Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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18. Sonntag nach Trinitatis
3. Oktober 1999
Markus 10, Vers 17 - 27

Peter Kusenberg

Und da er hinausging auf den Weg, lief einer herzu, kniete vor ihm nieder und fragte ihn: Guter Meister, was soll ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Aber Jesus sprach zu ihm: Was heißest du mich gut? Niemand ist gut als allein Gott. Du weißt die Gebote: „Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis reden; du sollst niemand berauben; ehre Vater und Mutter.“

Er aber sprach zu ihm: Meister, das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf. Und Jesus sah ihn an und liebte ihn und sprach zu ihm: Eines fehlt dir. Gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach <und nimm das Kreuz auf dich>. Er aber ward unmutig über das Wort und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter.

Und Jesus sah um sich und sprach zu seinen Jüngern: Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen! Die Jünger aber entsetzten sich über seine Worte. Aber Jesus antwortete wiederum und sprach: Liebe Kinder, wie schwer ist’s <für die, so ihr Vertrauen auf Reichtum setzen>, ins Reich Gottes zu kommen! Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme. Sie entsetzten sich aber noch viel mehr und sprachen untereinander: Wer kann dann selig werden? Jesus aber sah sie an und sprach: Bei den Menschen ist’s unmöglich; aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott.

Markus 10, Vers 17 – 27

Liebe Gemeinde!

Ich bin sicher, Werbetexter – wenn es damals bereits welche gegeben hätte – wären begeistert gewesen von Jesus. Die Gleichnisse, die er erzählte, die Bilder, die er gebrauchte, um seine Botschaft zu verkündigen: sie waren erstens voll Farbe und Leben, und zweitens hatten sie oft gerade die überraschende Pointe, die für Aufmerksamkeit sorgt.

Das Bild vom Kamel, das eher durch den Schlitz einer Nadel ginge, bevor ein Reicher ins Himmelreich gelangt, ist einer dieser Vergleiche. Selbst 2000 Jahre später, selbst hierzulande, wo Dromedare und Kamele nicht unbedingt zu den Haustieren zählen, sondern mir allenfalls auf Werbetafeln der Tabakindustrie begegnen, habe ich dieses Bild der Unmöglichkeit sofort vor dem inneren Auge. Der Vergleich mit Kamel und Nadelöhr ist Allgemeingut der Sprache geworden; und manche, die ihn verwenden, dürften nicht einmal mehr wissen, dass er biblischen Ursprungs ist.

Was war der Anlass für die Entstehung des geflügelten Wortes? „Einer“ kommt zu Jesus. Bei Matthäus, der dieselbe Begegnung schildert, ist es ein „Jüngling“, in der Version des Lukas ein „Vorsteher“. Der Text des Markus-Evangeliums lässt offen, wer er war, und macht es so leichter, sich an seine Stelle zu versetzen.

Es ist die uralte Frage des Menschen, die ihn treibt: Wie erlange ich ewiges Leben? Die Frage, die Frauen und Männer aller Epochen denen stellten und stellen, denen sie Wissen über die Geheimnisse des Lebens zutrauen – Schamanen, Priestern, Gurus, Ärzten, Genforschern. Die Unsterblichkeit erlangen, das ist der Menschheitstraum, zurück in den Garten Eden, zum Baum des Lebens.

Der, der Jesus fragt, scheint jedoch zu ahnen, dass unendliches Leben nichts ist, was der Mensch sich mit eigenen Mitteln verschaffen könnte. Denn er fragt nicht: „Was muss ich tun, damit ich mir ewiges Leben verdiene?“, sondern: „Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ Erben ist ein Geschenk, ist nicht der Lohn für Leistung. Es geht ihm mit seiner Frage darum, ob es etwas gibt, was seine Chancen als Erbe steigern kann.

Jesus weist ihn, ganz wie es die Priester im Tempel bei solchen Fragen auch taten, auf die 10 Gebote hin. Dabei fällt mir auf, dass er zunächst lediglich die Gebote erwähnt, die das Verhältnis zum Nächsten betreffen: nicht töten, nicht die Ehe brechen, nicht stehlen oder berauben, keine üblen Nachreden, Vater und Mutter in Ehren halten.

Ja, erhält Jesus zur Antwort, das alles beachte er von Kindesbeinen an. Und nun kommt der „anstößige“ Satz: „Eines fehlt dir. Gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben.“ – Warum stößt Jesus den gutwilligen Mann (und, wie der Predigttext schildert, ebenso auch seine Jünger) derart vor den Kopf? Und noch dazu, wo es kurz zuvor heißt: „Jesus sah ihn an und liebte ihn“.

