunden mit Gottes Lebensmacht.

Zuerst, liebe Gemeinde, wirkten die Worte des Jakobus-Briefs etwas trocken und sperrig auf mich. Wenn ich mir aber das freundliche, wohltuende Geschehen, von dem die Rede ist, vor Augen führe, dann gewinnen diese Worte selbst an Leben. Ich schließe daraus: Krankenseelsorge ist Sorge für den Leib und das Leben selbst. Bei dem, was nun folgt, gilt es aber, besonders genau hinzuhören. Sonst stellen sich verheerende Mißverständnisse ein.

"Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden." Hier wird aus dem Glauben keine "schwarze Pädagogik" gemacht. Es ist nämlich keine Rede davon, dass Not eben beten lehre. Es ist auch keine Rede davon, dass nur kräftig genug gebetet werden müsse, damit eine/r wieder gesund werde. Und es ist keine Rede davon, dass nicht genug gebetet oder geglaubt habe, wer krank wird oder bleibt. Ja, so habe ich es doch tatsächlich von einer Kanzel in einem Urlaubs- und Kurort gehört. Es gibt immer noch Christen, die dieser Irrlehre verfallen sind. Aber ein Beten, das hilft, das wirklich Gespräch mit Gott ist, in dem ich alles von Gott erwarte, kann kein Beten mit Erfolgsgarantie oder als Leistungsnachweis sein.

Im Jakobus-Brief heißt es ja nicht, dass das "Gebet des Glaubens" heilt, sondern dass es hilft. Das zielt auf erhoffte Heilung, ist aber noch etwas anderes. Es hilft so, wie schon angedeutet: Einem kranken Menschen, der sich leicht von allen verlassen fühlt, wird persönliche Zuwendung zuteil, andere nehmen an seinem/ihrem Leben teil, ja, ringen sogar mit ihm und für ihn mit Gott. Menschliche Beziehungen werden neu gespürt und, wo sie zerbrochen sind, erneuert. Vor allem steht nirgendwo, dass der/die Kranke eine Sünde begangen hat, sondern wenn er/sie gesündigt hat, wird ihm/ihr vergeben.

Es ist es schwer, Krankheit und Sünde voneinander strikt getrennt zu halten, ohne ihren Zusammenhang zu leugnen. Ich versuche es heute so: Jesus hat es abgelehnt, eine Krankheit auf eine Sünde zurückzuführen, sie gar als Strafe zu bezeichnen. Aber er hat den Kranken den Glauben nahegebracht, ihre Beziehung zu Gott erneuert. Denn nicht dieser Kranke ist ein Sünder, sondern Krankheit ist Zeichen der Gottesferne und der Todesverfallenheit des Menschen diesseits von Eden, der zwar frei, aber endlich ist. Da ist keine/r besser dran als der/die andere. Das ist allen gemeinsam und immer schon ein guter Grund für persönliche Zuwendung und für Zusammenhalt. Darum haben alle es nötig, darum tut es allen gut, seien sie jetzt "gesund" oder "krank", dass die Beziehung zu Gott, zum Grund des Lebens, erneuert wird. Und wirklich gesund werden kann ein Mensch nur, wenn sein Leib nicht immer wieder durch eine belastete Seele beunruhigt, bedrückt und beeinträchtigt wird.

Wir wissen heute viel genauer, wie sehr Seele und Leib, wie sehr das Psychische und das Physische aufeinander Einfluss nehmen. Darum gehört Vergebung zur Gesundung dazu. Denn wirkliches Gesundwerden schließt Leib und Seele ein. Im Jakobus-Brief sind mir Krankheit und Sünde viel zu eng aneinander gerückt. Aber in diesem Sinn kann ich verstehen, was da steht: "Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet." Mit anderen Worten: Deckt einander eure Lebenssituation auf, tretet füreinander ein, damit ihre eure gemeinsame Situation wahrnehmt und kein quälender Rest bleibt, der zum "Pfahl im Fleisch" wird! Übrigens: Vom Beichten, vor allem nicht von einem Ausbreiten geheimster Gedanken und Regungen vor einer Amtsperson, die dann Bußauflagen und -übungen anordnet, kein Sterbenswort!

