Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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20. Sonntag nach Trinitatis, 5. November 2000
Predigt über 1. Korinther 7, 29-31, verfaßt von Franz-Heinrich Beyer

Liebe Gemeinde,

diese Sätze des Paulus mit dem hos me "Haben – als hätte man nicht", es sind berühmte Sätze. Es sind Sätze mit einer sehr bedeutenden Wirkungsgeschichte. Und ich denke, wir hier heute vormittag in diesem Gottesdienst, wir hören diese Worte nicht vorraussetzungslos. Sie sind uns fremd und doch vertraut zugleich. Sie sind uns vertraut, denn wir hören sie als Gottesdienstbesucher nicht zum ersten Mal; wir haben ein Vorwissen über diese Worte.

Wir erinnern uns, daß für das Wort ZEIT im griechischem Text kairos steht. Die Zeit ist also als eine Zeit der Entscheidung, des Entschiedenseins qualifiziert. Dementsprechend ist nicht von einer beliebigen Zeit oder von einem zufälligen Zeitpunkt die Rede.

Von dieser so qualifizierten Zeit, von dem kairos her fällt eine besondere Beleuchtung auf die folgende Aufzählung:

Die Frauen haben, sollen sein, als hätten sie keine;
Die weinen – als weinten sie nicht;
Die sich freuen – als freuten sie sich nicht;
Die kaufen – als behielten sie es nicht;
Die diese Welt gebrauchen – als brauchten sie sie nicht.

Und auch hier erinnern wir uns an unser Vorwissen: Von einer philosophischen Haltung, einer Haltung stoischer Unberührtheit etwa des glaubenden Menschen angesichts alltäglicher Ereignisse – nein, davon ist hier nicht die Rede. Nicht das Ideal einer Haltung, das angestrebt werden könnte wird hier propagiert. Es ist die so qualifizierte Zeit und ihre Wahrnehmung, die Konsequenzen fordert. Solche Konsequenzen werden hier beschrieben als Freiheit von irdischen, also von vorletzten Dingen, als eine Freiheit von Weltvergötzung, ein sich distanzieren können gegenüber den alltäglichen Vollzügen.

Was aber bleibt dann? Wozu diese Distanzierung? - Weil dadurch der Glaubende befähigt wird zu hilfreichem und zu solidarischem Handeln in der jeweiligen Zeit und an dem jeweiligen Ort. Es wird also keinem Rückzug aus der Welt, es wird keiner Weltflucht das Wort geredet. Der Theologe Rudolf Bultmann hat das an prominenter Stelle in seiner Theologie des Neuen Testaments so formuliert: "Der Glaubende ist von der Angst des auf sich selbst vertrauenden, über die Welt verfügenden und ihr verfallenden Menschen befreit. Er kennt nur eine Sorge –wie er dem Herrn gefalle-, nur das eine Streben. Frei von der Sorge der Welt, die an das Vergehende bindet ... steht er der Welt frei gegenüber als einer, der sich mit den Fröhlichen freut und mit den Weinenden weint, der am am Handel und Wandel der Welt teilnimmt, aber in der Distanz des hos me"(352).

Schwierig bleibt die Frage nach den einzelnen Feldern des hos me, des "Haben als hätte man nicht" bei Paulus. Da geht es um die zwischenmenschliche Beziehung bei Mann und Frau, da geht es um Emotionen – Weinen bzw. Sich-Freuen, aber auch um objektivierte Beziehungen – das Kaufen und das Verhalten zur Welt. Sind diese Felder des Verhaltens von Paulus lediglich übernommen worden oder wurden sie bewußt ausgewählt? Diese Frage kann kaum schlüssig beantwortet werden.

II

Dieser knappe und zugleich fragmentarische Versuch einer Auslegung des Textes im Zusammenhang unseres Vorwissens kann zeigen – ein zunächst befremdender Text kann uns eigentümlich vertraut erscheinen. Im Folgenden möchte ich versuchen, den Text des Paulus einmal in einem anderen Bezugsrahmen zu hören, in einem Bezugsrahmen, der weniger bestimmt ist durch das von uns mitgebrachte theologisch-kirchliche Vorwissen.