Wieder so ein Jesuswort, denke ich, das meine „Happy-End“-Erwartungen kurzweg über den Haufen wirft. Da kommt einer, ein Rechtschaffener, der die Gebote der Nächstenliebe offenbar besser befolgt als unsereiner, und das reicht Jesus noch nicht! – Mir fallen andere Stellen der Bibel ein, wo er ähnlich drastisch wird. Einem, der mit ihm ziehen will, beschreibt er die Nachfolge als das Leben eines Obdachlosen, ärmer dran als jedes Tier. Ein anderer, der noch seinen Vater beerdigen will, ehe er sich Jesus anschließt, erhält die barsche Antwort: Lass die Toten ihre Toten begraben! Und auch dem, der sich wenigstens von seiner Familie verabschieden will, macht er klar, dass Nachfolge keinen Blick zurück zulässt.

Warum? Der Schreck sitzt tief, auch bei den Jüngern, sogar also bei denen, die immerhin Fischerboot und Zollstation zurück ließen, um mit Jesus zu ziehen. Der Schreck, der sich immer einstellt, wenn ich daran erinnert werde: Gott will mich ganz!

Erschrocken und traurig zieht der Fragesteller davon. Hat er gemerkt, dass das, was Jesus von ihm verlangt, der unausgesprochene, aber deutliche Hinweis auf das 1. Gebot ist? Du sollst keine anderen Götter haben neben mir! Die anderen Gebote, ja, die waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen, aber die Bedeutung des 1. Gebots wird ihm erst jetzt in aller Konsequenz bewusst. Er fühlt sich überfordert und zieht sich zurück.

Und die Jünger? „Liebe Kinder“, spricht Jesus sie an. Der Tonfall ist fürsorglich, er fühlt, wie erschrocken sie sind. Zeigt sich ihr Freund und Lehrer nicht wieder von der Seite, die ihnen immer noch so fremd und rätselhaft ist? „Liebe Kinder, wie schwer ist’s, ins Reich Gottes zu kommen!“ Wie schwer tut ihr euch damit, zu sehen, wie groß Gott in Wirklichkeit ist. Sonst würdet ihr begreifen, dass daneben selbst der größte Schatz verschwindend klein ist.

Es kommt auf eure Maßstäbe an, sagt Jesus. Solange einem, der reich ist, sein Vermögen so groß erscheint wie ein Kamel und seine Ahnung von Gott so klein wie ein Nadelöhr, so lange wird er nicht in Gottes Reich gelangen. – Denkt an meine Worte, als wir auf dem Berg waren: Niemand kann zwei Herren dienen. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Reichtum.

Doch die Unruhe unter den Jüngern bleibt. Wer kann dann selig werden?, ist ihre Frage. Wie sollen wir es anstellen, dass Gott der Alleinige in unserem Leben ist? Sieh‘ uns doch an. Du kennst uns doch. Das schaffen wir nie. Beim besten Willen nicht.

Ich kann sie gut verstehen. Mir geht es ja oft genauso wie ihnen. Der Blick auf das ganze Ausmaß dessen, was Christ sein eigentlich bedeutet, kann erst einmal entmutigend wirken. Wie wünschte ich mir manchmal den Glauben, der Berge versetzt, und wie oft erlebe ich, dass er nicht einmal reicht, einen Stein ins Rollen zu bringen.

Und ich frage mich: Bin ich nicht in der selben Lage wie der Reiche, der zu Jesus kommt. Ich habe ein Dach über dem Kopf, ein regelmäßiges Einkommen, genug zu essen und zu trinken, bin gesund und kann heizen, wenn mich friert. Auch ich besitze also „viele Güter“ wie der Unbekannte damals. Auch mich treibt die Angst vor dem Tod, die Sehnsucht nach einem unzerstörbaren Leben.

Doch was herrscht in meinem Leben, welchen Herren diene ich? Wie ist meine Antwort auf die Aufforderung „Gib alles auf und folge mir nach“? Gehe ich nicht auch erschrocken und traurig davon? – Und indem ich mir das eingestehe, bekomme ich mehr und mehr ein schlechtes Gewissen. Es fragt, es bohrt und lässt mich an mir selbst zweifeln.

Das Beispiel der Jünger Jesu zeigt: Ich bin nicht allein mit diesen Fragen. Und ich denke, auch heute bin ich nicht der einzige, den angesichts solcher Bibelworte der Schrecken packt. Wer traut sich das zu? „Gib alles auf und folge mir nach“ – das scheint doch eine glatte Überforderung, etwas Menschenunmögliches zu sein.