Das Gebet des Glaubens hilft - in einem noch ganz anderen Sinn. Glaube ist kein Zauberschlüssel, mit dem ich alle Lebensprobleme wegschließen, kein Wundermittel, mit dem ich alle Sorgen beseitigen kann. Aber Glaube, der auf das Kreuz blickt, eröffnet einen Zugang zu der Wahrheit, dass Leben mehr ist als gesund und stark sein und Heil mehr ist als Heilung. "Es gibt erfülltes Leben im unerfüllten" (Helge Adolphsen). Auch ein Mensch, völlig verkrümmt, kann "aufgerichtet" sein. Die Würde des Menschen besteht in seiner Unvollkommenheit und nicht im Wahn eines perfektionistischen Menschenbildes. Auf diese angemessene Beziehung zum Leben und zum Lebensgrund in Gott, darauf kommt es an. Sie bezeichnet die Bibel als "gerecht". Wer in ihr lebt, ist ein/e "Gerechte/r". Deshalb kann es am Schluss heißen:

"Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist." Eine ungewöhnliche Aussage. Mit einem Ohr höre ich sie so: Trau' dem Gebet viel zu, trau' ihm mehr zu an Wirkung auf Seele und Leib, als dein eindimensionales Weltbild zuläßt! Mit dem anderen Ohr höre ich zugleich: Das Viele, das des "Gerechten Gebet ... vermag", ist die Beziehung zu Gott. Sören Kierkegaard sagt sogar, Gott nötig zu haben, sei des Menschen höchste Vollkommenheit. In dieser Beziehung zu leben - in der Gewissheit, dass nichts mich scheiden kann von der Liebe Gottes in Jesus Christus - bedeutet dann auch: Jedes meiner Gebete ist erhört. Nur was dem Gebet folgt: wie es erhört ist, steht in eines anderen Macht.

Ich denke noch einmal an die Frau, mit der ich im Krankenhaus eine Zigarette geraucht habe. Sie wollte nicht beten, weil sie meinte, sie könne es nicht. Vielleicht hatte sie noch andere, mir unbekannte Gründe. Denn richtig kennengelernt habe ich sie ja nicht. Ich hatte mich ihr und sie hatte sich mir nur kurz vorgestellt. Dann kam gleich ihr Wunsch, der mich so überraschte, dass ich ihm nicht widerstehen konnte. Vielleicht wäre ihr das Beten viel zu nahe gegangen. Oder ist wichtig nur dieses: Ich habe angefangen zu beten - für sie, mit der Zigarette. Die hat uns so nahe gebracht, dass ich sie nicht vergessen - und noch nach so vielen Jahren immer einmal wieder an sie denken und für sie beten kann. Ihr Lebensweg ist längst zu Ende, von ihrer Lebensspur ist noch etwas da in meiner Erinnerung.

Geht es denn anders zu in unserer Beziehung zu Gott, der Mensch geworden ist, der in Jesus Christus mittendrin ist in unserem Leben und dem nun nichts Menschliches fremd ist, der auch das Unvollkommene annimmt, das Widersinnige erträgt und uns im Gedächtnis behält?

Amen.

Hans Joachim Schliep
Pastor am Ev. Kirchenzentrum Kronsberg
Sticksfeld 6, 30539 Hannover
Fon/Fax: 0511 - 52 75 99
E-Mail: Hans-Joachim.Schliep@evlka.de

Vorbemerkung: Der Jakobusbrief bezieht weisheitliche Tradition des Judentums auf das Christusgeschehen. Es geht ihm um erkennbaren christlichen Lebensstil in einem nicht-christlichen Umfeld. Findet man ein völlig ethisiertes Christentum vor, wird man Paulus gegen Jakobus stark machen. Umgekehrt muss man Jakobus gegen Paulus anführen, wenn Glaube ohne praktische Konsequenzen bleibt. Jakobus ist also keine "stroherne Epistel". Gerade wo es um das Beten geht - wie in 5,13-16 - geht es um die Praxis des Rechtfertigungsglaubens: alles von Gott zu erwarten. Vers 15 ist besonders sorgfältig auszulegen, damit weder der Eindruck einer Automatik: "Wer nur genug betet, wird geheilt." (mit dem falschen Rückschluss: "Wer krank bleibt, hat nicht genug gebetet.") noch das fatale Missverständnis: "Wer krank ist, hat gesündigt." entsteht. Weil gröbste und äußerst schädliche Missverständnisse schnell entstehen können, muss der Text erklärt und hier und da gegen den Strich gebürstet werden. Besonders hilfreich ist die Predigtmeditation von Jürgen Ziemer in GPM 8/1994, S. 385-391. Eine Alternatividee: die Predigt als Brief heute an eine Gemeinde oder einen einzelnen Christen zu formulieren.


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