Ich denke, daß die Aufzählungen des Paulus gerade in unserer Zeit gelesen werden können als Beschreibung von Forderungen, denen sich Menschen in der hochentwickelten Industriegesellschaft ausgesetzt fühlen. Das jüngste Buch des amerikanischen Soziologen Richard Sennett hat in der deutschen Übersetzung den Titel erhalten "Der flexible Mensch". Sennett beschreibt in dem Buch den neuen Kapitalismus anglo-amerikanischer Prägung. Das Regime diese Kapitalismus ist ganz auf Kurzfristigkeit und auf Elastizität ausgelegt. Sennett schildert, vor welchen Anforderungen sich daher Mitarbeiter und Arbeitnehmer gestellt sehen. Gefordert wird der flexible Mensch, der sich ständig neuen Aufgaben stellt, der stets bereit ist, Arbeitsstelle und Arbeitsformen, Wohnort und soziale Beziehungen zu wechseln. Soziale Bindungen wie emotionale Beziehungen müssen dabei zurückstehen, an der Oberfläche bleiben, um die erwartete Flexibilität und Disponibilität nicht zu behindern. Ich zitiere Sennett: "Soziale Bindung entsteht am elementarsten aus einem Gefühl der Abhängigkeit. Nach den Losungen der neuen Ordnung ist Abhängigkeit eine Sünde ...". Darum, so könnte ich hier problemlos mit den Worten des Paulus fortfahren, darum:

Die Frauen haben, sollen sein, als hätten sie keine;
Die weinen – als weinten sie nicht;
Die sich freuen – als freuten sie sich nicht;
Die kaufen – als behielten sie es nicht;
Die diese Welt gebrauchen – als brauchten sie sie nicht.

Hier sind es die ökonomischen, die gesellschaftlichen Strukturen, die zur entscheidenden Instanz geworden sind. Bewußt werden die überkommenen Muster von Lebensgestaltung und von Zusammenleben ignoriert; an ihre Stelle soll als neuer Wert die Mobilität treten, also der flexible Mensch. Die bedrückende Konsequenz, die Sennett sieht, wird in dem amerikanischen Originaltitel seines Buches deutlich – Die Korrosion des Charakters.

III

Noch einmal möchte ich versuchen, die Worte des Paulus wieder in einem anderen Zusammenhang zu hören. Bei der Beschäftigung mit diesem Textabschnitt ist mir immer mehr eine Plastik von Ernst Barlach in das Blickfeld gerückt. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts hat dieser norddeutsche Bildhauer eine Reihe von neun großformatigen Gestalten aus Eichenholz gefertigt – der "Fries der Lauschenden". Eine der letzten Gestalten dazu schuf Barlach 1935: "Der Empfindsame".

Ein zeitgenössischer Interpret konstatiert angesichts der Gestalten vom "Fries der Lauschenden": Sie, die Lauschenden, sie sind in der Mitte der Schöpfung angelangt. Sie haben gleichsam die Vergänglichkeit hinter sich zurückgelassen, damit entbunden für die Einwirkung Dauer gewährender Mächte.

In der Reihe des Frieses hat "Der Empfindsame" seinen Platz. Er steht –ganz frontal gegeben- den Kopf leicht vorgebeugt und die Arme vor dem Oberkörper verschränkt, so das ihn umhüllende Gewand zusammenhaltend und dessen Öffnung nach oben hin bewirkend. So zeigt er sich sicher stehend und doch verletzlich; mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehend und doch keine Abgeschlossenheit und keine Selbstsicherheit ausstrahlend. Der Empfindsame – er ist kein stoischer Philosoph und schon gar nicht Bild des flexiblen Menschen. Mir scheint, hier ist jemand zu erkennen, der sich betreffen läßt, der empfindsam ist – von dem und für das, was er in seiner Umgebung wahrnimmt.

Mir scheint, "Der Empfindsame" ist kein Vorbild, dem man nacheifern könnte oder sollte; die Gestalt des Empfindsamen ist so etwas wie ein Bild, ein Inbegriff von Erwartung, von Hoffnung. Ich denke, wir, ja unsere Welt braucht das: Einerseits – der feste Stand in der Wirklichkeit, das Gegründetsein im Glauben ebenso wie die fachkundige Mitgestaltung unserer Welt. Und andererseits – Die Empfindsamkeit, das Sich-Betreffen-Lassen von Leid und Ungerechtigkeit, von Fragen, die ohne Antwort sind; auch: Das Noch-Ausstehende der Verheißung aushalten können, und darum Hoffnung für die scheinbar Hoffnungslosen zu bewahren.

Dieser Richtung nachsinnend, das Bild "Des Empfindsamen" vor Augen, können uns auch heute die Worte des Paulus treffen, ja, uns betreffen.

"Der Empfindsame", ebenso die anderen lauschenden Gestalten von Barlach, sie verweisen auf etwas, was außerhalb von ihnen ist; es gibt ein Hergekommensein und es wird ein Weitergehen geben; wir sehen sie dazwischen – die Lauschenden, den Empfindsamen; sie alle Bilder einer Erwartung, einer Hoffnung, für die die treffenden Worte uns oft fehlen. Manchmal, nicht immer, aber manchmal können auch wir vor allem Lauschende sein.

Prof. Dr. Franz-Heinrich Beyer
E-Mail: Franz-Heinrich.Beyer@ruhr-uni-bochum.de


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