Stimmt. Doch genau in diese Gemütslage zielt der Schluss des Predigttextes: „Jesus aber sah sie an und sprach: Bei den Menschen ist’s unmöglich; aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott.“ – Ein Satz, wie aus Stein gemeißelt, ein Wort mit der Wucht des Alten Testaments. Der Trost dieses Satzes, „alle Dinge sind möglich bei Gott“, macht aus verzagten Jünger von Gott Erwählte.

Die Frage ist jetzt nicht mehr: Wer traut sich das zu? sondern: wer traut mir das zu? Und da ist die Antwort klar und deutlich: kein Anderer als Gott selbst traut es mir zu.

Er traut es mir zu, die Nachfolge seines Sohnes anzutreten. Was er fordert, soll mich nicht erschrecken oder überfordern, sondern das Ausmaß und die Ernsthaftigkeit unterstreichen, mit der er mich in Anspruch nimmt. Ich brauche dich ganz, ich will das Wichtigste in deinem Leben sein – das will er mir damit zu verstehen geben.

Es tut wohl und ist gut, zu hören, dass Gottes Gnade mich aus dem Erschrecken und den Selbstzweifeln heraus holt. Es ermutigt, dies zu wissen: Ich muss kein Weltmeister im Verzicht werden, bevor ich Gottes Anspruch genüge. Christen müssen nicht Helden oder Heilige sein. Niemand ist zu alt oder zu jung, zu wenig gläubig oder zu oft krank, zu unerfahren oder zu beschäftigt. – „Gott macht mich ihm genehm“, heißt es in einem Morgenlied; das bedeutet: Gott ist es, der mir die Kraft verleiht, der mich fähig macht, Jesus nachzufolgen.

Und trotzdem bleibt ein Rest von Zweifel. Im Kopf ist es mir klar, aber der Bauch will es noch nicht recht wahrhaben. Wie soll es denn im Alltag aussehen, mein Leben in der Nachfolge? Oft erfahre ich doch, dass es mir nicht gelingt. Dass ich scheitere trotz guten Willens. Oder umgekehrt: dass ich es bin, dem die Kraft zum guten Willen fehlt. Dass ich dann im schlimmsten Falle sogar anderen Menschen das Leben schwer mache, in der Familie, im Beruf. Was dann?

Noch einmal zur Erinnerung: „Bei den Menschen ist’s unmöglich; aber nicht bei Gott; alle Dinge sind möglich bei Gott.“ – Es ist Gott bekannt, wie Menschen sind. Dass sie dazu neigen, ihre eigenen Wichtigkeiten so groß zu machen wie ein Kamel, und danach resigniert auf das Nadelöhr Glauben zu schauen. Deshalb schenkt er ihnen seine Gnade und macht sie damit frei für den nächsten Tag.

Einem Petrus, der ihn dreimal nicht zu kennen vorgab, vertraute Jesus die Gründung seiner Kirche an. Aus einem Paulus, der zunächst Christen verfolgte, wurde der größte Missionar des Mittelmeerraumes. Und einem wie mir heute traut er zu, seinen Segen in meine Umgebung weiterzutragen:

Die Menschen wahrnehmen, wie sie wirklich sind, aufmerksam für das, was die eine oder der andere vielleicht gerade von mir erwartet. Das kann eine zur Entschuldigung ausgestreckte Hand sein, selbst wenn ich meine, im Recht zu sein. Das ist vielleicht ein klärendes Wort, zu dem ich mich aufraffe, anstatt verstockt zu schweigen. Den ersten Schritt tun, nicht stur auf dem eigenen Standpunkt beharren – ich kann nicht alle Möglichkeiten aufzählen. Eine einfache Methode, es herauszufinden, ist die, zu fragen, worüber ich mich selbst bei anderen freuen würde – und es dann zuerst tun.

Ja, ich weiß, das sagt sich leicht, besonders am Sonntagmorgen im Gottesdienst – und ist dann doch so schwer getan. Gerade wenn „dicke Luft“ herrscht, der Haussegen am seidenen Faden baumelt, die Nerven bloßliegen – wer sieht dann den anderen noch unvoreingenommen?

Aber trotzdem – Gott traut es mir zu. Diesmal habe ich es vielleicht nicht geschafft, aber warum nicht beim nächsten Mal? „Alle Dinge sind möglich bei Gott!“ Gott traut mir das zu. Und wenn ich zurückdenke – gab es nicht auch schon Stationen in meinem Leben, wo ich gedacht habe: „Das stehst du nicht durch“ – und da war dann doch die Kraft dazu da?

Denn: „Bei den Menschen ist’s unmöglich; aber nicht bei Gott; alle Dinge sind möglich bei Gott.“

Amen.

Peter Kusenberg
Email: peter.kusenberg@kirche-erbsen.de
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